Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Zum dritten Male in den Tagen und Nächten, die über Agathens Leben entscheiden sollten, wurde Fürst Erasmus aus dem Krankenzimmer geführt. Seine Anwesenheit steigerte ihren Erregungszustand ins Maßlose.

Auch Wanda durfte nicht zu ihr herein; ängstlich wimmernd verkroch sich die Kranke vor ihr unter die Decke oder drückte ihren schmalen Körper fest gegen die Wand und tastete mit fieberheißen Händen die kalte Fläche ab, als suche sie etwas, woran sie sich halten könnte, um greifenden Händen Widerstand zu bieten.

Dann saßen Vater und Tochter einander stumm gegenüber in einer der unteren Stuben, bis Fürst Erasmus sich heimlich auf weichen Schuhsohlen hinausstahl und die Treppe hinaufschlich, um sich beim ersten, dumpfen Angstlaut wieder Eingang in das Krankenzimmer zu erzwingen. Nun aber hatte Anna Wittke von der Leber weggeredet: Wenn die Kranke nach dem Vater rief, so hätte man den Vater kommen zu lassen. Das wäre so üblich seit die Welt bestünde, ob der Vater Kaiser oder Schlossermeister wäre.

»Ja, ja, gute Frau... ja, ja.«

Und Fürst Erasmus schrieb das Telegramm, wie er sein Todesurteil geschrieben hätte. Schrieb es in Wandas Zimmer. Wunderte sich nicht, daß es leer war. Sie arbeitete gewiß unten, trotz der vorgerückten Stunde. Sie konnte arbeiten. Sie setzte das Werk fort, mit junger, starker Kraft, das er begonnen hatte – mit klarem, von keiner Leidenschaft getrübtem Sinn.

Der Schein der gelbbeschirmten Lampe sprühte auf in dem silbernen Rahmen, der seiner verstorbenen Frau Bild umschloß.

Wie lange hatte er es nicht gesehen ...

Seine Hand griff danach, seine Augen bohrten sich in die herben, scharfen Züge. Seine Lippen verzerrten sich krampfhaft.

»O du ... du ...!« Wie einen Fluch schleuderte er dies »du« dem Bild entgegen. And sah sich gleich darauf um. Denn was er getragen in stummer Qual, in unnennbarer Scham, Jahrzehnte lang – er muhte es weiter tragen. Allein.

Sein in diesen letzten Tagen völlig weißgewordener Kopf fiel ihm schwer auf die Brust herab, und Bilder aus der Vergangenheit – die jedesmal, wenn sie ihn umdrängten, ihn aufstöhnen liehen – Bilder, vor denen er in den Krieg geflohen war mit all seinen Schrecken, und die nicht verblaßt waren durch all die Jahre grausamer, entwürdigender Gefangenschaft – sie standen wieder vor ihm, da er das Bildnis in Händen hielt, das ihm die kühne Reisende, Gräfin Gustava Schlaar geschenkt hatte, als ihrem »jungen Freund und Phantasten.«

Denn bis zur Lächerlichkeit phantastisch war ihr die Zumutung erschienen, seine Frau zu werden – den kurzen Rausch des Geistes und der Sinne in einem bürgerlichen Finale aufzulösen. Gelangweilt mehr als überzeugt gab sie nach, mit einem Achselzucken und einem »Schade, es war doch so nett,« das er nie vergessen sollte. Es war die erste Nachgiebigkeit, die er von ihr erfuhr, es war sein letzter Sieg über sie.

Seine junge, noch scheue und bewundernde Liebe ward ihr zum kurzen Spiel. Die Aussicht, Mutter zu werden, ertötete in ihr den letzten Funken der aufflackernden Lust. Mit jedem Tag entzog sie sich mehr dem Zwang ehelicher Gemeinschaft, höhnte über schmachtende Sentimentalität, verschanzte sich hinter ihre Arbeit. Um ihr nahe zu bleiben, folgte er ihr auf ihr Gebiet – wurde ihr Schüler.

Unermüdliche Arbeit, wissenschaftliche Erfolge sollten ihm ihre Liebe erringen helfen. Sie brachten ihm – ihre Anerkennung. Vielleicht hätte Brutalität seine Ehe gerettet. Aber was wußte er damals von seltsamen Abirrungen weiblicher Seele und weiblicher Sinne!

Eines Tages aber, da war es, als griffe eine kalte, fremde Hand nach seinem Herzen, um es zu zerdrücken. Eine große Ausstellung afrikanischer Volksstämme fand unter dem Patronat eines Komitees statt, dem auch die Fürstin Gustava Hohen-Steineck angehörte. Den ganzen Tag war sie draußen im Ausstellungspark, ließ sich kaum zu den Mahlzeiten zu Hause sehen. Aber sie war liebenswürdig wie kaum je – geistreich, voll sprühender Einfälle. Auf ihrem Schreibtisch häuften sich Notizen, die sie des Abends mit ihm durchsprach.

Eines Tages, von Sehnsucht getrieben, fuhr er hinaus, sie abzuholen. Niemand war mehr in dem Pavillon, der als Arbeitsraum für Komiteemitglieder eingerichtet war, anwesend. Und er ging in den Park, fragte den Aufseher nach der Fürstin.

»Die is Sie beim Haiptling drinne, Durchlaucht.« Ein halb verblödetes altes Männchen war es, das die Auskunft gab und ihm den Weg wies. Kurz vor dem Zelt schickte er das Männchen fort und schlug die Leinwand zurück.

Da lag seine Frau, Gustava von Hohen-Steineck, in einer Hängematte und rauchte aus einer kurzen, kleinen Tonpfeife, während der für einen Neger bildschöne Häuptling eine Zigarette zwischen den Zähnen zerbiß und mit einem Speer träge die Hängematte hin und her schaukelte.

Das war eine Heimfahrt.

Er war es, der sich schämte und nicht wagte, das Vorgefallene zu berühren. Sie aber meinte, es wäre ihr ganz lieb, daß er gekommen sei. Die Geschichte hätte angefangen, ihr langweilig zu werden. Noch ein paar Tage, und sie wäre versucht gewesen, den Negerkerl auf die Echtheit seines Hautpigments zu untersuchen. Diese Ausstellungswilden waren doch der dümmste Bluff. Die trugen gewiß Stehkragen und Zylinder in ihrer Heimat, und wenn sie sich Schwerthiebe beibrachten im erkünstelten Fanatismus ihres Tanzes, so anästhesierten sie zuvor ihre Haut. Aber immerhin – sie hatten wieder Sehnsucht in ihr geweckt nach fremden Ländern, wilden Gegenden, nach Abenteuern und Gefahr. Und sie entwarf Reisepläne, mit leuchtenden Augen – wie Bräute sie haben mögen, wenn sie von ihrer bevorstehenden Hochzeitsreise sprechen.

Er sagte nichts. Denn nur zu deutlich fühlte er, daß sie Vorwürfe einfach nicht begriffen, ihm nicht mal die Ehre angetan hätte, verletzt zu sein. Imstande gewesen wäre, ihn auszulachen wie einen dummen, eifersüchtigen Jungen. So ergriff er den Ausweg der Reise, um über die Zersplitterung seines Empfindens, über all die unsagbare Peinlichkeit hinwegzukommen. Auch hoffte er, ihr wieder näherzurücken, wenn sie nur auf ihn angewiesen sein würde, hoffte Einfluß zu gewinnen durch diese Nähe. Und wieder erwies es sich als Täuschung. Nicht anders wäre ein älterer erfahrener Kamerad auf gefahrvollen Wegen zu ihm gewesen als diese Frau. Nur daß sie kein Maß kannte im wilden Jagen und emsigen Forschen, so daß ihm manchmal der Verdacht kam, daß sie – die keine körperliche Erschlaffung kannte – seine Kräfte überspannte, nur um sich als Weib vor ihm zu schützen. Und war doch freundschaftlich zu ihm, voll glühender Anteilnahme für jede kleinste Entdeckung, die er ihr mitteilen konnte. Sie korrigierte seine ersten Referate und freute sich über die Beachtung, die bald auch seine Worte in der Öffentlichkeit fanden.

Bis tief in die dunklen Sternennächte hinein saßen sie in ihren Korbstühlen, in philosophisch-wissenschaftliche Gespräche vertieft, beisammen, und immer wieder mußte er sie bewundern: ihre Kenntnisse, die kurze, scharfumrissene Form ihrer Ausdrucksweise.

Sie schliefen in getrennten Zelten, und ihre Art, ihn zu verabschieden, hatte etwas, wogegen es keinen Einwand gab, wollte er nicht plötzlich die groteske Rolle eines lästigen, stürmischen Liebhabers spielen. Nächtelang irrte er in mühsam unterdrückter Erregung um das Lager.

Da, eines Nachts sah er sie, wie sie vor ihr Zelt trat und eine Zigarette rauchte. Hörte gleich darauf einen leisen Pfiff. Ein Paar Steine rollten den nahen Abhang herunter, im Gebüsch knackte dürres Gezweig, und etwas Dunkles kroch schlangengleich heran, drückte die hohen Grashalme nieder.

Er hielt den Atem zurück, faßte nach seinem Gewehr. Sie sah ihn nicht. Pfiff noch einmal seltsam leise und weich – den Lockruf eines Vogels. Näher kroch der Schatten, verdichtete sich – wurde Umriß, Form. Bis er den Mann erkannte. Ein schwarzer Träger war es, einer, der ihr zu Häupten schritt, wenn sie in der Hängematte über Sümpfe getragen wurde. Ein fauler, verlogener Kerl, der sich wie ein Affe im Nickel des Teekessels zu begaffen liebte und an einem ergatterten Stück Zucker lutschte wie Säuglinge an ihrem Daumen.

Jetzt – jetzt streckten sich seine dunklen Arme, und seine Hände griffen nach den schimmernden Füßen der weißen Frau, die eine Fürstin Hohen-Steineck war. Und diese Fürstin, das weiße Gesicht schattenhaft erhellt vom Glimmer der Zigarette, lächelte, streifte die Sandale ab und stieß mit ihrem Fuß kosend gegen den schwarzen Wollkopf. Dann wendete sie sich um, schlug die Zeltleinwand zurück und verschwand im Dunkel, während der Mann sich streckte und dehnte, der Spur ihrer Füße nach.

Da krachte ein Schuß.

Ein vereinzelter Schuß hieß lediglich »Aufgepaßt« und war kein Zeichen für Alarm. Es folgte kein zweiter.

Aber als der Himmel sich rot zu färben begann, erwachte das Leben im Lager, und unter Schreien und Wehklagen wurde der Träger, dessen Kopf und Schultern sich bereits im Zelt der Fürstin befanden, als die tödliche Kugel ihn getroffen, aus seinem Blut gehoben.

Die Fürstin wäre zum Glück nicht aufgewacht, sagten die Leute. Niemand forschte danach, wer den Schuh abgegeben.

Fürstin Gustava aber sagte beim Morgentee, den sie, wie immer, auch diesmal gemeinsam mit ihrem Gatten einnahm, während sie eine Zigarette anrauchte: »So etwas mußt du nicht wieder tun, lieber Erasmus, wenn wir gute Freundschaft halten sollen.«

Es war das Höchste, was er je an Selbstbeherrschung geleistet, daß er sich in diesem Augenblick nicht auf sie gestürzt hatte, um ihr die Kehle zuzudrücken. Das kleine sechsjährige Mädchen war ihm eingefallen, das, von einer Erzieherin betreut, im Dresdner Palais die Rückkehr der Eltern erwartete. Sollte er seinem Kinde sagen: Ich habe deine Mutter getötet?

Fürstin Gustava aber atmete genüßlich die frische Morgenluft ein, stand auf – Dame vom Scheitel bis zur Sohle – holte ihr Tagebuch und sagte: »Es wäre ganz interessant, unsere letzten Aufzeichnungen zu vergleichen. Ich glaube doch, wir differieren in der Annahme über den Ursprung des hier anzutreffenden Schichtgesteins. Schon die, wenn auch spärlich vorkommenden Salzlachen –

Und er holte sein Tagebuch. Und er verglich seine Aufzeichnungen mit den ihren. Und wußte, daß er sich damit um alles gebracht hatte. Um jedes Recht als Gatte, als Mann.

Nur noch Hoffnung war es, daß es sein Bewenden haben möge bei diesem einen Fall. Und schmachvolles Schweigen, wenn Vermutungen neu auftauchten, wenn er die Blicke der Frau, die seinen Namen trug, plötzlich abirren sah von einem Buch, einem Stein, einer begonnenen Aufzeichnung. Wenn ein kurzes Lächeln in rätselhaftem Ausdruck einen ihrer Befehle begleitete. Wenn in langen Abständen – die nach Monaten zählten und später nach Jahren – in dunklen stillen Nächten ein Pfiff ertönte, dem Lockruf eines Vogels gleich.

Immer lauter, unbekümmerter wurden diese Pfiffe. Wie eine dreiste Bekräftigung des eroberten Rechts. Die Jahre und Strapazen der Reise nahmen dem Lächeln der Fürstin Gustava den letzten Reiz des Weibes. Zum Ungeheuer wurde sie in seinen Augen und blieb Fremden große Dame von stolzer Unnahbarkeit. Die Schmach auf dem blanken Schild seiner Ehre war sie – und der leuchtende Stern auf dem dornenvollen Pfad ihrer gemeinsamen Wissenschaft.

Als sie, gleichgültig gegen die Äußerlichkeit formaler Bande, von Scheidung sprach, um, wie sie mit grausamer Ironie sagte, »ihrem armen Freunde das Gleichgewicht seiner Seele wiederzugeben,« da stieß er zwischen fest aneinandergepreßten Zähnen die Worte hervor: »Ein Hohen-Steineck erkennt keine Scheidung an.«

Aber das Leben im Kreise seinesgleichen wurde ihm zur Marter, und wie von einer Hetzpeitsche getrieben, durchquerte er die Welt nach allen Richtungen, sah nur im ständigen Wechsel der Länder die Möglichkeit, seine Frau vor der Stabilisierung ungestehbarer Neigungen zu schützen. Sah nur in der äußersten Beherrschung und im Zurückdrängen eigener Triebe die Möglichkeit eines Zusammenlebens, das ohne diese Askese zu lasterhafter Entsittlichung führen mußte.

Zwischen ihnen beiden aber, die wie die Umschlagdeckel eines Buches Einheitliches umspannten, ohne je einander zu berühren – wuchs Wanda heran: kühn und beherrscht, in straffer, geistiger Disziplin und herber Jungfräulichkeit; erfüllt von Verehrung für beide Eltern, getragen vom Bewußtsein ihres Standes und der Pflichten, die er ihr auferlegte, gesättigt von der sich stets erneuenden Fülle großer Eindrücke und angespornt zu wissenschaftlicher Vervollkommnung durch das frühzeitige Hinzuziehen ihrer Mitarbeit.

Er selbst war es, der darauf drang, daß Wanda sich den großen Expeditionen anschloß. Sie lenkten am besten von aller kleinlichen Beobachtung mütterlicher Seltsamkeiten ab, die sich im Gleichmaß bürgerlicher Gewöhnung hätte ergeben müssen. In der Nacht teilte sie das Zelt ihrer Mutter und sicherte ihm so, ohne es zu wissen, die Ruhe des Schlafes.

Zeitweilige einsame Touren, die Fürstin Gustava nur in Begleitung eines von ihr ausgewählten Führers zu machen pflegte, begründete er Wanda gegenüber mit dem Bedürfnis der Mutter nach völliger Ausspannung und Sammlung. Und seine an solchen Tagen bei all seiner Beherrschung oft bis an die Grenze der Verwirrung gehende Geistesabwesenheit erklärte er mit der Sorge um sie, deren Waghalsigkeit, wie er sagte, »vor nichts zurückschreckte.«

Eines Tages aber kam Fürstin Gustava von solch einem Ausflug zurück – ohne Führer, mit zerrissenem Kleid, verbundenem Arm, den Ausdruck verbissener Wut in den stets so kühlen, hellen Augen. »Der Kerl liegt dort irgendwo in einer Felsschlucht,« antwortete sie auf die Frage nach dem Verbleib ihres Begleiters. »Es fehlte nicht viel, so wäre ich mit abgestürzt.«

Mehr sagte sie nicht. Aber sie drängte auf Abbruch der Zelte, auf Heimkehr. Zum erstenmal mochten die Schauer des Sterbens sie gestreift haben, denn seit jenem Tage war ein Nachlassen ihrer Kräfte zu spüren.

Er selbst hatte die Hälfte seines Vermögens geopfert. Die äußere Makellosigkeit seines Namens war ihm das Opfer wert. Es folgten noch einige Jahre angespannter Arbeit, aber von neuen Expeditionen war nicht mehr die Rede. Sie wurde schwer beweglich, die Fürstin Gustava. Und wenn sie, an ihrem Schreibtisch sitzend, den Rauch ihrer Havanna durch die Nase stieß und einem der zwei großen Lakaien, die, wenn sie in Dresden weilte, »zur Livree passend« ausgewählt wurden, einen Befehl gab, dann legte sich um ihre Mundwinkel ein grimmiges Lächeln – wie es alternde Tyrannen haben mögen, denen die Untaten ihrer Jugend einfallen.

Sie starb zwischen zwei in die Luft gepafften Tabakswolken und einem sarkastischen: »Tja, lieber Erasmus – wenn ich es so recht bedenke, hättest du es mit mir machen sollen, wie ich es mit dem letzten Führer gemacht habe. Es hätte dir viel Geld und Aufregung gespart. Aber du warst immer ein Phantast ... nun, nichts für ungut und schönen Dank für gute Kameradschaft.«

Streckte sich, hob grüßend die Hand, als ihr letzter Blick auf die soeben hereinstürzende Tochter fiel, und trat mit dem ihr eigenen grimmigen Lächeln und offenen Augen ihre allerletzte Reise an.

Im Sarg sah sie aus wie ein Mann. »Welch ein bedeutender Kopf!« sagten die allernächsten Freunde des Hauses. Irgend jemand schlug vor, eine Gipsmaske abnehmen zu lassen. Da flog es wie ein Schauer über ihn.

Nein!« rief er rauh und bestimmt. »Nein!«

Denn er fühlte: mit beiden Händen hätte er die Maske zertrümmert. Aber weil Wanda ihn zum erstenmal verständnislos ansah, fügte er in äußerster Beherrschung hinzu: »Du weißt doch, wie deine Mutter allen Fetischismus haßte. Ich glaube, es wäre nicht in ihrem Sinne. Statt dessen will ich dir das einzige Bild schenken, das sie je von sich hat anfertigen lassen.«

Und Wanda nahm es entgegen mit einem halberstickten Dankeswort um die zuckenden Lippen, nahm es als vermeintliches Opfer, den größten Liebesbeweis, den der Vater ihr geben konnte.

Jetzt nach Jahren sah er das Bild wieder. Und die glühenden Male, die diese Frau ihm einst aufgedrückt, und die er schweigend getragen um seines Namens, um seines Kindes willen – sie brannten ihn aufs neue, daß er laut aufstöhnen mußte.

Zweimal hatte er ein Weib genommen und keinmal eine Ehe geführt!

»O ... du ... du ...«

Er warf das Bild auf den Boden. Mit dem Absatz drückte er das Glas ein, bohrte es tief in den Teppich. Hörte das feine Splittern. Drückte beide Hände auf das wie toll pochende Herz und wußte nicht, daß ein irrsinniges Frohlocken um seinen Mund lag. Als schöpfe er aus dem Vernichten des verhaßten Bildes neue Kraft, die übermenschliche Bürde seines Schweigens weiterzutragen.

Dann, hochaufatmend, setzte er sich abermals an den Tisch zurück, schrieb die Depesche zu Ende, die den Grafen Sternfeld herbeirief an das Krankenlager seines Kindes. Und ging die Treppe hinunter.

Winterkälte strömte durch die Haustür, die Anna Wittke gerade aufmachte – ganz wie einst. Sie ließ gerade Doktor Kürer herein, der rasch und ohne ihn zu sehen, über die knarrende Stiege eilte. Krampfhaft griffen die Finger des Fürsten Erasmus ineinander.

»Lassen Sie sie nicht sterben ... nicht sterben ..., hören Sie.«

Zehn-, zwanzigmal wiederholte er die Worte vor sich hin; und es war so furchtbar, daß niemand ihn tröstete, niemand ihn beachtete, daß alle wie Schatten an ihm vorbeiglitten in lautloser Geschäftigkeit. So verlassen hatte er sich nicht in den Schneefeldern Sibiriens gefühlt, nicht als jämmerlicher Botenläufer wie jetzt, da er ausgestoßen blieb aus dem Zimmer, das sein Liebstes barg.

Die Türkette klirrte, und Wanda kam von draußen in Hut und Jacke.

»Da bist du ja.«

Er zog sie an sich, fragte nicht, woher sie kam. Das Ungewöhnlichste wäre ihm natürlich erschienen in dieser Stunde. Er flüsterte nur hastig, leise: »Mein Vetter Sternfeld muß jetzt wissen, wie es steht. Es ist unsere Pflicht. Lies.«

Sie streckte die Hand aus nach dem Blatt, ging ihm voran in das kleine Empfangszimmer, dessen Tür jetzt immer weit offen stand, und auf dessen Mitteltisch eine rotbeschirmte Lampe brannte.

Fürst Erasmus lehnte mit dem Rücken an der Türrippe und wiederholte, als hätte Wanda die Notwendigkeit dieser Mitteilung bestritten, immer nur das eine Wort: »Pflicht – Pflicht.« Und es war, als hülfe ihm dieses Wort, sich aufrechtzuhalten.

Wanda beugte sich zur Lampe herab. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen. »Das kann niemand lesen,« murmelte sie.

Sie riß ein Blatt aus dem Block, der ihrem Notizbuch beigeheftet war. »Agathe lebensgefährlich erkrankt. Mußt kommen. Erasmus.«

Es rührte ihn, daß sie so tapfer blieb und sicher. Sie schrieb noch die Adresse. Dabei dachte sie: Wenn sie stirbt, bleibt er allein. Bleibt er ganz allein. Und weiß nichts davon. Keiner weiß etwas vom andern ...

Sie richtete sich auf, zum Umsinken erschöpft, ging zur Tür.

Ein Auto surrte in den Hof herein. Drüben in der Villa wurde es hell an einigen Fenstern. Jetzt war wohl Herr Wittke nach Hause gekommen.

Hastig riß ihr jemand das Blatt aus der Hand.

»Geben Sie man her. Der Chauffeur kann's jleich besorgen – muß sowieso zur Aptheke und denn wiederkommen und 'n Doktor nach Hause fahren.«

Anna Wittke nahm ihren Sealumhang vom Riegel, schlug den Kragen bis über die Ohren, flüsterte: »Passen Sie man auf den alten Herrn auf, Prinzeß Wanda. Wenn's hier schief jeht, denn is es alle mit ihm. Und im Labratorium würd' ich ihn ooch nich zu lange alleine lassen. Der Doktor hat jesagt –«

Wandas Blick erschreckte sie, und sie brach jäh ab.

»Wanda ... Wanda!«

Nun war es der Vater, der rief. Sie tat, als hörte sie es nicht. Sie mußte allein sein; mußte sich erst selbst zurückholen aus dem Erlebnis des heutigen Abends. Schwer schleppte sie sich die Treppe hinauf.

An ihren Gelenken spürte sie noch den Griff des jungen Arztes, und sie hörte seine Worte: »Was war das, Prinzessin – was hatten Sie dort zu suchen?«

»Das geht mich nur an, ausschließlich nur mich.«

Meilen hatte sie damit zwischen sich und Doktor Kürer gelegt. Meilen ...

So waren sie dann schweigend nach Hause gefahren, wo vielleicht der Tod auf sie wartete oder der Wahnsinn. Wo heute oder morgen das Elend einziehen mußte nach der mühsam verkappten Armut.

Erst heute hatte sie, die seit dem Tode ihrer Mutter des Vaters rechte Hand gewesen. Briefe auf dem Schreibtisch des Vaters gefunden, die unbeantwortet, ja uneröffnet dalagen. Und weil sie nicht wußte, daß er Geheimnisse vor ihr haben könnte, beschloß sie, die Briefe durchzulesen, um ihm die Arbeit zu erleichtern, Unangenehmes zu ersparen.

Gleich der erste Brief, den sie las, enthielt die Mitteilung vom Ableben des alten Dresdener Notars, der, seit sie denken konnte, alle Geschäfte für ihre Familie geführt hatte. Der trockenen Todesanzeige war eine Liquidation beigefügt über nahezu zehnjährige Bemühungen, die einem kleinen Vermögen gleichkam, und um deren Regelung der Nachfolger ersuchte »zur möglichst schleunigen Abwicklung und Ordnung des Nachlasses«. Der Nachfolger empfahl den Verkauf des Palais, dessen Umbau ohnedies mangels genügender Zuschüsse ruhte. Aus dem Verkauf ließ sich trotz alledem noch so viel realisieren, daß der Baumeister befriedigt, die Liquidation des alten Notars beglichen und vielleicht sogar eine kleine Restsumme erübrigt werden konnte, die, in Leibrente angelegt und »bei sparsamer Nützung Seine Durchlaucht vor äußerster Not bis an sein Lebensende zu bewahren vermochte.«

Vor äußerster Not ...! Damit war die Möglichkeit weiterer wissenschaftlicher Forschung, mit kostspieligen Experimenten für immer ausgeschieden.

Allein sein, so ging es durch Wandas Gedanken. Einen kurzen Augenblick nur allein ...

In ihrem Zimmer brannte Licht.

Unter ihren Füßen splitterte es wie von dünnem Glas, und sie bückte sich. Verbogen und verbeult war der silberne Rahmen, der sonst auf ihrem Schreibtisch stand. Von dem Bild aber – dem einzigen Bild ihrer Mutter – waren nur mehr ein paar unkenntliche Papierfetzen übrig.

Hatte ein unglücklicher Zufall gewaltet – war bewußter Zerstörungstrieb am Werk gewesen?

Sie wurde sehr blaß, sank vor ihrem Stuhl in die Knie und fing bitterlich an zu weinen.

* * *


 << zurück weiter >>