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Eine schlaflose Nacht wurde es für die drei Menschen im weißen Sommerhäuschen, das der Wind immer stärker umkreiste, und das er bald mit naßkaltem Schnee bewarf, bald mit den abgerissenen Klängen aufwinselnder Geigen.

Und in dieser Nacht erstand Vergangenes wieder. Erstand in ihnen mit aller Qual, die sie einst erduldet und aus der sie sich nicht herauszuretten gewußt bis auf den heutigen Tag.

Auf der Terrasse des Wintergartens mochte der Fürst Erasmus Hoheneck gewirkt haben wie ein eleganter, älterer Herr. Jetzt sah er aus wie ein Greis. Fühlte, daß er es war. And kämpfte doch noch einen letzten unsinnigen Kampf mit dem Leben, dem er einen Fetzen nur, einen letzten armseligen Fetzen Glücks zu entreißen hoffte, für sie – – die seinen Namen trug als sein Weib und ihm doch nichts anderes sein durfte als eine Tochter, wollte er nicht niedrig werden im Unglück.

Damals ... er mochte die Jahre nicht zählen, die zu Jahrzehnten geworden waren für ihn ... hatte er wohl das Recht gehabt, auf Tage und Wochen die grauen Haare zu vergessen, die an seinen Schläfen silbern glänzten.

Hatte ohne Scheu, mehr aus dem Gefühl heraus, dem jungen Geschöpf, das schirmendes Obdach bei ihm gefunden, auch weiter den Schutz seines Namens zu geben, offen mit seiner Tochter Wanda gesprochen. Gleichsam ihren Rat, ihre Zustimmung eingeholt. Und Wanda hatte ruhig und einfach gemeint: »So etwas muß ein jeder mit sich abmachen, Papa.«

Gewiß nahm eine wissenschaftliche Broschüre, in der E. Stein angegriffen war, und auf die sie eine Entgegnung schrieb, ihre Gedanken intensiver in Anspruch als die Eheabsicht ihres Vaters. Agathe selbst beschäftigte sie nicht mehr, als eine schöne, spielende Katze sie beschäftigt hätte. Doch war sie nicht unempfindlich geblieben für die Anmut des jungen Geschöpfes, und als die Gewohnheit, sie um sich zu sehen, ein gewisses Interesse bei ihr erweckt hatte, setzte es sich um in bildnerisches Streben.

Agathe, an Gehorsam und die strenge Zucht des Professorenhauses gewöhnt, nahm ihr neues Leben ergeben als eine Fortsetzung des alten auf.

Ihre Mutter hatte es wohl anders kennengelernt, und es mochte wohl auch andere Seiten haben ... nach den entzückenden Kleidern allein zu urteilen, die sie aus ihren zwei Rohrplattenkoffern packte. Aber noch lagen alle Energien unerlöst auf dem Grund ihrer Seele, und gehorsam ging sie halbe Tage in ihrer weihen Laboratoriumsschürze herum, über dem einfachsten ihrer Kleider.

Bis der erste Abend kam, an dem der Präsident der Paläontologischen Gesellschaft, E. Stein, seine Kollegen bei sich zum Essen geladen hatte. Sicher war er der jüngste unter seinen Gästen, und die alten Herren machten ihre kurzsichtigen Augen weit auf vor Staunen, als, ein wenig verspätet durch die Qual der Wahl, eine junge Dame von erlesener Schönheit in einem ausgeschnittenen blaßblauen Kleid im Arbeitszimmer des Hausherrn erschien.

»Mein Pflegetöchterchen, Fräulein Leimgruber,« stellte der Fürst vor. In diesem Augenblick wurden beide verlegen: er über die Schönheit, an der er bisher achtlos vorübergegangen, sie über ihren Namen. Und keiner von ihnen wußte, daß in diesem Augenblick Begehren erwacht war in ihnen nach dem, was des andern Besitz war.

Wieder kamen arbeitsame Wochen, die sich wie graue Asche auf den Funken des Begehrens legten und ihn erstickten.

Bis eines Tages ein riesengroßer Feldblumenstrauß auf dem nüchternen, gediegenen Gedeck der Mittagstafel stand. Und Agathe mit glänzenden Augen und heißen Wangen, in duftiges Weiß gekleidet, des Fürsten erstes Wort abwartete. »Nett,« sagte er, »nett. Sind wir wirklich schon so tief im Sommer?« Und er sah an seinem dunkeln Anzug herab, mit einem Gemisch von Staunen und leichtem Mißmut.

Hielt ihre schmalen, kühlen Hände in den seinen, wiederholte: »Kind, Kind ...« Hätte ihr gern einen Kuß auf das braune, seidenweiche Haar gedrückt, wie es ein Pflegevater wohl tun darf, und ließ ihre Hände aus den seinen, wie ein ertappter Schuljunge, weil die Tür aufging und seine Tochter Wanda hereinkam.

Agathe aber schlug das Herz, als der Fürst nach dem Braten die Vase nahe zu sich heranschob, den wilden, herben Duft einatmete und dann nach einer Weile fragte: »Wie wär's, wenn wir den Sommer draußen aufsuchten, nachdem Agathe uns seine Visitenkarte gebracht?«

Einen eigenen Wagen hatte der Fürst nicht, und Autos waren ihm verhaßt. So fuhren sie in einem gemieteten Landauer hinaus. Unterwegs aber wurde Agathe sehr bleich, weil sie das Rückwärtssitzen nicht vertragen konnte. Wanda ließ es nicht zu, daß ihr Vater seinen Platz abtrat. Da saß denn der Fürst neben Agathe und fühlte mit Erschrecken ein tiefinneres Beglücktsein über die körperliche Nähe. Und er mußte noch oft an diese Ausfahrt denken, die er kaum zu wiederholen wagte, und die auch in Agathe eine leicht verträumte Stimmung ausgelöst hatte, die erst allmählich von der beizenden Luft des Laboratoriums ausgeätzt wurde.

Wie ein verlaufenes Kind – – so fühlte sich Agathe manchmal in den kalten, finstern Räumen des Dresdener Palais. Dachte an die Wiener Professorenbuben mit Tränen in den Augen. Es hatte doch Lachen gegeben in dem engen, pedantischen Lehrerhaus. Und jauchzendes Staunen ... die vierzehn Tage bei der Mutter – der Frau ohne Gatten.

Die Wohnung allein! Vollgepfropft mit allem, was die großen Geschäfte auf dem Graben Schönes ausboten. Die Zimmer mit den schwellenden, seidenen Kissen, den dicken Teppichen, den berauschenden Düften, die Schränke, angefüllt mit buntschillernden, seidenen Gewändern, mit durchsichtig feiner Wäsche in Seide, Batist, mit handbreiten Spitzen und schweren Bändern verziert. In der indischen Bronzeschale Visitenkarten, berghoch: Grafen, Barone, Prinzen, Fürsten ... In einem Ebenholzschränkchen mit silbernen Beschlägen: Perlen, leuchtende Steine, Ringe.

Zu streng war sie erzogen, um auch nur zu ahnen, wie dieser Reichtum sich angehäuft hatte in der Mutter Händen. Und niemand war gekommen in diesen Tagen, da die Flora Berger Mutter war, nur Mutter. Allenfalls Schneiderinnen, die dem Fräulein Kleider anprobierten.

»Komtessenstil,« sagte die Mutter. Und die Mutter fragte nicht nach dem Preis. Wie dann die Ausstattung endlich kam und Agathe dies und jenes anprobierte und dann ablegte, bis sie schließlich nur in roten Sammetpantöffelchen und dem kurzen, schlanken Hemdchen dastand, da wendete sich die Mutter ab, fiel mit dem Gesicht in ihre seidenen Chaiselonguekissen und weinte, weinte, daß Agathe nicht mehr wußte, wie sie sie beruhigen sollte, Wasser anbrachte und Essig und Melissengeist und Baldrian, daß es in dem ambraduftenden Salon roch. Abends aber mußte Agathe durch die hellerleuchteten Zimmer gehen, und die Mutter zeigte ihr, wie eine Dame grüßt, wie sie ihre Hände hält, wie sie an der leuchtenden Kette knabbert, wie sie einen Schildpattkamm im Haar befestigt, wie sie die Füße kreuzt beim Sitzen und wieviel sie vom Strumpf zeigen darf. In drei Abenden hatte sie alles gelernt, die Agathe. Und wartete mit Herzklopfen darauf. Gelerntes anzuwenden.

Bis es eines Tages hieß, sie käme nach Dresden und vielleicht auch Berlin zu einem Fürsten und seiner Tochter. Sie würde dort gehalten werden wie ein eigenes Kind, und es läge nur an ihr, eine große Partie zu machen, vielleicht gar Fürstin zu werden.

Indem ging die Mutter auf und ab in der Wohnung, deren Türen alle offen waren, und packte eigenhändig zwei schöne, große Rohrplattenkoffer voll. »Ich hab's dir an nix fehlen lassen, Gatherl. Jetzt schau zu, daß du deinen guten Weg findst.«

Und sie schickte sie unbedacht, oder vielleicht auch absichtlich, in ihr Schlafzimmer, das Agathe bisher nie hatte betreten dürfen, um von der Chiffonière was zu holen. Dabei fiel Agathens Blick auf das Bild eines Mannes mit herkulischen Formen, der, halbnackt bis zum Gürtel, mit einer Hand einen Stuhl balancierte, auf dem eine Frau saß mit einem Knaben auf dem Schoß. Das Gesicht der Frau war mit schwarzer Tinte unkenntlich gemacht, das Gesicht des Mannes aber war schön und von fremdländischem Schnitt.

Für die Schönheit des Männeraktes hatte Agathe keinen Blick, wohl aber für die strotzende Kraft, die sich in den gespannten Muskeln des Armes äußerte, und für den wilden und zugleich verträumten Ausdruck der großen, dunkeln Augen. Auch der Bub auf dem Schoße der Frau hatte die gleichen Augen, während im Bau des halbnackten Körperchens eine ebenfalls ungewöhnliche Kraft zu schlummern schien.

Agathe war so versunken in das Betrachten des Bildes, daß sie nicht hörte, wie die Mutter ins Zimmer trat. Aber ihr kaltes, hartes Lachen, das sie zum ersten Mal hörte, ließ sie zusammenzucken und sich abwenden, als hätte sie Anrechtes begangen. »Ah da schau! Machst Familienbekanntschaften?«

Agathe verlor die Farbe und blickte der Mutter starr vor Schreck ins Gesicht. Daß sie ein außereheliches Kind war, wußte sie. Aber da sie ihren Vater nie gekannt, hatte sie auch nie nach ihm gefragt und sich nie Gedanken über ihn gemacht.

Erst in diesen Tagen hatte sie aus der Visitenkartenschale und ihrer Komtessenausstattung stillschweigend Schlüsse gezogen und es natürlich gefunden, daß die Mutter sie in die Welt zurückversetzte, auf die sie nach ihrer Geburt zu schließen wohl Anrecht hatte. Was aber hatte dieser Zirkusathlet mit »ihrer Familie« zu tun?

»Dein Vater,« sagte die Mutter kurz. »Der Name geht dich nix an. Der Bub oben dein Bruder. Was aufstecken kannst mit deiner Familie grad nit. Drum sei stad.«

Agathens Stimme zitterte, als sie fragte: »Und die Frau?«

»Wer soll's denn sein? Natürlich – ich. Hab's ›Lercherl‹ oben auf dem Stuhl g'sungen, während ich den Buben auf dem Schoß und dich unterm Herzen trug. Hätten g'heiratet, wann ein Verrückter deinen Vater nicht ang'schossen hätte, mitten unter der Vorstellung. Da hat's kein Heiraten mehr gegeben, war Not und Elend, daß man nit gewußt hat, wo ein Stück Brot hernehmen. Achtzehn Monat hat er g'legen im Spital, und ich hab's Leben g'schafft für dich und den Buben. Eine Patti bin i nit g'wesen. Die Stimm' allein hat's nit machen können. Da is' dann der Pallawatsch kommen. Zu deinem Vater könnt ich nimmer zurück. Das eine Aug' war ihm ausg'schossen, und g'lahmt hat er auch. Is dann auf die Dörfer gegangen. Und eines Tages hat er mir den Buben g'stohlen. Jetzt sind's in Amerika die zwei.«

Viele Stockwerke purzelte Agathe von der Höhe ihrer heimlichen Illusionen herunter und fragte nur noch mit großen Augen: »Ja, wie komm' ich dann in die fürstliche Familie? Als was?« Und wurde brennend rot, da sie das Lächeln sah um den Mund der Mutter, ein Lächeln, das sie erschreckte, und das, wenn auch nur für einen Augenblick, den vor ihr sorgsam zugehaltenen Vorhang vom Leben riß.

»Na, was machst denn für an G'sicht, wie die Katz, wann's donnert ...?«

Vielleicht fühlte die Ronacher-Flora, daß sie in dieser Stunde und mit diesem Lächeln ihr Kind für immer verloren hatte. Aber sie hatte bereits abgeschlossen. Wann das Mädel blöd war, sie konnte ihr nicht helfen.

»Wann du lieber zu einem Rauchfangkehrer ins Haus kommst als zu Fürsten, nachher brauchst's nur zu sagen. Aber wanns einem Grafen Freud macht, als dein Vater zu gelten, dann brauchst ihm nit die Freud' und dir nit deine Zukunft zu verderben. Laß ihm sein' Spaß. Hab' ihm teuer genug bezahlt. Und mir verschlägt's nix. Der Fürst ist noch dazu ein gelehrter Mann. Bist bei ihm als die Tochter eines verstorbenen Kollegen. Wie ein Kind im Haus und seiner Tochter zur Gesellschaft. Dabei bleibt's. Und um mehr wirst nit g'fragt. Die Mutter aber, die das zustandebringt für ihre Tochter, die sollst mir zeigen! Jetzt laß sehen, ob du g'scheit bist oder eine Gans. Ob ich das Geld für deine Bildung und Ausstattung gut angelegt oder rausgeschmissen hab'! Und ob's nicht besser g'wesen war', ich hätt' dich Seiltänzerin werden lassen, damit du mit deinem Herrn Papa und deinem Herrn Bruder Vorstellungen gibst vor den Indianern in Südamerika.«

Unsanft warf sie die Tür hinter sich zu. Agathe aber nahm mit spitzen Fingern das abgeblaßte Bild zur Hand ... »Eines Tages hat er mir den Buben g'stohlen ...« Hatte der Mutter das eigene Kind gestohlen. Warum? Um eines solchen ähnlichen Lächelns wegen?

Hastig blickte sie sich um. Ließ das Bildchen in ihrer weiten Jackentasche verschwinden. Wenn die Mutter danach fragte, konnte sie es ja zurückgeben. Aber die Mutter fragte nicht. Sah sie nur von Zeit zu Zeit an, mit spöttisch zugekniffenen Augen. Nur auf dem Bahnsteig, vor dem Fenster stehend, sagte sie:

»Laß dein Familienbild nit so liegen. Möcht' schlecht passen in deine neue Umgebung. Jetzt b'hüt dich Gott ... Geht dein Uhrel richtig? Stell' die Zeit nach der Bahnhofsuhr. Kannst sie sehen? Na dann is recht. Bleib' g'sund, heirat' bald. Ist noch immer eine bessere Versorgung als das beste Verhältnis.«

In Dresden auf dem Bahnhof stand ein ernstes, schlankes junges Mädchen, neben einem hochgewachsenen, vornehm aussehenden Herrn mit einer goldenen Brille auf dem schmalen Nasenrücken. Stubenluftgesichter, sparsame, gemessene Bewegungen. Ein Willkomm, dessen Herzlichkeit Agathes plötzliche Bangigkeit niederschlug. Der breitschultrige Lakai mit graumelierten Bartkoteletten gab ihr gleich prickelnden Hochgenuß und Freude an ihrem eleganten Reisezeug.

»Wenn Sie nicht müde sind, liebe Agathe, so gehen wir zu Fuß, und Sie sehen gleich etwas von unserem schönen Dresden,« schlug der Fürst vor.

Agathe hätte im Sturmschritt laufen mögen, wie weiland mit den Professorenbuben. So froh und leicht war ihr zu Mute. Aber sie wußte, was sich schickte. Ging kerzengrade, mit zierlichen Schritten. Sagte »Durchlaucht« nicht zu selten und nicht zu oft und »Prinzeß« mit einem lieben Augenaufschlag, der um Anschmiegungsrecht bat. Beklommen wurde ihr erst zu Mut unter dem hohen, gewölbten Portal des alten Palais, zwischen den köstlichen Täfelungen, hohen Brokatsesseln und goldgerahmten, schmalen Pfeilerspiegeln, vor allem aber unter der langen Reihe nachgedunkelter Ahnenbilder, an denen Agathe Kostümkunde der letzten vierhundert Jahre studieren konnte, und bei deren Anblick ihr eigenes Hiersein ihr oft unwirklich und unbegreiflich schien.

Nach einiger Zeit nahm Agathe ihre Stellung ein, als etwas Natürliches und Unabänderliches. Bat nur um Pflichten, weil ihr war, als schwebe sie in der Luft ohne Muß und Soll. Lief erst aber doch nur wie ein junges Kätzchen mit, da alterprobter Hausstab die vornehme und doch so sparsame Führung in Händen hielt. Hing sich an Prinzeß Wandas weiße Laboratoriumschürze, schlüpfte durch einen engen Spalt ins Allerheiligste, das Laboratorium des Fürsten, erstaunt, verwirrt von so viel Wissen, Fleiß und Weisheitsbehelf.

»Wollen Sie lernen, Agathe?«

Es war Prinzeß Wanda, die es fragte. Und unüberlegt, nur aus dem Wunsche heraus, sich zu verschmelzen mit denen, die ihr Teil gaben an ihrem Leben, sagte sie: »Ja.«

»Das Höchste ist die Wissenschaft, das Schönste ist sie, des Daseins herrlichster Weg, des Lebens Krone«, so hatte sie Wanda oft sagen hören. Sie hatte eben nie mit Buben getollt, die Prinzeß Wanda. Hatte nie Unsinn getrieben, war nie heimlich durchs Gitter geschlüpft, um am Frühmorgen mit einem Arm voll Blumen nach Hause zu schleichen Nie wohl hatte sie Herzklopfen gehabt beim Anblick eines jungen Mannes, nie heimlich Geschichten gelesen, in denen von Liebe erzählt wurde und Leidenschaft. Und sicherlich waren ihr die Wangen nie heiß geworden von verliebten Gedanken.

Ein kalter, dürrer Weg war die Wissenschaft, eine kalte, stumpfe Krone!

Da brauste der Krieg auf. Der Fürst meldete sich. Aber noch hatte man keinen Bedarf. Dem verdienstvollen Gelehrten wurde Rücksicht, die er nicht verlangte. Die tolle, heiße Siegeszuversicht, die Entfeßlung aller Energien rührte so vieles in ihm auf, was noch jung geblieben war, ohne daß er selbst es ahnte. Und weil er meinte, dem Pendelschlag der Weltgeschichte näher zu sein in Berlin als in seinem stillen, stolzen Palais, vielleicht auch um die Kosten der Lebensführung in dieser ernsten Zeit einzuschränken, wurde die Übersiedlung in die Berliner Villa beschlossen. Die jüngere männliche Dienerschaft mußte einrücken. Des Fürsten alter, langjähriger Laboratoriumsgehilfe, Begleiter auf allen seinen Reisen, erbat, kriegsverängstigt, seine Entlassung, um in seinen Heimatsort zurückzukehren.

Agathe erbot sich zu helfen an seiner Statt. Es war merkwürdig, wie vieles sie lernen mußte, nur um zu wissen, was jener einfache Mann gewußt. Sie bemerkte oft die leichte Ungeduld, die sich Wandas bemächtigte, wenn sie in langen Sätzen Erklärungen geben mußte, die vom alten Famulus, auf Formeln reduziert, im Nu aufgegriffen waren.

Und es gab Nächte, da Agathe in ihre Kissen hinein weinte, weil sie den Sinn nicht verstand des toten Forschens, während ringsherum heißes Blut sein Recht verlangte.

So verging der Winter. Und der Frühling kam und der erste jährige Sommer mit dem Geburtstag des Fürsten und dem selbstgepflückten Blumenstrauß, dort irgendwo weit draußen, am Ende einer elektrischen Linie.

Und da spürte sie, daß nicht alles abgestorben war im Manne, der ihr Hausrecht eingeräumt hatte bei sich. Und sie hätte vor ihn treten mögen und all das krause, dumme Zeug sagen, das ihr nachts durch den Sinn flog und ihr den Schlaf nahm. Denn es war ihr, als würde das Leben anders werden, schöner, reicher, froher, trotz Krieg und Todesnot, wenn sie mit ihren jungen, warmen Händen einen Zacken der kalten, stumpfen Krone auf ihre Stirn mit herüberzöge.

Düsterer ballten sich die Wolken zusammen. Eisernes Gebot zwang die letzten aus ihren Häusern. Und abermals meldete sich Fürst Erasmus, verlangte sein Recht. Ganz stramm hielt er sich in seiner neuen Leutnantsuniform, der zweiundfünfzigjährige Herr. Gab seiner Tochter Anweisungen, die klangen wie ein frohes Vermächtnis. Auch jetzt noch Gelehrter mehr als Soldat.

»Bei dir ist ja alles in besten Händen. Ich glaube, du kannst auf dem von mir vorgezeichneten Weg fortschreiten. Wende dich in allen zweifelhaften Fällen an Professor Wolter, dem ich meine Aufzeichnungen anvertraut habe. Es wäre mir lieb, wenn du sie ausführtest und auf der Deutschen Bank deponiertest, wo auch mein Testament liegt. Den Schlüssel zum Safe habe ich dir übergeben. Ach so ... ja ...

Das galt Agathe, die unbemerkt in ihrer weißen, langärmeligen Schürze an den Rahmen einer großen Schiefertafel des Laboratoriums gelehnt hatte. Geisterhaft blaß war ihr junges, schönes Gesichtchen. Kein Wort sagte sie. Nur ihre Augen brannten und starrten.

Prinzeß Wanda verschloß die Papiere in einer großen, schwarzen Ledermappe. Ihre Schläfenmuskeln spielten, und ihr schmaler, herber Mund lag noch enger aneinandergepreßt als sonst.

»Ja, liebe Agathe.«

Wanda stand plötzlich an der Tür. »Ich schließe die Mappe in meinen Schreibtisch ein und komme dann wieder,« sagte sie mit ihrer ruhigen, blanken Stimme.

Es war nichts Auffälliges in ihrem Gehen. Wie oft hatte Agathe lautlos ihre Arbeit getan, während der Fürst über seinen Berechnungen saß. Aber diesmal lag ein Zittern in der Luft, ein Brodeln, wie es manchmal von den Retorten aufstieg, unter atembeklemmender Erwartung einer endlichen Lösung.

»Liebe Agathe...«

Da faßte sie mit beiden Händen nach ihrem schlanken, weißen Hals. »Was wird aus mir? Wo bleibe ich?«

Ein Schatten flog über sein Gesicht. So sehr rechnete sie also mit seinem Tode?

Der Blumenstrauß fiel ihm ein, die Fahrt – und nicht die einzige – Seite an Seite mit ihr im Wagen; Blicke, in denen Dankbarkeit lag und Bewunderung, Erröten, das sie verklärte, wenn er ihr lobend über das seidene Haar strich. Tadellos erzogen, ja das war sie. Er hatte es dem Anton Sternfeld mehr als einmal bestätigt. Und bildungsfähig und »durchaus Dame, gewißlich des edlen Blutes wert.« Und hatte dabei von einer wachsenden Zuneigung gesprochen und geschrieben: Wenn es ein Knabe wäre, keinen Augenblick würde er sich besinnen und ihn an Sohnes Statt annehmen, schon damit die Hohen-Steinecks nicht gelöscht würden aus der Reihe großer, deutscher Namen und edler Tradition ... Alles das hatte er geschrieben. Und nun ging er in den Tod und ließ das junge Ding ohne Namen, ohne Vermögen zurück, schön, unerfahren, wie es war.

Fürst Erasmus von Hohen-Steineck meinte, daß einer, der mit offenen Augen dem Tod entgegenging, wohl das Recht haben mochte, in seinen letzten Lebensstunden ein gutes Werk zu tun. So sagte er denn, ohne Sentimentalität, nüchtern fast, als teile er ihr ein Resultat mathematischer Berechnung mit: »Liebe Agathe, Ihnen will ich, wenn Sie es annehmen, meinen Namen hinterlassen, damit Sie wissen, was aus Ihnen wird und wo Sie bleiben, wenn ...« Sie schrie auf. »Nicht ... nicht ... Sie kommen wieder ... Sie müssen wiederkommen.«

Vor dem Ausdruck ihrer Augen erschrak der Fürst. Dann war es ihm wieder, als hätte er sich geirrt. Wie konnte er ... der zweiundfünfzigjährige Mann, glauben ... Und er nahm sie behutsam bei den Händen, sprach väterlich gütig zu ihr ...

Traumhafte Tage folgten. Traumhaft, weil nichts äußerlichen Wandel erfuhr. Nur das »Du« an Stelle des »Sie«. Die gleiche Arbeit an Wandas Seite. Mehr als sonst vielleicht, um dem Fürsten noch Erfreuliches mitzugeben auf seine Kriegsfahrt. Kaum, daß er selbst eine Stunde zu Hause war.

Ob er's nicht vergessen hat? dachte Agathe manchmal. Dann kam ein dicker Brief aus Wien. Gesiegelt. Und Fürst Erasmus sagte: »Wenn es dir recht ist, Agathe, so gehen wir übermorgen aufs Standesamt.«

»Bitte nicht übermorgen,« mischte sich Wanda ein. »Übermorgen will Professor Wolter kommen wegen der letzten Ammoniten aus Griechenland.«

Und der nächstfolgende Tag wurde festgesetzt. Der Form halber nur: »Es ist dir doch recht, Agathe?«

»Ja, gewiß.«

Sie ging aus dem Zimmer. Ihr war bang geworden. Der Fürst blickte ihr nach, ein bißchen erstaunt. »Eine Hochzeit, wie junge Mädchen sie sich denken mögen, ist es wohl nicht.«

Wanda lächelte. »Dazu ist die Zeit nicht angetan. Und dann ... es ist ja nur eine Formsache, nicht wahr? Ein Freundschaftsdienst, den du dem Onkel Anton leistest.«

Fürst Erasmus blickte auf. Ja ... ein Freundschaftsdienst ... So hatte er es noch nicht gesehen, aber so war es richtig.

Er atmete erleichtert auf, streckte sich. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel an der Wand. Ein schlanker, vornehmer Herr, jugendlicher durch die Uniform als früher. Die Bewegungen jetzt schon, durch den kurzen Dienst, rascher, zielsicherer. Ein Mann, der dem Leben entgegenging, nicht dem Tod. Und das Blut stieg ihm plötzlich bis zu den Schläfen hinauf. Wenn er zurückkam, heil und unversehrt, in einem Jahr, einem halben, wenn er dann als Gatte dem jungen, kindlichen Geschöpf gegenübertrat ... Wie viele Jahre hatte er ihr zu bieten? Es war Wahnsinn, was er versprochen hatte. Wahnsinn, was er verlangte. Aber durfte er zurücktreten? Jetzt zurücktreten, da Graf Anton Sternfeld ihm schrieb ...

»Der Krieg hat unsern Verhältnissen den Rest gegeben. Und wenn ich jetzt nur elendige fünftausend Kronen zu Agathens Aussteuer auswerfe, so ist es alles, was ich, ohne ein Schurke an meiner Frau zu werden, unserm bissel Hab und Gut entwenden kann. Vergelt's Dir Gott, Erasmus, was Du tust, und laß die Angelegenheit begraben sein zwischen uns. Beschwere den Sinn Agathens, auch wenn sie Deine Frau wird, nicht mit der Wahrheit über ihre Geburt. Damit – sollte das Schicksal uns alle mal zusammenführen – sie unbefangen bleibt. Und meine Frau – Du wirst ja wissen, wie Weiber sind – nicht nachträgliche Eifersuchtsanwandlungen kriegt, die eine so harmonische Ehe zerstören könnten.«

Fürst Erasmus hatte zwar keine Ahnung, »wie Weiber sind,« aber er wußte, daß er die fünftausend Kronen zurückschicken mußte, wollte er wirklich der sein, als der er bei dem guten Anton Sternfeld galt.

Und an dem Tag, an dem der Graf Sternfeld in Wien, eine leise Melodie pfeifend, den Scheck über die fünftausend Kronen wieder in seiner Brusttasche barg, schon weil er mit »dieser Person, der Flora,« in keiner weiteren Korrespondenz mehr zu sein wünschte, und energisch den Faden damit abriß – an diesem Lage standen Prinzeß Wanda und Agathe, jetzt Durchlaucht von Hohen-Steineck, auf dem Bahnhof und gaben dem Fürsten Erasmus das Geleite.

Wobei das Unvergeßliche geschah: daß Agathe sich plötzlich von ihrer Begleiterin losriß, einem wilden Jungen gleich das Trittbrett des Wagens erklomm und, in das leere Abteil ihres Mannes eindringend, sich an seine Brust warf, ihre Arme um seinen Hals schlang und stammelte: »Nimm mich mit, nimm mich mit, laß mich nicht allein.«

»Agathe ... Agathe.«

Er hielt sie an sich gepreßt, fühlte ihren nervigen, schlanken Körper, die weiche Süße ihres vor Tränen geschwellten roten Mundes.

»Agathe ... Agathe.«

Er fand nur den einen Namen. Glaubte, daß seine spröde, der Zärtlichkeit ungewohnte Stimme ihr alles sagte, was verzweifelnd ihn im Halse würgte. Und sein Blick traf über ihren Kopf hinweg sein Bild im schmalen Querspiegel über der Polsterung des Wagens. Ein Mann, dem die Aufgewühltheit seiner Seele die Züge zerriß, die Stirn in tiefe Runen spaltete, den Schläfen dicht am ergrauten Haar kleine Runzeln einpreßte und den Mund, den stets so beherrschten, kühlen Mund, in tiefen Falten zum scharfen Kinn herabzerrte. Ein Mann, dem das Alter im Nacken saß. Und abermals das lockende, süßbettelnde: »Nimm mich mit ... nimm mich mit.«

»In den Krieg? Wie denkst du dir das?«

»Es gibt Frauen, ich wäre nicht die einzige, nicht die erste. Ich fürchte mich nicht. Ich habe Soldat gespielt wie ein Junge mit den Professorbuben. Ich habe Kräfte. Man sieht mir's nicht an. Aber stark bin ich, so stark, fühl' meine Muskeln. Als Diener, als Bursche, nimm mich mit.«

Er lachte, und die Augen wurden ihm naß dabei. Er fühlte den Duft ihres jungen, unberührten Mädchenkörpers und wurde toll davon, der Mann, dem das Alter im Nacken saß.

»Wenn du stark bist, Agathe, dann ... warte auf mich. Warte, wie es einer Fürstin ziemt. Hörst du? Warte auf deinen Gatten. Warte auf die Liebe, die er dir bringt, auf das Leben.«

Er riß sie an sich, jung plötzlich, in der aufgepeitschten Leidenschaft, küßte sie auf ihre vollen, keuschen Mädchenlippen. »Schwöre, daß du wartest, Agathe, treu und stark. Wie der Wahlspruch unseres Wappens ist, Agathe: Treu und stark. Schwöre!«

Ein Mann, der ihr gehörte vor Gott und der Welt, ein Held jetzt schon mit seinen verjüngenden Litzen, der erste Mann, der seinen Arm um sie schlang, der erste, der ihre Lippen berührte in heißer Leidenschaft, wie hätte sie ihm widerstehen können? Ihr jungerwecktes Blut drängte zu ihm. In ihr sang die Liebe ihr erstes, heißes Lied.

»Schwöre auf das, was dir das Liebste ist, Agathe.«

Das Liebste ...? Was war ihr Liebstes gewesen bisher ...? Sie erschrak, da sie nichts fand. Da ihr Leben so liebesarm hinter ihr lag. Da kein Wort von keines Menschen Lippen ihr lieb gewesen bis zu dieser Stunde.

»Besinn dich nicht lange, Agathe, wir müssen uns trennen. Das Liebste ... Ist es so schwer zu finden?«

»Du, du bist das Liebste.« Und abermals warf sie die Arme um seinen Nacken, zitternd vor Erregung.

Da sagte er, aufs tiefste ergriffen: »Um dieses Wortes willen wird mir Heimkehr zu dir beschieden sein. Mein Leben ist fortan in deiner Hand. Erlischt nur, wenn du deinen Schwur brichst. Denk' daran, Agathe: Treu und stark.«

Er ließ sie aus seinen Armen.

Eine blanke Stimme rief herauf: »Agathe, der Zug fährt gleich ab.«

»Geh,« sagte er. »geh.«

Stand stramm, ließ sie an sich vorbei taumeln. Trat nicht mehr ans Fenster. Sah nicht, wie seine Tochter auf dem Bahnsteig sich hielt. Stramm, fast wie er, sehr bleich. Die stahlblauen Augen in den dunkeln Ausschnitt des Fensters gebohrt. Brach dann, als der Zug sich in Bewegung setzte, zusammen in einer Ecke, mit Blicken, in denen Höllenqualen glommen. Verpraßt, vergeudet in einer Stunde der Besitz eines Lebens! ...

Jahre vergingen. Brausten, dröhnten, schlichen, quälten, sogen ihm das Blut aus den Adern, fraßen ihm das Fleisch von den Knochen, krümmten die Zehen seiner Füße, löschten das Leuchten seiner Augen, zerwühlten sein Gesicht, beugten seinen Rücken, erdrosselten sein Denken. Warfen ihn, ein unbrauchbares, abschreckendes menschliches Skelett, irgendwo im östlichen Sibirien auf die Matratze eines Spitals, die erste Matratze seit Jahren.

Und abermals dauerte es Monate, ehe er sich besinnen konnte, was er war. »Fürst,« lallte er. Und bekam ein Papier, das amtliche Geltung hatte. »Ein Namenloser, der vorgibt, Fürst zu heißen.« Ein reicher Fellhändler, der das Spital unterstützte, erbarmte sich seiner. Brauchte gerade einen Türsteher, der auch kurze Botengänge machte. »Lauf dahin, Fürst.« »Troll' dich zum Teufel, Fürst.« »Da, Fürst, ein Trinkgeld. Sauf dir einen an.«

In einem warmen Verschlag stand sein Bett. Schaftstiefel schützten fortab seine erfrorenen Füße, ein wattierter Mantel mit roten Aufschlägen deckte seine Blöße. Kohlsuppe, schwarze Grütze, soviel er nur wollte. Kein eigentlicher Dienst. Ein Botengang von Zeit zu Zeit. Daß man für Ernst nahm, was dem Fellhändler nur Laune gewesen. Bis der Winter, der letzte, endlose, beißende sibirische Winter vorüber war, die vereisten Ströme aufbrachen. Bis die Füße wieder laufen gelernt hatten und ein paar Muskeln sich strafften über den morschen alten Knochen.

Da rüstete sich der Fellhändler zur Geschäftsreise nach dem Westen. Gab seinem Diener einen Fußtritt, weil er sich, vom Fusel besoffen, in der Gosse gewälzt hatte. »Ich hab' keine Zeit zu suchen, willst du mit mir gehen, Fürst, als mein Diener?«

Steckte ihm Papiere in die neue graue Bluse.

»Heißt jetzt Gawril, verstanden? Und hältst dein Maul auf alle Fragen. Ziehst mir die Stiefel aus und putzt sie blank. Trägst meinen Mantel und die Reisetasche.«

So kamen sie über den Ural und weiter durch das Russenland. Bis sie ein Schiff bestiegen, das sie nach Skandinavien brachte. In Kopenhagen wartete Gawril, der echte.

»So, Fürst, nun lauf. Such' deinen Stall.«

Und weil er reich verkauft hatte von kostbaren Pelzen, drückte er fünf Tausendrubelscheine in die Hand des Entlassenen.

»Nun sag' nur eines: Wie heißt du? Es ist nur, damit ich weiterhelfe, wenn ich kann.«

Da brach er zusammen, der sich Fürst genannt, ein zweites Mal. Und wachte abermals auf, in einem langen Saal mit vielen Kranken.

Und wieder dauerte es Monate, bis das Gedächtnis zurückkam, nicht folgerichtig noch, gleich einzelnen Sonnenflecken auf dunklem Grund zuerst, und langsam die alte, gewählte Sprache. Bis er sich unterhalten konnte mit dem Arzt, der ein Deutschenfreund war und sich des Unglücklichen mit besonderer Sorgfalt angenommen hatte. Bis er sein Wissen offenbarte, das ihm als Tröster wiederkam wie eine Gnade. Da sah er das Staunen in den jungen, klugen Augen. Hörte das vorsichtig Forschende des Tones und zerquälte sein schwaches Gehirn nach dem Namen, der ihm gehörte, und den er nie vernommen in all den Jahren. In wieviel Jahren?

Er wußte es nicht. Zählte, verzählte sich. Zitterte am ganzen Körper, wenn er an die Stunde dachte der ärztlichen Visite, die abermals Fragen bringen würde. Tastende, gütige – die aber wie mit Widerhaken sich in sein Gehirn einbohrten.

Eines Tages endlich war er auf, stand mit beiden Füßen auf dem Boden. Ging in den Garten. Trank die blaue Kopenhagener Luft ein. Hörte den Kies knirschen. Fühlte den Wind wie kosende Hände um sein Gesicht spielen. Spürte ohne Erschrecken einen Druck auf seiner Schulter, sah in das gute, junge Arztgesicht.

»Nun, was sagen Sie zu unserem Patienten, Schwester Agathe?«

Da schrie er auf. »Agathe, Agathe. Meine Frau. Die Fürstin Hohen-Steineck ... meine Frau.«

Und rief ein über das andere Mal der kugelrunden kleinen Schwester ins Gesicht hinein: »Agathe, Agathe.«

Brach schluchzend auf der Bank zusammen, den Kopf in den tiefen Falten der weißen Schwesternschürze.

So fand er den Weg zurück, ins Leben zurück, zu sich selbst ... und wurde mit dem ersten Telegramm, das er erhielt, zum Mörder an der Seele des Kindes, das er zum Weibe genommen, wie seine erste Frau zur Mörderin an seiner Seele geworden.

»Ich habe gewartet treu und stark. Laß mich kommen und dich holen. Agathe Hohen-Steineck!« Auch heute noch ein Kind, das blind seinem Gebote folgte.

Auf dem Deutschen Konsulat ließ er sich Geld geben. Kaufte Körbe voll Blumen. Nur Herbstblumen waren es, duftlose, riesengroße Blumen, wie feuerlohende Tiere. Rosen streute er dazwischen, die ein Vermögen kosteten. Was fragte er danach!

Was fragte er nach dem Preise der prächtigsten Zimmer des Hotel d'Angleterre! Oder nach dem Preise der ausgesuchten Speisen, der erlesenen Weine. Sein Hochzeitsessen war es ja, das er bestellte. Das große Fest brach an, der größte Tag seines Lebens.

Drei Stunden vor Agathens Ankunft fiel ihm ein, daß er sie im Frack erwarten müßte. »Bring Deine Zofe mit, fahre direkt ins Hotel,« hatte er telegraphiert. Und hatte Befehl gegeben, die junge Fürstin gleich in ihr Gemach zu führen.

Auf dem Toilettentisch ein kleines Diadem aus Smaragden und Brillanten. Und ein Zettel daneben: »Schmücke Dich, so schön Du es vermagst, zu unserem neuen Lebensanfang. Um zehn erwarte ich Dich zum Hochzeitsmahl. Erasmus.«

Um acht stand er bereit. Im fertig gekauften Frack, der weit um seine dürren Glieder schlorrte, bebend vor todbringender Erregung. Stand am Fenster. Wartete. Hörte das Gläserklirren der tafeldeckenden Kellner nebenan, und sein Herz schlug in kleinen, schnellen Schlägen, und sein dünnes Blut jagte auf und nieder.

Hatte er sich denn auch im Spiegel angesehen? Wie sah er überhaupt aus? Bleich wurde er vor Angst. Und lächelte dann wieder.

Schön sah er aus, prächtig! Frack aus feinstem Tuch. Binde aus Batist. Er lachte leise auf, mit spröder Stimme. Glücklich und verschämt. Kein Türstehermantel mehr über nackter Blöße, die unter zerfetzten Überresten grauen Militärtuches hervorschien. Keine graue Bluse und kotbespritzten Schaftstiefel. Kein Spitaldrillich, keine grauen Bartstoppeln!

Schön, prächtig!

Nicht die roten Seidenschirme über den Lampen. Nur die Mittelkrone ganz hell ... zu hell ... Aber festlicher vielleicht zum Empfang. Zu grelles Licht war ja rasch gelöscht.

Wagen, mit Gepäck beladen, ratterten über den Platz. Die Insassen unkenntlich schon in dem violetten Dämmer. Nur Umrisse.

Da fiel ein Schatten auf glutrote Seligkeit. Die Tochter erstand vor ihm: Wanda. Kein einziges Mal hatte er an sie gedacht. Sich auch nicht gewundert, daß sie stumm geblieben war. Wo war Wanda? Er hatte einfach nichts gesehen vor dem berghohen Glück, dem er entgegenfieberte. Nun war sie verletzt, gekränkt. Aber er wollte es gut machen, bald, dieser Tage.

Diese Stunden aber gehörten ihm allein, ihm und seinem jungen Weib, das so schön, so stark, so treu war. Seine Stirn klebte an der Fensterscheibe fest. Zwei Wagen oder drei hielten vor dem Portal. Frauen stiegen aus, Männer. Die Hotelglocke schlug dumpf an. Koffer wurden abgeladen. Ihm wurden die Knie weich, und er fühlte das alte Kreisen im Gehirn, Stechen und Hämmern in den Schläfen. Fühlte das grauenhafte Zittern der Hände, das sich einstellte bei jeder Erregung. Nur jetzt nicht ... jetzt nicht nachgeben. Eisern erschien ihm sein Wollen. Eisern die Spannkraft seiner Glieder.

Er ging in den lichthellen Salon, wo auf blutrotem Teppich der runde Tisch wie eine Blumeninsel glitzerte. Auf und ab schritt er. Wußte die Zeit nicht mehr zu bemessen. Da klopfte es.

Hatte er Herein gerufen? Hatte er es nur gedacht? Im Schatten eines tiefroten Vorhangs stand er. Starrte nach der Tür, durch die sie eintreten würde, lichtumflossen, das sprühende Diadem im braunen Haar, in einem duftigen Gewölk von Seide und Spitzen – die bräutliche Frau.

Und die Tür tat sich auf, von einer Männerhand zurückgeschoben. Ein Kellnerfrack ward sichtbar und eine leuchtende Hemdbrust. Dann stand eine schwarze Gestalt da: schmal, überschlank, das blonde Haar schlicht zurückgekämmt. »Wanda.«

Zu Eis erstarrte alles an ihm, und hartes, hilfloses Weh würgte ihn am Halse. Das Härteste, Grausamste sagte er da:

»Dich habe ich nicht erwartet.«

Und kalt, noch härter, noch grausamer kam die Antwort:

»Da die Fürstin Hohen-Steineck keine Zofe besitzt, bin ich als Zofe mitgefahren. Und als Zofe melde ich, daß es Ihrer Durchlaucht leid tut, kein Gesellschaftskleid mitgebracht zu haben und im Reisekostüm speisen zu müssen. Ich denke, mein Auftrag und meine Aufgabe ist hiermit erledigt.«

Keiner von ihnen sah das Zittern, die fahle Blässe, das verzweifelte Sichhaltenwollen des andern, und erschraken doch beide voreinander, und erkannten ihre Stimmen nicht.

Ein letzter Ruck. Ein zages, bettelndes: »Wo ist Agathe?«

Und ein jubelndes Lachen, ein flammendes, süßes Gesichtchen, zwei Arme, schlank wie Kinderarme in Sehnsucht ausgebreitet. »Laß mich, Wanda, laß mich zu meinem Mann, meinem, meinem Mann!«

»Agathe!«

Er wankte nach vorn. Grell fiel das Licht auf sein zerwühltes Gesicht, auf seine heftig zuckenden Hände, auf seine Gestalt, um die der allzu weite Frack baumelte, auf seinen Hals, der einem Vogelhalse gleich aus weitem Kragen herauswuchs, auf seine Augen, die keine Farbe mehr hatten.

Ein Schrei. Ein einziger kurzer Schrei. Abwehrend erhobene, blasse Hände. Große braune, vor Schreck geweitete Augen. Und dann ein Rückwärtsgehen Schritt für Schritt, ein Zurückweichen wie vor einem Gespenst oder einem reißenden Tier, dessen Wut die leiseste Ungeschicklichkeit entfesseln könnte. Bis der kindliche Körper sich schreckhaft zusammenkauerte in der Tiefe der seidigen Polsterung und das totenblasse Gesicht hinter vorgestreckten Händen verschwand.

»Wanda.«

Nur eine Lippenbewegung war es. Aber Wanda hörte den verzweifelten Hilferuf. Alle Farbe war von ihr gewichen. Sie stand neben dem Vater.

»Das habe ich befürchtet, das habe ich vermeiden wollen.« Und weil er zusammengesunken war am Tisch und Wasser ihm aus den farblosen Greisenaugen lief, stellte sie sich vor ihn hin, damit »die andere« ihn nicht sah. Er sagte:

»Bitte, speist allein. Es war zu viel.«

Und fand die alte Haltung wieder zu diesen Worten wie eine alte Melodie.

Ließ sich nicht mal bis zur Tür begleiten seines Schlafzimmers, das mit duftlosen Blumen geschmückt war. Blickte auch nicht mehr dorthin, wo sein junges Weib zusammengekauert saß. Drehte das Licht an, da er allein war, und fegte alle verhüllenden Blumengewinde von den Spiegeln, ließ die Helle auf sich herabrieseln und sah einen hagern Greis, dessen gefurchtes Antlitz abschrecken mußte, wenn es in Liebesbrunst entflammte. Arger als eine alternde Kokotte hatte er das Fest der Liebe zu inszenieren versucht. Hatte Farben, rosenrote Beleuchtung, gewürzte Speisen und feurige Weine aufbieten wollen, um gleich einem niedrigen Lüstling ein Kind in seine Arme zu zwingen.

Es pochte an die Tür. Leise, zaghaft. »Darf ich herein?«

Beide Hände hielt er vor seinen Mund gepreßt. Sah durch die geschlossene Tür das totenblasse Gesicht Agathens und hinter ihr Wanda ... streng, unerbittlich. Hörte, was er früher so oft gehört, und was ihm wieder kam, jetzt in dieser Stunde seines Lebens, mit unheimlicher Deutlichkeit: »Sei nicht kindisch, Agathe.«

Vielleicht hatte sie jetzt auch noch etwas zugefügt, von Pflicht, und gesagt: »Es ist dein Gatte und bleibt es.«

»Darf ich?«

Vielleicht hätte er sie auch jetzt hereingelassen zu sich, wie ein Vater sein um Verzeihung bittendes Kind hereinläßt. Hätte ihre Wange gestreichelt und ihre Hände geklopft und gelächelt. Ja gewiß, gelächelt: »Schon gut, Kindchen. Denken wir nicht mehr daran.«

Die Kraft hätte er gefunden. Aber er stand in einem Zimmer, das mit rotglühenden Blumen geschmückt war, für sie, in einem Zimmer, in dessen Mitte, unter seidenen, von Amoretten gehaltenen Vorhängen, das breite Doppelbett mit den zärtlich aneinander geschmiegten Kissen schneeig leuchtete.

»Erasmus, bitte.«

Nur wie ein Hauch drang die süße Stimme durch die Tür. Und Angst faßte ihn. Irrsinnige Angst, schwach zu werden. Lautlos glitten seine Schritte über den dicken Teppich. Lautlos schob er den Riegel vor, drehte das Licht ab. Tastete sich im Dunkeln zum Bett. Fiel mit dem Gesicht in die Kissen und erstickte in ihnen das letzte Aufbäumen des Mannes.

Am blumengeschmückten Tisch saßen Wanda und Agathe einander stumm gegenüber, während der Kellner mit undurchdringlichem Gesicht die Platten aufstellte und, kaum berührt, wieder abtrug – – –

* * *


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