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Im Cercle des Kasinos war Bakkarat, als Xaver Sternfeld eintrat. Er war kein häufiger Gast dort oben, seitdem er einmal einige tausend Franken verspielt und Steffi um Geld hatte ersuchen müssen.

Augenblicklich hielt ein vielfacher Millionär die Bank, dessen Pech sprichwörtlich war. Marchese della Sarte setzte sich mit Vorliebe an den Spieltisch, wenn die Bank in dessen Händen war. Aber größer als das Pech des Millionärs war das des Marchese. Man sprach im Cercle von namhaften Summen, mit denen der Millionär ihm öfters beigesprungen.

Xaver Sternfeld war sicher, daß er della Sarte im Cercle treffen würde, und er stellte sich so, daß er die Eingangstür im Auge behielt. Die Briefe brannten ihm durch den Anzug und das Hemd bis auf die Haut. Und dennoch, wenn die Tür aufging, blieb sein Herzschlag aus.

Nur die Briefe los werden, sie los werden – dann wurde, dann konnte noch alles gut werden. Vielleicht sogar mit Steffi.

Plötzlich fuhr er zusammen. Denn abermals war die Tür aufgegangen, und ein schwindsüchtiger ehemaliger italienischer Attaché erschien, von dem es hieß, daß er die Brosamen auflas, die von den Tischen der großen Geschäftsleute fielen, deren Kuppelung er beigewohnt hatte.

Xaver Sternfeld hatte ihn öfters in Gesellschaft des Marchese gesehen, und es war natürlich, daß seine Gedanken von ihm abermals und intensiver noch als vorher zu della Sarte absprangen.

Die grünlich-bleiche Gesichtsfarbe des Attachés und seine zuckenden Bewegungen ließen die meisten aufblicken. Kleine Gruppen bildeten sich um ihn, und wenige Sekunden später spülte eine erregte Welle die Nachricht bis an den langen Spieltisch: »Marchese della Sarte hat sich in seinem Hotelzimmer erschossen.«

Noch grüner als der Attaché wurde Xaver Sternfeld. Seine Hände umgriffen die nächste Stuhllehne. Die Spieler legten die Karten nieder, mehr ungehalten als erschüttert. »Hm ... er war allerdings sehr nervös die letzte Zeit,« sagte der Bankhalter.

Irgend jemand fragte: »Hat wohl Pech im Jeu gehabt?«

Ein anderer antwortete achselzuckend: »Nicht mehr als sonst. Vielleicht: cherchez la femme.«

Der Bankhalter nahm ein neues Spiel zur Hand und ließ abheben: »Ich glaube eher: cherchez les affaires. Solche Gelegenheits-Affairisten aus vornehmen Kreisen stehen immer mit dem einen Fuß im Gefängnis, mit dem anderen auf der Schwelle zur Ewigkeit. Nanu, Graf Sternfeld, Sie gehen schon?«

»Ja ... ich hab' nur den Marchese hier sprechen wollen – zu was soll ich noch bleiben? Servus, meine Herren –«

Xaver Sternfeld fühlte, wie die Blicke aller sich für die Dauer einer Sekunde über ihn hinweg trafen. Und unheimlich war die Stille, die plötzlich einsetzte.

»Ich glaube, die Gräfin Sternfeld hat mit della Sarte ... zu tun gehabt. Da gibt's vielleicht noch unliebsame Überraschungen.« Es war die hohle Stimme des Attachés, die sich als erste vernehmen ließ.

Der Millionär sagte scharf: »Man sollte vorsichtig sein mit Leichenreden, besonders wenn die Nächstbeteiligten sie noch hören können. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß, wenn einer aus dem Leben geht, weil er seine sogenannten Ehrenschulden nicht bezahlen kann, er noch immer mehr Ehre im Leibe hat als jene, die ihre Zahlungsmöglichkeiten dunklen Quellen entnehmen.«

Er winkte einen Diener heran, befahl ihm, eine brennende Kerze zu bringen. Als sie vor ihm stand, nahm er einige beschriebene Blätter aus seiner Brieftasche und zeigte sie den Herren, die ihm zunächst saßen. Es waren Schuldscheine in Gesamthöhe von zwanzigtausend Franken. »Ich hätte ihm gerne noch einmal so viel gepumpt, denn die wenigen Tage, an denen ich nicht im Spiel verlor, waren jene, da er hier an meiner Seite saß.«

Die Schuldscheine des Marchese verkohlten unter dem gedämpften, leisen Lachen der Spieler.

Ganz mechanisch schlug Xaver Sternfeld den Weg ins Du Parc ein. Ins Chalet zurückzukehren wäre ihm unmöglich gewesen.

Der Marchese hatte durch einen Revolverschuß nicht nur dem eigenen, sondern auch seinem bisherigen Leben ein Ende gemacht. Der Faden war gerissen, der Xaver Sternfeld mit Steffi verbunden hatte. Schmerzlos fast. Er überlegte, was er nun machen wollte. Nach Genua reisen, die Witwe vorbereiten, trösten, ihr die Briefe bringen – das war nicht möglich. Denn viel mehr als sechshundert Franken besaß er nicht mehr. Und die Hotelrechnung wollte er wenigstens von dem Geld zahlen und die Heimreise. Dritter – wenn's nicht anders ging. Nur nichts mehr annehmen von denen ...

Er dachte nicht mehr an Steffi. Sah sie nicht. Sie war untergetaucht für ihn in der namenlosen Gemeinschaft ihm fremder, dunkler Existenzen. Die Augen brannten ihm wie Feuer, daß er sie immer wieder schließen mußte und die kleinen Bogenlampen und Laternen, die den Kai säumten, sich zu einer Kette zusammenschlossen.

Armer Marchese ... armer Teufel! ... Vielleicht hatte dem nur eine Begegnung gefehlt, wie er selbst sie gehabt hatte. Vielleicht hätte ein Wort genügt – eine Freundeshand, die sich ihm entgegenstreckte – Athleten waren sie ja alle nicht, daß sie sich losreißen konnten aus eigener Kraft ... Und wieder, in heißem Mitfühlen, sprangen seine Gedanken über zur wildfremden, verängstigten Frau in Genua. Morgen um sieben Uhr früh wollte er selbst die Briefe auf der Post aufgeben. Expreß, eingeschrieben. Mit einem fingierten Namen als Absender.

Das beruhigte ihn wieder, so daß er das Gesicht wahren konnte, als sich in der Halle des Hotels der Legationsrat von seinem Bridgetisch erhob und ihm mit einem fast herzlichen Handschütteln sagte:

»Na, der Marchese hat sich ja glücklich gedrückt.«

»Ich hab's eben im Kasino gehört.«

»Hoffentlich gibt's kein unerquickliches Nachspiel. Aber es heißt, man hätte nichts vorgefunden als eine noch unbezahlte Hotelrechnung. Ganz geschickt. Frau Gemahlin noch immer verreist? Schon zurück? ... So ... Empfehlung!«

Ganz langsam stieg er die Treppe hinauf, rauchte eine Zigarette an, daß es der Legationsrat noch sehen konnte. Haltung, befahl er sich innerlich – Haltung! ...

In seinem Zimmer angelangt, verlangte er die Rechnung. Und nicht in seiner verschuldetsten Leutnantszeit hatte ihm das Herz so geschlagen, wenn er befürchtete, daß die zu zahlende Summe seine augenblickliche Zahlungsmöglichkeit überstieg, wie in dieser halben Stunde des Wartens.

Gewaltsam mußte er das erleichterte Aufatmen unterdrücken, als er sah, daß sie nur wenig über zweihundert Franken ausmachte. Die Höhe seines Trinkgeldes überraschte sogar den an seine Großmut gewohnten Oberkellner.

Traumlos wie ein Sack schlief Xaver Sternfeld in dieser Nacht. Wachte auf durch Hupensignale eines startenden Motorwettrennens. Seine Uhr zeigte dreiviertel auf sieben. Er schlug die Vorhänge zurück. Der Nebel kroch in Schwaden die Bergabhänge entlang.

Xaver Sternfeld fröstelte in seinem braunen Flauschmantel, und er schlug den Kragen hoch. Einen anderen Mantel würde er nicht haben, auch wenn das Thermometer viele Grade unter Null zeigen sollte. Mit dem, was er hier unten hatte, damit mußte er auskommen. Nur sich nichts schenken lassen. Zur Not konnte er das goldene Zigarettenetui verkaufen, die Kette ... Nein, wenn er ehrlich war in seinen Vorsätzen, durfte er auch das nicht behalten. Nur das Notwendigste, das Allernotwendigste.

Er gab die Briefe auf. Fühlte etwas wie Erleichterung. Und wie in einem wohltätigen, traumhaften Nebel entschwand ihm des unglücklichen Marchese quälendes Bild. Wochen, Monate schienen ihm zwischen gestern und heute zu liegen. Die Sorge des Tages hielt ihn gefangen. Mit Anstand aus dem Hotel, aus der Stadt heraus – es war sein einziger Gedanke. Und doch kroch es ihm immer wieder wie Angst an den Hals, wenn er an das Kommende dachte, das ihn, mittellos, wie er jetzt war, härter noch treffen mußte als früher. Hart preßte er die Zähne aneinander, stemmte die Fäuste auf den Grund seiner Manteltaschen und schritt weiter.

Vor der abgeschlossenen Tür seines Hotelzimmers stand sein Diener. »Ja ... was gibt's, Joseph?«

Das Gesicht des Dieners war im Schatten. Er konnte seinen Ausdruck nicht erkennen. Aber dann hörte er in wohlgeschulter, unterwürfiger Dienerstimme die Worte: »Frau Gräfin lassen fragen, ob der Herr Graf im Chalet speisen werden, oder ob Frau Gräfin herunterkommen sollen.«

Da lachte Xaver Sternfeld ganz leise auf. Wie ein kleiner Junge, der sich toller Hirngespinste wegen selbst auslacht. Schloß die Tür zu seinem Zimmer auf und sagte, wie wenn es das Einfachste und Natürlichste der Welt wäre: »Frau Gräfin möchten entschuldigen, aber ich muß verreisen ... nach ... ja, ich schreib' dann gleich. Frau Gräfin mögen sich nicht beunruhigen. Ich nehme nur das Notwendigste von meinen Sachen mit. Das übrige können Sie ins Chalet zurückbringen. Gehn's jetzt ein bissel am Kai spazieren, bis ich rasiert und umgekleidet bin. So in einer Stunde können's den einen Handkoffer holen.«

Der Koffer war schon gepackt, als Joseph wiederkam. Mit einem Zwanzigfrankschein drückte der Graf ihm auch den kleinen Schlüssel in die Hand.

Xaver Sternfeld frühstückte noch ein letztes Mal im Hotel. Dann, in Erwartung des nächsten Zuges, der ihn vorerst mal nordwärts bringen sollte, hinaus aus der entnervenden Tessiner Luft, leistete er sich seinen letzten Mokka in der Halle. Feierte bewußten und gewollten Abschied von allen ihm bis jetzt so selbstverständlichen Eleganzen des Lebens, bestellte auch noch zwei Zigaretten feinster Marke, die er früher als »Pflanz« abgelehnt hatte.

Sein Gesicht hatte den gespannten Ausdruck verloren. Die duftenden Zigarettenwölkchen zauberten sogar ein leises, genüßliches Lächeln auf seine Lippen. Wie ein Nachtwandler war er, der nichts von Tatsachen weiß und nur mehr seinem Triebe folgt.

Erst als er plötzlich den Liftboy zwischen den Korbsesseln auftauchen sah, zerrte ihn sein beschleunigter Herzschlag zur Wirklichkeit zurück.

Jetzt rief ihn Steffi gewiß ans Telephon. Nun – das war vorauszusehen gewesen. Ein paar freundlich-unverbindliche Worte nahmen der Trennung jedenfalls alle augenblickliche Härte. Er erhob sich, überhastig, wie um eine lästige Schuld abzutragen.

Da wies aber auch schon der Liftjunge einer Dame den Weg: »Hier ist der Herr Graf, bitte.«

Und Steffi selbst stand vor ihm.

Sie hatte einen dicken Regenmantel an und eine Kappe aufgestülpt, mit einem dichten Schleier vor dem Gesicht. Sie war gar nicht, wie sonst immer, sorgfältig hergerichtet, und ihre bis zur Hälfte der Wade reichenden braunen Stiefel hatten einen dicken Lehmrand. Es nieselte wieder einmal, und feine, kleine Perlen glitzerten aus dem dunkelblauen Schleier. »Xaver ...«

»Ja, bitte.«

Sie standen einander gegenüber hinter den Hallensäulen und einer bergenden Wand grüner Pflanzen.

Die höfliche Kühle seines Tones ließ sie erstarren. Verängstigt flüsterte sie: »Der Joseph hat g'sagt, du müßt' verreisen. Ich hab' mir gedacht: warum mußt grad auf einmal reisen? Is denn was g'schehn?« Sie war entwaffnend fast in ihrer zynischen Naivität.

»Nix Besonderes: der Marchese hat sich erschossen.«

Da schlug sie den Schleier zurück. Ihre Augenlider bildeten rote Halbkreise in ihrem Gesicht, das von dem länglich schwarzen Pflästerchen an ihrer Schläfe noch geisterhafter schien in seiner graugrünen Blässe. »Is wahr?«

Sie fiel auf den nächsten Sessel. Sie riß die Knöpfe ihres Mantels auf, faßte sich an den Hals. »Weiß man, warum? Hat man was g'funden?«

»Nur eine unbezahlte Hotelrechnung in beträchtlicher Höhe.«

Steffi atmete auf. »Das war anständig von ihm!«

Sie führte Xavers Tasse an die Lippen. Ihre Hand zitterte.

Xaver Sternfeld betrachtete sie, wie man ein kurioses, nie gesehenes Tierchen betrachtet. Nur sein beschleunigtes Rauchen verriet die leise Spur einer Erregung. »Er hinterläßt Frau und drei Kinder,« sagte er scheinbar gleichmütig. »So ein dummer Kerl! Hat's nötig g'habt ...

Aber sie atmete auf dabei, und die Farbe kehrte langsam zurück in ihr Gesicht. Sie nahm abermals einen Schluck Kaffee und sagte, über den Rand der Tasse zu ihm hinaufschauend: »Die Briefe ... die kannst mir doch jetzt zurückgeben – gelt, Xaverl?«

Er schüttelte kühl den Kopf. »Wir wollen das gestrige Gespräch nit wieder aufwärmen – es schaut nix dabei raus. Außerdem muß ich in einer halben Stunde zur Bahn. Darf ich dir noch was servieren lassen – Kaffee ... Kognak?«

Sie beugte sich weit vor. Was war denn das mit dem Xaver? Wenn er sie geschlagen, sie zu Boden geworfen, sie hinausgeschmissen hätte, oder selbst davongelaufen wäre – sie hätte es begriffen, wie sie gestern seine Wut begriffen – und ihm die kleine Wunde nicht nachtrug, die er ihr durch das ihr ins Gesicht geschleuderte Flakon beigebracht. Aber dieses höfliche, ruhige Reden nach dem gestrigen Abend – nach der Nacht ... »Ich hab' kein Auge geschlossen, du ...,« stieß sie vorwurfsvoll heraus.

Sie wußte nicht, wie sie sich weitertasten sollte. Er aber schlug mit dem Löffel an die Kaffeetasse: »Ober – zahlen! Kaffee, Zigaretten –«

»Sofort ...«

»Setz' dich doch, Xaverl ... Ich bitt' dich. Es ist so ungemütlich, wann du stehst ...«

»Entschuldige – an den Grad der Gemütlichkeit habe ich allerdings nicht gedacht.«

Bewußte Grausamkeiten lagen ihm nicht, und so setzte er sich ihr gegenüber. Sie rückte näher. Sie flüsterte: »Warum hast denn deine Schmucksachen ins Chalet g'schickt? Das hat mich zumeist gekränkt.«

Dabei zerdrückte sie eine heiß aufquellende Träne. Er streifte angelegentlich die Asche seiner Zigarette ab.

»Ja, das tut mir leid. Aber, du mußt verstehen ... Nachdem ich weiß, aus welchen Quellen ...«

»Ja, Xaverl ... dann dürft'st du ja auch nicht ...

Sie brach ab, verwirrt, erschreckt.

»Du meinst – ich dürft' auch hier nicht im Hotel sitzen und den Mokka trinken und die Rechnung bezahlen und einen Anzug außer dem, den ich auf dem Leibe trage, behalten. Da hast ganz recht. Aber ich werd's schon noch abverdienen.«

»Verdienen ... du?«

Sie hob die Augen zur Decke, schlug die Hände zusammen. Lachte sogar wieder, als sie wiederholte: »Verdienen! Aber, Xaverl... wie willst denn das anfangen?«

Ihm brannten die Schläfen. Er überlegte nicht mehr. Fühlte nur, daß er sich loßreißen mußte von der goldenen Kette – um jeden Preis. Und wenn ihm dabei auch Fetzen seiner eigenen Haut mit abgerissen wurden.

Der Kellner kam einkassieren.

»Soll das Gepäck zum nächsten Zug?«

»Bitte.« Das Geld lag auf dem Tablett.

»Behalten Sie ...«

Der Kellner ging. Xaver Sternfeld erhob sich. »Ich werd' jetzt gehn müssen, mußt schon entschuldigen.«

»Ja, Xaver, was ist denn das alles? Bist du wahnsinnig?«

»Nit so laut, Steffi ... Nimm dich zusammen.«

Sie hing sich an seinen Arm.

»Ich laß dich nicht ... du darfst mich nicht abschütteln, wie wann ich dein Verhältnis wär. Wann du immer wiederholst: eine Gräfin Sternfeld ... dann müßt' dich auch zu mir benehmen wie zu einer Gräfin Sternfeld. Darfst mir nit davonlaufen hier ... aus dem Hotel und mich einfach stehen lassen ... das darfst nicht ...« Schluchzen würgte sie. Sie hatte keine Gewalt mehr über sich.

Er sah sich um. Von Zeit zu Zeit wehte ein kühler, feuchter Lufthauch vom Windfang herüber, das feine Läutwerk, das den Aufzug rief, schrillte durch die Halle – vereinzelte Gäste kamen die Treppe herunter, verschwanden hinter der Glastür.

»Xaverl ... Xaverl ...«

Der Liftboy hielt die Tür weit auf. Sie traten hinaus, nicht viel anders als sonst. Nur, daß Xaver Sternfeld die Arme so eng an seinen Oberkörper schloß, daß sie sich, ohne ihm Gewalt anzutun, nicht einhängen konnte in ihn. Zwischen ihnen stand feuchtkalter Nebel, und der Wind trieb ihnen nasse, feine Perlen ins Gesicht.

»Ja, um Gottes willen, Xaver ... was hast denn vor? Was is denn g'schehn?«

»Nix, Steffi ... Mußt mich nur meiner Wege gehen lassen, 's is mir leid, daß unsere Wege nimmer z'sammengehen – geb' dir keine Schuld dran. Aber 's ist halt amal so. Da kommt ein Wagen. Steig ein, Steffi, verkühlst dich sonst, und wann du einen Rat annehmen willst von mir – dann brich deine Zelte in Lugano ab.«

»Ja ... was denn ...«

Sie schlug den Schleier zurück. Ihre lebhaften, dunklen Augen starrten ihn an wie verglast, ihre Lippen öffneten und schlossen sich wie zu einem unterdrückten Schrei, ihre Hand schlug ein paarmal in die Luft, als suche sie nach einem Halt. »Was red'st denn? Bist du wahnsinnig? Bin ich ...«

Vielleicht brach sie in dem Straßenschlamm vor ihm zusammen. »Gib acht ... Leute ...«

»Was gehn mich die Leut' an ... Xaver ...«

Stärker als ihr brünstiger Aufschrei war der Windstoß, der sie umwirbelte. Sie wäre wirklich gefallen, wenn er sie nicht am Arm gepackt hätte in einer Regung des Mitleids mit dem echten Schmerz, den er ihr nicht mal zugetraut hatte. »Geh, Steffi ...«

^ »Xaverl ... Bubi!«

Lachen und Schluchzen lag in ihrer Stimme. Sie preßte ihre Lippen gegen seinen Ärmel. Und weil sie fühlte, daß sein Körper nachgab, wiederholte sie in gurgelndem, seligem Lachen:

»Bubi! Kommst ja doch nit los von deinem Affi!«

Und brach ab. Ganz plötzlich. Rief mit ihrer kalten, harten Geschäftsstimme: »Du ... die Tutzer.«

Da vereiste das aufgepeitschte Blut in seinen Adern, und die weiche, mitleidige Bewegung erstarrte.

Steffi sah dem Wagen nach, der in die Torfahrt des Du Parc einbog.

»Du, die is g'wiß im Chalet gewesen, da hat man ihr g'sagt – ich wäre hier. Geh nicht fort, Bubi, um Gottes willen ... nur einen Augenblick... ich muß mit ihr reden. Sie ist furchtbar empfindlich. Wann man sie brüskiert, weißt, dann kann man sich die guten Gelegenheiten auf Löschpapier malen. Und sie hat grad noch eine gute Sache entriert. Denn wann sich's mit dem italienischen G'schäft am End' spießt, dann ... Nit zwei Minuten dauert's – ich lad' sie nur für heut Abend ein ... Wart', Bubi, hörst? Zwei Minuten ...« Sie lief mit ihren derben, braunen Stiefeln achtlos durch Straßenschlamm und breite Pfützen, daß das Wasser aufspritzte. Einmal noch wendete sie sich um, hob die Hand. Lief weiter. Die Enden ihres Schleiers wehten um sie her.

»Halt!« rief Xaver Sternfeld.

Es galt dem Fahrtsignal des Funiculaire, der die Steigung zum Bahnhof nahm. Im letzten Augenblick noch konnte er sich in den Wagen schwingen.

»Schneller, schneller,« hätte er dem Führer zurufen mögen, denn angstvolles Grauen packte ihn, wenn er dachte, Steffi könnte ihn einholen, bevor der Zug abgefahren war.

Und: »Schnell, schnell!« rief ihm der Hausdiener des Hotels entgegen, als er außer Atem aus dem Bahnsteig anlangte. »Gleich fahrt er ab. Wohin?«

»Ich löse die Karte im Zug. Geben Sie her.«

Er entriß dem Diener den Handkoffer. Lief, lief ... wie Steffi gelaufen war. Und mußte doch einhalten, weil der Mann ihm nachschrie:

»Ein Brief – 's isch noch an Brief da ...!«

Und hatte plötzlich zwei Briefe in der Hand.

»Den einen hänt Sie im Nachtkasten vergassen, und der zweit is grad ankommen mit dem Zug – –«

Ein Geldstück flog. Irgendein Abteilgriff gab dem Druck seiner Hand nach – Xaver Sternfeld saß im rollenden Zug.

Der Brief von der Mama! ... Glatt vergessen hatte er ihn. Und der zweite von Papa ... Wenn der Papa schrieb – dann ...

Sein Herz, das vom hastigen Lauf noch hämmerte, schlug plötzlich doppelt schnell und hart gegen seine Brust. Da war doch nix geschehen – da ging doch um Gottes willen alles seinen alten Gang, da ...

Aber da brach ihm auch schon der kalte Schweiß aus allen Poren, und wie gelähmt starrte er auf die zwei Umschläge.

Nicht den Brief der Mama hatte er vergessen – sie selbst – und den Papa dazu. Das Leben der zwei alten Leute hatte er vergessen, das zusammenbrach, wenn er sich von Steffi trennte. Denn wie sollte er an Steffis Seite weiterleben, wenn sie – in dem Augenblick, da ihre ganze Ehe auf dem Spiele stand – mit noch tränennassen Wangen von ihm weglief – um mit der Tutzer von den schmutzigen Geschäften zu reden, die der Grund waren seiner Abkehr von ihr? Die Kraft, das jämmerlichste äußerliche Leben zu zwingen, brachte er wohl noch auf, die Kraft, sich selbst täglich und stündlich mehr zu verachten – nicht. Und darum war es ihm klar geworden in diesem Augenblick, daß die Trennung endgültig und unwiderruflich sein mußte.

Jetzt aber erstanden die Eltern vor ihm. Er hatte sie dem Leben zurückgeschenkt und ihnen des Lebens Überfluß in den Schoß geworfen, und nun sollte er ihnen alles entreißen – mit einem Schlage, sollte sie anschmieden an seine Dürftigkeit, sollte sie aus ihren schönen Stuben, prächtigen Kleidern und weichen Betten reißen, um sie hineinzujagen in ein Dasein der Armut und Entbehrung, sollte sie wie mit Kolbenstößen schmutzige Kellerstufen hinabstoßen, über die sich die Stumpers hinaufgeschwindelt hatten zu Glanz und Licht ...?

Das Rattern des Zuges, die harte Tessiner Sprache der Bergler, die um ihn saßen, verschlangen das laute Stöhnen, das sich seinen Lippen entrang.

»Is Ihna schlecht?« fragte plötzlich eine Frau und bückte sich, um die Briefe aufzuheben, die seiner Hand entglitten waren. Dabei sah sie seinen Titel.

»Sie sind hier in die falsche Klass' eingestiegen ... D' erschte Klass' is weiter vorn.«

»Is schon recht hier ...«

Da kam der Zugführer. »Billett ...«

»Bis Abend ... bis zum Abend will ich fahren.«

»Luzern?«

Xaver Sternfeld antwortete nicht, hielt dem Zugführer nur den Geldschein hin. Er merkte es kaum, daß er eine Karte zweiter Klasse bekam und der Zugführer selbst seinen Koffer nahm. Aber er stand gehorsam auf, als der Mann ihn unter den Ellbogen nahm und ihn in ein leeres Abteil führte.

Wie ein Sack fiel er in der Fensternische nieder. Fast dämmerte der Abend, als er den Mut aufbrachte, einen der Briefe zu öffnen. Es war der vom Papa. Denn es war der zuletzt angekommene.

»Mein Lieber! Wenn ich noch was sagen dürft' – ich würde Dich bei Deinen geehrten Ohrwascheln nehmen und beuteln. Die Mama ist ganz desperat, daß sie auf ihren langen Brief noch bis heute ohne Antwort ist, wo sie doch gebeten hat, Du möchtest telegraphieren. Aber vielleicht bist Du gar nicht mehr in Lugano. Jedenfalls schreib' ich Dir ins Hotel und nicht in Euer verflixtes Chalet, das Euch die schöne Villa gekostet hat. Das Hotel wird Eure Adresse vielleicht wissen und den Brief nachschicken. Selbst nach Lugano zu kommen, wie wir es hofften, daran ist ja gar nicht zu denken. Die lumpigen zwanzigtausend Kronen von dem Mistvieh, dem Dostal, die sind ja schon in Berlin nix, und nun gar in der Schweiz! Der Mama hält' freilich nach der furchtbaren Aufregung mit Wanda und dem Onkel Erasmus ein bissel Erholung gut getan. Und weil wir glaubten, Du verfügtest über genügend Geld, hatte sie Dich gebeten, uns telegraphisch tausend Franken anzuweisen. Wir hätten Euch weiter keine Umstände gemacht und die ganze leidige und geradezu unbegreifliche Geschichte mündlich durchsprechen können, und so, daß Deine Frau nicht mehr und nichts anderes davon hätt' erfahren brauchen, als wir ihr gesagt hätten. Denn gerade für unsereinen ist so ein Vorkommnis furchtbar peinlich und verschiebt unsere ganze Lage den Stumperischen gegenüber. Hätte nie so was von der Wanda geglaubt! In Berlin wird von nix anderem geredet. Da wir nicht helfen können und die Agath' uns selber gebeten hat, abzureisen – der Dostal, der Schuftikus, uns zudem endlich durch einen hiesigen Advokaten hat 5000 Mark auszahlen lassen – gegen Wechsel! (was sagst zu dem Mistvieh?), na da fahren wir zurück nach Baden, und ich will versuchen, die Mama auf gleich zu bringen. Der Doktor, der Hausarzt ist beim Onkel Erasmus, und der, wie ich so annehme, viel übrig gehabt hat für die Wanda, ist ein verständiger Mann. Außerdem ist da noch eine Frau Wittke, die sich der Agathe ebenfalls annimmt. Uns hat der Onkel Erasmus nicht mehr sehen wollen, was ich ihm nicht verdenken kann. So eine dumme, böse G'schichte! Es riecht schon wieder nach Melissengeist – die arme Mama hat gewiß wieder einen Weinkrampf. Wären wir nur schon in Baden! ...

Es grüßt Dich
Dein alter Papa Anton Graf Sternfeld.«

Kein Tropfen Blutes schien mehr in Xaver Sternfelds Gesicht zu sein, als er zum dicken Brief der Mama griff.

Er merkte es nicht, daß das Licht der Lampe aufflammte, daß Reisende ein- und ausstiegen. Nur einmal war ihm, als müßte er sich aus dem ratternden Zug hinausstürzen, und die Vorstellung, daß er dann zerschellt, blutig und hoffentlich tot irgendwo liegen blieb, hatte etwas Wohltuendes, Beruhigendes für ihn.

Ja – das war wohl das beste. Tot sein. Gräfin Steffi Sternfeld würde für ihre Schwiegereltern sorgen und er selbst ausgelöscht sein. – – Nicht mehr als Werkzeug eines blinden, täppischen Schicksals Menschenglück vernichten.

»Sie ... Sie ... Herr ... Sind's gar narrisch? Hänt's zu viel getrunka?«

Eine grobe, tiefe Stimme. Eine harte, große Hand, die die seine vom Türgriff riß.

»No ... no ... Jetzt chomme mir so glei an. Sind's fremd in Luzern? Können bei mir absteige. Gute Betten. Besser als die Schienen draußen.«

Xaver Sternfeld hörte ein Lachen, spürte eine feste Hand um seinen Arm.

»Aber wenn's nit wolle – ich brauch' mir mei Gäscht' nit z'sammenzulese auf der Bahnstreck. Können im National absteige ...

»Nein,« stieß Xaver Sternfeld hervor, »nein ...«

Der fremde Mann hielt ihn fest, stopfte ihm die losen Blätter seiner Briefe in die Manteltasche. Nahm seinen Koffer. Schob ihn sicher durch die aus den Abteilen herauswogende Menge. Hinter der Sperre kam ein Hotelportier, nahm den Koffer in Empfang. Stützte den Taumelnden von der anderen Seite.

»Sind Leut' kommen?«

»Bis auf zwei Zimmer ist alles besetzt, Herr Bächlisberger.«

So, jetzt bin ich krank, dachte Xaver Sternfeld.

»Es sind keine hundert Schritt'. Mir schaffen's no,« sagte der Herr.

»Ich bin kein Athlet,« lallte Xaver Sternfeld.

Und abermals hörte er das Lachen. Es war ihm fremd und doch beruhigend. Er schloß die Augen und ließ sich führen. Dann war es ihm, als flöge er in einem Aeroplan.

»Is noch weit bis Berlin?« Er hörte seine eigene Frage. Dann wußte er nichts mehr.

* * *


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