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Prinzeß Wanda stand am Fenster ihres im ersten Stock gelegenen Zimmers. Der Wind jagte von Zeit zu Zeit einen dichten Schneevorhang gegen die Scheiben. Mit beiden Händen hielt sie den eisigkalten Fensterriegel umschlossen, und ihre klare hohe Stirn drückte sich fest gegen das Glas.

Ob sie die Augen schloß, ob nicht – – – immer wieder sah sie die Bühne im Wintergarten, den von schwarzen Vorhängen gerahmten Raum und in dessen Mitte den hellumstrahlten weißen Körper eines Mannes.

Die Stimme ihres Vaters, der wie einst in seinen besten Zeiten eine »Geschichte« erzählte, hatte zum erstenmal an ihren Nerven gerissen. Sie hatte nicht hingehört auf das, was er sagte, aber was es auch sein mochte – – sie wußte, daß nichts sich in ihm rührte, daß alles tot in ihm war, versteinert. Daß er nur den äußeren Umriß seines Wesens zurückgefunden hatte.

Vor wenigen Monaten noch hatte Professor Wolter vertraulich zu ihr gesprochen: Als Wissenschaftler könnte ihr Vater nicht mehr zählen. Die furchtbaren Jahre, die hinter ihm lägen, hätten seinen Geist wenn auch nicht zerstört, so doch in einer Weise geschwächt, daß er im besten Falle nur Wiederholungen geben könnte. Er sei die strenge unerbittliche Logik der Beweisführung nicht mehr gewöhnt, die ermüdenden Berechnungen, die umständlichen, immer wieder vorzunehmenden Versuche mit den zahllosen, den äußeren Sinnen kaum noch wahrnehmbaren Abweichungen.

Seitdem wußte sie, daß alles Denken, Schaffen des Vaters Selbstbetrug war. Und sie wagte kaum ihn anzusehen, wenn er ihr immer wieder neue Zahlentabellen zuschob, die er sie zu bearbeiten bat, oder sie zu immer neuen, langwierigen Experimenten zuzog, deren Resultate, wie sie im voraus wußte, wertlos waren.

Und keine Woche verging, in der Agathe nicht von ihrer Schreibmaschine aus, auf der sie die kaum noch leserlichen, verworrenen Manuskripte abtippte, leise Wanda herangewinkt hätte:

»Du, was soll dieser Satz?«

Wanda las. Diesen Satz und den nächsten und übernächsten. Das Herz hämmerte ihr gegen die Brust. Sie wendete sich ab.

»Ich will es dir deutlicher aufschreiben.«

Ging an ihren Tisch und schrieb, schrieb, nur um ihr Gesicht nicht sehen zu lassen.

Eines Tages war der Vater dazugekommen, hatte sich über sie gebeugt. Jetzt, dachte sie, jetzt –, er wird fragen, mich zur Rede stellen.

Nichts von alledem geschah. Er las die Worte der Tochter, als wären es die seinen.

»Gut, nicht wahr? Überzeugend?«

»Ja.«

Und er nahm den Bogen, brachte ihn Agathe hinüber, die blaß und müde vor ihrer Maschine sah.

»Verzeih, liebes Kind, die Mühe, die ich dir mache. Aber du arbeitest ja mit an dem Wohlstand, den ich für dich, mehr als für uns, mit Gewißheit erwarte. Mein liebes Kind –«

Behutsam, als fürchte er, sie zu versengen durch die Berührung seiner Hand, strich er ihr dabei über das Haar und ging dann eilig hinaus, übermannt von einer heftigen, unklaren Erregung. Als hätte plötzlich tief in seinem Innern etwas aufgeschrien.

Da war Wanda, die stets beherrschte, kühle, nüchterne, zu Agathe an den Tisch gestürzt, hatte die feinen, kalten Hände in die ihren genommen und geflüstert: »Wir wollen ihn nicht verlassen, Agathe, versprich es.« Und hatte mit Entsetzen gespürt, wie die kleinen Hände reglos in den ihren lagen. Und hätte das schlanke, feine Körperchen rütteln mögen, weil es so starr und steif blieb.

»Fühlst du denn nicht, Agathe, wie unglücklich er ist? Fühlst du's nicht?«

Agathe aber antwortete nur: »Bin ich glücklich?«

»Dann warte!«

Hart, verächtlich rief Wanda es ihr zu. Mochte es ihre Strafe sein zu warten auf das Gold, mit dem der Vater sich und sie narrte. Und bewußt unterstützte sie seinen Selbstbetrug. Baute Zukunftsschlösser auf Grund »unfehlbarer« Voraussetzungen, »untrüglicher« experimenteller Resultate. Betrog sich schließlich selbst beim geringsten Schein einer neuen Möglichkeit, setzte jeden Gedanken, alle Arbeit ein für die Lösung einer Aufgabe, die auf diesem Wege unlösbar bleiben mußte.

Der Besuch der Wiener Verwandten war wie ein feines Läutewerk, das einen nutzlos ratternden und knarrenden Motor zum Stehen gebracht hätte. Und so wenig Verständnis sie hatte für die Art des Wiener Vetters, so fremd ihr die übertünchte Urwüchsigkeit des Wiener Proletariermädels war, das die Gräfin Sternfeld noch nicht verleugnen konnte – den frischen Luftzug, der ihr das Stickige der gewohnten Atmosphäre erst zum Bewußtsein brachte, spürte sie doch.

Und so geschah es, daß der gleichmäßige Erzählerton des Vaters ihre Nerven zum erstenmal in eine fast feindliche Schwingung versetzte, daß der Anblick des vollendet schönen Männerkörpers mit seiner Ausstrahlung einer ungeheuren, gebändigten Kraft eine seltsame Ergriffenheit in ihr auslöste, vielleicht nur aus dem Gegensatz heraus zu der Kraft- und Wesenlosigkeit ihres eigenen Lebens. Da geschah es, daß der frenetische Beifall, der noch keiner Leistung, sondern nur dem Da-Sein eines Menschen galt, etwas aufwühlte in ihr, was ihr fremd, unheimlich, ja beinahe verwerflich schien.

So viele schöne nackte Gestalten hatte sie gesehen auf ihren Reisen, ohne Zimperlichkeit und ohne erotisches Gefallen. Nicht anders betrachtete sie den menschlichen Körper, als sie eine Steinformation betrachtet hätte.

Und heute plötzlich – –

Wie konnte es geschehen, daß Agathe ohnmächtig geworden war, Agathe – – nicht sie – sie, der ein Leben zusammenbrach?

Trotzdem klebte ihr die Zunge am Gaumen, und die Hände, mit denen sie den Riegel umklammert hielt, brannten wie Feuer. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Sie sah Doktor Kürer über den Hof kommen und neben ihm, der nicht klein war, ihn um Haupteslänge überragend, Tom King.

Etwas Zögerndes lag in den Schritten des Amerikaners. Bis Doktor Kürer sich in seinen Arm einhing. Und obwohl die Richtung ihrer Schritte noch ebensogut dem hohen, gußeisernen Tor gelten konnte, so fühlte, wußte sie, die zwei kamen in ihr Haus, zum Vater oder – – zu ihr.

Und als müßte sie um jeden Preis verhindern, daß die Glocke anschlüge, so hastig ging sie die Treppe hinunter, auf Zehenspitzen, damit das Knarren des morschen Holzes den Vater nicht wecke oder Agathe. Dann stand sie in der offenen Tür, und der Wind einte sie mit den zwei Männern draußen in einer aufgewirbelten Schneewolke.

»Verzeihung, Prinzessin, ich komme mit Mister Tom King, dessen Namen Ihnen vielleicht bekannt ist, zu dieser unmöglichen Stunde, weil ein Unfall –«

»Bitte, es steht alles zu Ihrer Verfügung.« Und sie schritt den beiden voran ins Laboratorium.

Taghell ergoß sich das eingeschaltete Licht über den Raum.

»Sie wissen ja, wo Sie alles finden können, Herr Doktor!«

Doktor Kürer hatte seinen Mantel abgeworfen und ging an das Glasschränkchen, in dem der Fürst seine Chemikalien hielt und eine reichhaltige Hausapotheke.

»Es ist da eine verdammt eklige Sache passiert.«

Wanda Hoheneck blickte jetzt erst zu Tom King empor. Er schien ihr sehr bleich unter dem grellen Licht. »Ihnen passiert?«

»Mir? Nein – Miß – – – beg your pardon – – Prinzessin – – Nein, mir passiert nie etwas.«

Der Pelz lag noch um seine Schultern. Er stützte sich mit der Hand auf eine Ecke des langen Mitteltisches mit seiner Unmenge von Röhrchen, Retorten, Holzständern, Spirituslampen und kleinen elektrischen Apparaten. Komisch, wie das aussah bei einem Fürsten! Und das lange blonde Mädchen – eine Prinzessin. Er hatte manches schon gesehen in Deutschland – viele Häuser wie das da drüben bei den Wittke. Aber eine Prinzessin, die aussah wie eine governess oder eine Miß Doktor – –. Und zu der man so mitten in der Nacht kommen konnte, und die einen empfing, angezogen, als wäre es mitten am Tage – –.

»Ich war heute im Wintergarten.« sagte Wanda Hoheneck. Und wußte im nächsten Augenblick nicht, warum sie es gesagt hatte, und stand da, wie erstarrt, unter dem gleichgültig höflichen Blick der großen, ein wenig starren Augen, die halbverdeckt waren von schweren, geschwungenen Lidern.

»Ja, es ist immer ein volles Haus, wenn ich wo bin.«

Der Ton war gelangweilt. Aber dann fiel ihm ein, daß etwas geschehen war. Etwas Unvorhergesehenes, was er später würde erklären müssen, was ihm vielleicht etwas von seinem Nimbus nehmen könnte. Eine Blutwelle stieg ihm in die Schläfen, und er streckte den Arm nach der Wasserflasche aus, die noch halbgefüllt mitten auf dem Tisch stand.

»Wenn Sie erlauben, Miß,« – diesmal verbesserte er sich nicht – »ich bin durstig.«

»Nicht, ich bringe Ihnen frisches Wasser. Nehmen Sie einstweilen Platz.«

»So – – ja – – danke.«

Sie war bereits hinter einer niederen Tapetentür verschwunden. Es war Zeit. Sie hielt sich kaum aufrecht. Als hätte sie die ganze Zeit vor einem Felsen gestanden, der sie jeden Augenblick erdrücken könnte.

Ein Zittern und Beben war in ihr, daß sie sich nur tastend bis zur Wasserleitung schleppte, die in einem kleinen Vorraum angebracht war, von dem aus ein Gang zum Schlafzimmer des Vaters führte. Eine schwer ausgepolsterte Tür wehrte dem oft an Schlaflosigkeit leidenden Fürsten jedes Gespräch ab. Nur das Knarren der Treppe, an deren Aufbau der Bettrand des Fürsten stieß, drang zeitweilig in die absolute Stille des Zimmers, das der Fürst einmal halb im Scherz seinen Sarkophag genannt hatte.

Wanda Hoheneck ließ das eiskalte Wasser über ihre Pulse rieseln und dachte: Wenn der Vater wüßte, wem sie jetzt, mitten in der Nacht, einen Trunk holte?

Er war nie Sportsmann gewesen, der Vater, und hatte eine tiefe Verachtung für jede körperliche Schaustellung. Diese Verachtung hatte auch sie gehabt. Einen körperlichen Widerwillen gegen alles, was sich körperlich feilbot. Und heute – –

Sie ließ das Wasser in die Flasche rinnen und merkte nicht, daß es überlief und ihre Hände rot peitschte.

»So – – ja – – danke,« hatte er gesagt. Aber sich nicht einmal umgesehen nach ihr, als wäre sie dazu da, ihn zu bedienen.

Tom King hatte sich auf einen Stuhl an dem langen Mitteltisch niedergelassen. Seine Finger trommelten ungeduldig auf dem harten, weißgescheuerten Holz.

Was machte der Doktor da für Hokuspokus an dem Schränkchen? Wenn der Mann zu retten war, dann hatte es doch Eile, goddam. Wenn nicht, dann – – –

»Hören Sie, Doktor.«

»Ja!« Doktor Kürer schien sehr eifrig etwas zu suchen.

»Wollen Sie mir bitte endlich sagen, warum ich mit Ihnen hierher sollte?«

»Weil es die einzige Möglichkeit war, Sie vor Verdächtigungen zu schützen.«

»Mich?« Fast hätte er aufgelacht. Zu dumm war das.

»Sie mußten wissen, daß es ein tödlicher Schlag war, daß Sie eine Leiche hielten.

»Eine Ohnmacht, dachte ich.«

»Und dann – – –? Als Sie wußten? Sie kleideten sich an, als wäre nichts geschehen.«

»Was hätte ich tun sollen?«

Doktor Kürer wandte ihm jetzt sein junges, hartgeschnittenes Gesicht zu, mit der Ehrgeizfalte um die schmalen Lippen. »Wußten Sie denn nicht, daß die zwei Boxer im Auftrag von O'Bry hierher gekommen sind? Daß Wittke – unwissentlich, nehme ich an – ihnen Gelegenheit geben sollte, mit Ihnen zu kämpfen, um O'Bry genauen Bericht abstatten zu können?«

»Dummes Zeug – – Die Obduktion muß ja ergeben – –«

»Man wird es gar nicht zur Obduktion kommen lassen, Mister King; denn man hat kein Interesse daran, zu konstatieren, daß der Russe einem Herzschlag erlegen ist, der ihn ebenso auf der Straße hätte treffen können wie im Dampfbad oder beim Reiten. Ich kannte seinen Körper wie meine Hand. Quartalssäufer. O'Bry hat sein Leben mit fünfzigtausend Mark zugunsten seiner Angehörigen versichert. Vielleicht war es ein Selbstmord. Aber das Opfer sollten Sie sein.«

Tom King faßte nach einem Glasrohr, das er umklammerte. Es gab nach wie gesponnener Zucker. »Wenn ich den O'Bry halte – – – wenn ich ihn erst halte – –«

Doktor Kürer gab ihm einen Schlag auf den Arm. »Na, na, was machen Sie da?«

Wanda Hoheneck kam herein, mit der gefüllten Flasche und einem Glas. Sie sah Splitter auf dem Tisch, Blut und eine hellgelbe Flüssigkeit, die in rötlich gefärbtem Streifen über den Tischrand sickerte und einen scharfen Geruch verbreitete.

Sie fühlte, wie ihr Herzschlag aussetzte. Aber sie schrie nicht auf. Nur die Karaffe stellte sie hastig ab und riß ein Fläschchen aus dem Schrank.

»Es ist nicht – nichts. Aber um Blutvergiftung zu verhindern, muß ich Ihre Hand, Mister King –. Es wird brennen. Zähne zusammenbeißen. In der Lade rechts – – da liegt Verbandzeug. Wir haben immer so etwas da, – man weiß ja nie – – Bitte, Herr Doktor.«

Sie kniete vor Tom King, beugte ihr Gesicht über die von Glasscherben zerrissene Innenfläche seiner großen Hand, trocknete mit ihrem Taschentuch die blutenden Risse.

»Es wird sehr brennen – – sehr – – bitte, ruhig halten – – – bitte.« Und mit starren Augen ließ sie vom Inhalt des Fläschchens Tropfen auf Tropfen herabträufeln. »Bitte ruhig,« wiederholte sie, »bitte ruhig.«

Sie sprach in zärtlichen, zitternden Tönen, die maßlose Angst verrieten.

»Ja – well – warum sollte ich nicht ruhig sein?«

Doktor Kürer, ein Verbandröllchen in der Hand, nahm das Fläschchen, las die Aufschrift. »Hm, Sie mußten doch ein Gefühl haben, Mister King, als ob man mit weißglühenden Nadeln – – Ja, Mann, spüren Sie denn nichts?«

Und Wanda wiederholte, gedehnt, ungläubig, mit leisem Grauen fast: »Spüren Sie denn nichts?«

Sie kniete noch immer. Merkte es nicht. Über ihrem blonden, schlicht zurückgestrichenen Haar verband Doktor Kürer die Hand.

»Ein leises Prickeln, nicht der Rede wert.«

Wanda Hoheneck stand auf. »Sie wollten trinken,« sagte sie und goß vom Wasser in ein Glas, »oder nein, warten Sie – – ich bringe Kognak.«

»Nicht – – – ich trinke keinen Alkohol.«

»Auch nicht, wenn Sie krank sind?«

»Ich bin nie krank.«

»Und haben nie Schmerzen gespürt?«

»Schmerzen? Ich habe davon gehört. Gespürt – – – nein.«

Mit einer raschen Bewegung kippte Doktor Kürer ihm den Kopf zurück, hob seine Augenlider.

Kaum ein paar Sekunden währte es.

Mit der unverbundenen Hand schob Tom King ihn beiseite. »Lassen Sie das, Doktor, ich bin immun gegen Gift. Um das zu erklären, hat man mir ein nettes Histörchen zurechtgezimmert. Als achtjähriges Kind soll ich von zwei Schlangen gleichzeitig gebissen worden sein und wurde von dem Erwürgtwerden nur dadurch gerettet, daß die zwei Bestien mich im Kampf um meinen Besitz einfach vergaßen. Eine Frau fand mich, eine Indianerin. Sie war Schlangenbeschwörerin und gab Vorstellungen mit der Truppe meines Vaters. Ich soll achtundvierzig Stunden im Starrkrampf gelegen haben und – – – wie es heißt, nur durch die Zaubersprüche der Frau ins Leben zurückgerufen worden sein. Es waren wohl besondere Kräuter, deren Aufguß sie mir eingeflößt hat. Jedenfalls bin ich seitdem unempfindlich für Schlangenbisse und Gifte in kleinen Mengen. Aber ich denke, wir müssen jetzt gehen, Doktor.«

Er stand auf.

Das Rattern eines Motors drang vom Hof herein.

Doktor Kürer ging mit raschen Schritten auf den Lichtschalter zu. »Gestatten Sie, daß ich hier auslösche?«

»Bitte,« sagte Wanda Hoheneck.

Alles, was geschah, was sie erlebte, erschien ihr ganz unwirklich. Am unwirklichsten, daß der Mann, dem all ihr Denken gegolten, in demselben Raum mit ihr stand, daß sie seine Stimme hörte, daß sie seine Hand eben noch in der ihren gehalten. Und sie hätte schreien mögen vor Angst, als die Dunkelheit über den lichten Raum herfiel.

Sie hörte das leise Klirren der Vorhangringe, die Doktor Kürer auseinanderzog.

»Da, sehen Sie, Mister King.«

Der Schneefall hatte aufgehört. Hart starrte die Mondsichel in ihrem dritten Viertel auf den Hof.

»Was machen denn die?« Es war Tom Kings Stimme, die es fragte, und seine verbundene Hand, mit der er den Arzt zur Seite schob, bildete einen weißen Fleck im Dunkel.

»Sie tragen jetzt den Russen in Mantel und Hut zum Auto und bringen ihn in ein Hotelzimmer. Dort mag er dann – gestorben sein. Wenn sie wüßten, daß Sie mit der Hand ohnedies kampfunfähig sind, sie würden sich nicht so viel Mühe geben.«

»Kampfunfähig – ich?« Ganz lautlos lachte Tom King. »Wenn ich den erst halte ... wenn ich ihn halte –!«

Mit hartem Geknatter ratterte der Wagen über den Hof. Im selben Augenblick zog Doktor Kürer den Vorhang wieder zu und schaltete das Licht ein.

»So, Mister King, ich denke, ich gehe jetzt hinüber. Warten Sie zehn Minuten, wenn die Prinzessin es gestattet, und gehen Sie dann ins Hotel. Es ist nicht nötig, daß Sie noch mit einem der Herren drüben zusammenkommen. Ihr Phlegma ist gefährlich.«

Tom King antwortete nicht. Nur ein halbes Lächeln lag wie erstarrt um seinen Mund. » Well, wenn Sie glauben ... aber ich sehe nicht ein –«

»Sie nicht. Aber wir. Sie gehören sich nicht. Wenn Sie eine Dummheit machen, ruinieren Sie ein paar hundert Leute.«

Tom King zuckte geringschätzig die Achseln.

Draußen sagte Doktor Kürer: »Sie brauchen nicht mit ihm allein zu bleiben, Prinzessin. Er ist stubenrein und läßt nichts mitgehen. In zehn Minuten ist er draußen.«

»Haben Sie ihn hypnotisiert?«

»Das würde mir kaum gelingen. Aber es leuchtet ihm ein, daß er eine gewisse Verantwortung trägt.«

Er streckte ihr, Abschied nehmend, die Hand hin. Spürte plötzlich ein eigentümliches Beben der schlanken Finger. »Oder soll ich ihn doch mitnehmen? Befehlen Sie.«

»Nein, nein, lassen Sie ihn nur.«

»Sie sind gewiß die einzige Dame Ihres Kreises, der ich so etwas zumuten darf. Aber ich habe Ihr Buch gelesen: ›Sechs Monate unter Steinen‹ – Sie sind keine Frau wie andere. Wäre ich nicht ein simpler Berliner Doktor, der nichts zu bieten hat als eine noch kümmerliche Praxis – ein Mensch, der sein Geld außerhalb seines Berufes zusammenkratzt –«

Er brach ab, und der helle Schein, der für einen kurzen Augenblick über seinen harten Zügen gelegen, schwand. »Nehmen Sie an, ich hätte nichts gesagt. Es ist ja auch Unsinn.«

Flüchtig beugte er sich über ihre Hand, verließ das Zimmer, schlug, ehe sie es verhindern konnte, die Flurtür selbst hinter sich zu. Da fühlte sie, wie ihr das Herz bis in den Hals hinauf zu klopfen anfing. Wenn jemand erwacht wäre, wenn – –

Totenblaß kehrte sie ins Laboratorium zurück.

Tom King hatte seinen Pelz angezogen, stand mitten im Raum, beide Hände in den Taschen. Unheimlich groß und breit stand er vor ihr – einem Berge gleich, so unverrückbar.

»Es wird Ihnen zu warm werden im Pelz,« sagte sie und wußte nicht, warum sie es sagte.

»Ich gehe ja gleich.«

Er antwortete, fast ohne sie anzusehen, mit der unbeabsichtigten Ruppigkeit eines fletzigen Jungen. In ihr aber flammte plötzlich ein brennender Wunsch auf: mehr, alles von ihm zu wissen. Von seinem Leben, seinem Sein. Sich ihm nahezufühlen, verbunden zu sein mit ihm durch die Gemeinsamkeit einer gleichen Vorstellung. Und sie fragte – ungewandt, täppisch beinahe: »Sie sind doch nicht geborener Amerikaner, Mister King?«

Er schüttelte den Kopf. Und weil er nicht recht begreifen konnte, was dieses feine und streng aussehende Fräulein veranlaßte zu fragen: »Lesen Sie denn keine Zeitungen, Miß?«

»Wenig.«

»Sie haben recht. Humbug. Alles ist Humbug. Auch was über mich steht. Ich habe mal irgendwo ein deutsches Märchen gelesen von einem Schneider, der sieben Fliegen totschlägt und, weil er ruft: ›Sieben auf einen Schlag!‹ die Leute glauben läßt, er hätte sieben Menschen totgeschlagen. Das ist – Zeitung, Humbug.«

Wieder lag das seltsame, starre Lächeln um seinen Mund.

»Aber Sie brauchen doch die Zeitung?«

»Man braucht nicht alles, was man gebraucht.«

Er sprach langsam, aber mehr weil seine Gedanken anderswo waren, als weil die Ausdrucksform ihm Mühe machte.

»Dem Gefühl nach sind Sie Deutscher?«

»Ich bin amerikanischer Bürger, weil wir unser Land dort haben und weil es bequem ist. Aber Gefühl? ... Was hat das damit zu tun?«

Er gab sich nicht Mühe, das Staunen, das aus ihren Augen trat, durch eine Erläuterung aufzulösen. Überhaupt langweilte ihn diese Ausfragerei.

»Ich denke, es wird Zeit,« sagte er und zog die Rechte aus der Tasche. Dabei erblickte er den Verband. »Ich glaube, davon habe ich genug.«

Sie fuhr erschreckt zusammen, da sie sah, wie er die Gaze abriß.

» All right ... da sehen Sie.«

Und er hielt ihr die Hand hin, auf deren Innenfläche kaum noch einige rosa Streifen zu sehen waren. Ihr war es wie ein Wunder. Behutsam legte sie ihre schlanken Finger um sein breites Gelenk. Und sie spürte den vollen, ruhigen Pulsschlag seines Lebens. Sie mußte an die Frau denken, die ihn geboren hatte.

»Lebt Ihre Mutter?«

Er zuckte die Achseln.

»Möglich. Sie soll eine gesunde Frau gewesen sein. Ich habe sie nicht gesehen, seit ich ein kleines Kind war. Doch – ja – auf einem Bild. Da habe ich ihr geschrieben. Vielleicht nur, weil ich es ausprobieren wollte, wie das ist, wenn man schreibt: ›Liebe Mutter ...‹ Aber als ich es meinem Vater erzählte, schlug er mir die Reitpeitsche um die Ohren. Ich glaube, mein Vater hat recht gehabt.«

»Sie wissen nicht, ob Ihre Mutter Ihren Brief erhalten hat?«

»Darüber habe ich mir nur in den ersten sechs Monaten den Kopf zerbrochen. Und da –«

Lautloses Lachen bewegte seine breiten Schultern.

» Well. Da habe ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben Angst gehabt.«

»Angst?«

»Daß sie kommen könnte!«

»So sehr hassen Sie Ihre Mutter?«

»O nein. Warum hassen?«

»Sie hängen aber mehr an Ihrem Vater?«

Es wurde ihr bewußt, daß sie ihn ausfragte wie eine Köchin. Aber sie konnte nicht zurück.

»Mein Vater ...«

Ein kurzes Lächeln huschte über Tom Kings Züge. Vor der konnte sich der dreisteste Interviewer verstecken.

»Mein Vater ist ein good old fellow! Hat mich geprügelt wie ein Beefsteak, wenn ich Dummheiten machte. Hat in schlechten Zeiten wochenlang von Wasser und Brot gelebt, damit ich Schinken und Eier zu essen hatte.«

»Und Sie aßen?«

»Zweimal habe ich mich geweigert; aber weil er mich dann prügelte, habe ich gegessen.«

Sie wurde dunkelrot. »So haben Sie doch Schmerzen gespürt?«

»Kaum. Aber er schwitzte so gräßlich dabei, und sein Schweiß tropfte auf meinen Rücken. Das war mir unangenehm. So habe ich geschrien. Damit Leute kamen. Bis einmal die Polizei sich einmischte. Das war sehr komisch. Mein Vater ist dann Hals über Kopf mit mir davon. Vor Prügeln hatte ich Ruh. Mal ein Schlag und so in aller Freundschaft. Und dann bin ich auch bald stärker geworden als mein Vater. Mit fünfzehn Jahren habe ich mal unser ganzes Zirkuszelt mit allen Stangen auf den Schultern fortgeschleppt. Das sprach sich herum. Jeder wollte das sehen. Wir machten einen Trick daraus. Am Schluß der Vorstellung habe ich dann jedesmal dem Publikum das Dach über die Köpfe hinweggehoben wie eine Käseglocke, ohne auch nur einer Dame die Spitze ihrer Hutfeder zu verbiegen. Dann zog ich die Stangen aus dem Boden wie Streichhölzer. Damit haben wir unser erstes großes Geld gemacht. Und dann kauften wir Land. Und jedesmal und immer mehr Land. Wenn wir erst so viel haben, daß es sich lohnt, unsere eigene Eisenbahn zu bauen, dann wollen wir so eine Art kleinen Separatstaat gründen.«

Tom King hatte sich, ohne es selbst zu merken, hingesetzt und beachtete es auch nicht, daß Wanda Hoheneck regungslos vor ihm stand. Vielleicht sah er sie gar nicht. Wie ein schwerer Stein, der ins Rollen kommt, so wälzten sich ihm nach den ersten Sätzen die Worte immer rascher und lauter von den Lippen.

»Ein kleines Königreich also, dessen König Sie sind?«

»König oder Gutsherr – was will der Name sagen? Bis jetzt war immer erst der Name da. Dann kam das andere. Namen sollen Nummern sein. Zur Unterscheidung. An sich haben sie doch keinen Wert.«

Abermals spannte der gelangweilte Ausdruck seine Züge, und er stand auf. »Ich will jetzt gehen.«

Er sagte es weder bestimmter noch lauter als alles übrige. Aber Wanda fühlte: Gegen dieses »Ich will« kam nichts auf. Dennoch murmelte sie: »Ich hätte so gerne mehr von Ihnen gehört.«

»Ich weiß Ihnen nicht mehr zu sagen.« Und schon schritt er langsam an ihr vorbei.

»Ist hier der Ausgang?«

»Einen Augenblick, bitte, ich führe Sie.«

Ihr Tuch flatterte auf, da sie es um ihre Schultern schlug. Sie öffnete die Haustür, trat mit ihm auf die Treppe, ging weiter an seiner Seite über den stillen, jetzt dunklen Hof, auf dem kurze Windstöße den lockeren Schnee durcheinanderwirbelten.

»Warum gehen Sie mit?«

Es war die erste Frage, die von ihm zu ihr kam. Ungeduld lag in ihr, eine ärgerliche Verwunderung. Was hing sie sich an ihn wie eine Klette mit ihren Fragen?

»Man sagte mir, daß Sie eine hohe Adlige sind – der Doktor nannte Sie Prinzessin. Haben Sie keine Diener? Müssen Sie selbst das Kutschertor aufschließen?«

Er konnte nicht sehen, wie bleich sie wurde bei der Demütigung, die diese Worte enthielten. Vielleicht erwartete er nicht mal eine Antwort. Sie sagte:

»Seit meinem sechzehnten Jahre, Mister King, habe ich mich wissenschaftlich betätigt, habe jahrelang geforscht und es mich nicht verdrießen lassen, Unbegriffenem immer und immer wieder nachzuspüren, um es zu enträtseln. Vielleicht geht es mir heute so mit Ihnen.«

Er lachte kurz auf.

»Bei mir gibt's nichts zu forschen. Ich bin kein Rätsel. In mir sind keine Geheimnisse. Ich habe aber schon erfahren, daß man der Einfachheit nicht glaubt und mit ihr nichts anzufangen weiß. Nun, so will ich Ihnen den Gefallen tun, Miß, und Ihre paar Fragen, die Sie noch auf dem Herzen haben, so gut ich kann, beantworten. Go on

Aber er hielt dabei in seinem Schreiten nicht ein, das langsam und schwer war und doch wie abgewandt von der Wirklichkeit, als wäre es eine von seinem Willen unabhängige, mechanische Funktion, die durch keine Einwirkung von außen beeinflußt werden konnte.

Sie gingen jetzt am Tiergartensaum. Von Zeit zu Zeit fiel der Schein einer Laterne erhellend auf ihren dunklen Weg. Einmal glitt Wanda aus, in all der weißen Schlüpfrigkeit des Bodens. Er bemerkte es nicht, suchte seine Worte zusammen, um dem fremden Fräulein einen Begriff zu geben von dem Leben, das er geführt und das ihr so fremd sein mußte wie nicht bald ein anderes.

Jahrmarktseiltänzer, Schaubudenbesitzerssohn. Immer nur eine Reihe staunender Augen vor sich, im Ohr prasselnden Applaus. Die Tage im Dunkel wie ein Maulwurf – abends künstliche Sonnen, in deren Glanz sein bunter Paillettenpanzer aufsprühte. Bis ein Mann ihm den billigen Flitter von den Gliedern riß. Ihn selbst aber schamlos nannte und unzüchtig. weil er den stolzen Bau seines Körpers verhüllte, um ihn gleich einer Dirne nur um so verlockender erscheinen zu lassen. Ein kleiner verkrüppelter, buckliger Kerl war es, der herausgemußt hatte aus der wohlgeschichteten Welt Europas, die keine unnennbaren Abweichungen von dem zuließ, was Paragraphen als »normal« bezeichneten. Einer der widrig schien, wenn er das Wort »Liebe« und lächerlich, wenn er das Wort »Schönheit« nannte. Einer der kaum Gebrauch zu machen vermochte von seinen schwachen, krummen Beinen und dessen Geist Welten und Jahrhunderte durchwanderte. Einer, bei dessen Weinen die Menschen lachen mußten, und an dessen Schmerzen sie den gleichen Spaß hatten wie Gassenjungen an dem Geheul eines Hundes.

»Mein Vater nahm ihn aus Mitleid in seinem Wanderzirkus auf. Als Clown. Als dummen August, wie Sie ihn hier ja auch in jedem Zirkus haben. Er schlief das erste Vierteljahr bei den dressierten Kötern, weil wir keinen Platz frei hatten im Wagen, und fraß mit ihnen – lange Zeit, ohne daß wir es wußten – aus einer Schüssel. Von dem Gelde aber, das mein Vater ihm zahlte, kaufte er – Bücher. Und es war feste Bedingung gewesen – die einzige Bedingung, die er gestellt hatte –, daß wir seine große und immer größer werdende Bücherkiste überallhin mitschleppten. Abends diente sie, von Teppichen überdeckt, als Sprungbrett für unsere Seiltänzer. Und weil sie große Lasten ertrug, behielt mein Vater ihren Besitzer.«

»Wie hieß dieser Mann?«

»Er nannte sich Michael, Mikels oder Michel – je nachdem, durch welche Kolonien des nördlichen oder südlichen Amerika wir gerade kamen. Er beherrschte Deutsch, Englisch und Französisch gleich gut. Er war Deutscher von Geburt, und bei ihm lernte ich alles, was ich weiß. Es ist nicht viel, denn unser Wanderleben gab wenig Zeit her. Aber es ist genügend, um vieles zu verstehen von dem, was den Wissenden bekannt ist. Und viel mehr, als nötig wäre für meinen Beruf.«

»Ist dieser Michael mit Ihnen hier?«

Tom King schüttelte den Kopf. Er ging jetzt schneller und merkte es nicht, daß sie kaum nachkam, daß ihre Brust sich keuchend hob und senkte unter dem Luch, das sie fest gekreuzt hielt, um dem eisigen Wind zu wehren, der sich in ihm verfing.

»Ist er drüben geblieben, wo Ihre Länder sind?«

Eine Baumgruppe trennte sie, ein wirbelnder Schneeschleier. Der Wind warf ihre Stimme in andere Richtung – sie blieb ohne Antwort. Und als sie die Augen wieder auftun konnte – starrte sie ins Dunkel, das undurchdringlich alles in sich aufgesogen hatte.

Da fühlte sie trotz der Kälte einen glühenden Streifen auf ihrer Stirn gleich einem Brandmal. Und dann löste sich plötzlich ein dumpfer Aufschrei von ihren Lippen, und sie lief wie gejagt den Weg zurück.

Die Haustür ...!

Sie hatte sie nur angelehnt.

* * *


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