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Ob wir uns die letzten Nummern schenken?...«

Mit der ihm angeborenen Höflichkeit hatte Fürst Erasmus Hohen-Steineck – er nannte sich mit dem alten Namen seines Geschlechtes jetzt Fürst Hoheneck – das lange Programm des Wintergartens über sich ergehen lassen. Aber schließlich erlahmte seine Geduld.

Seine Tochter Wanda, aus erster Ehe, in fast klösterlich einfacher Tracht, die Haare glatt zurückgestrichen, den hageren Oberkörper steif aufgerichtet, streifte die Stiefmutter mit einem kurzen Blick.

Agathe richtete sich nun ihrerseits auf aus der lässigen, fast müden Haltung, die sie einzunehmen pflegte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

»Ja, wenn ihr meint ...«

Aber da war das junge Ehepaar aus Wien, um dessentwillen man die Expedition unternommen hatte. Xaver Sternfeld, ein Neffe des Fürsten, mit seiner jungen Frau, die wohl aus nicht ganz einwandfreien Kreisen stammte, nach der Größe ihrer lupenreinen Brillanten zu schließen, die sie verschwenderisch über ihren Körper verteilt hatte. Der junge Ehemann schloß immer beschämt die Augen bei einem besonders frechen Aufsprühen der Steine. Er fand es entschieden taktlos, wie so ein indischer Nabob bei den armen, vornehmen Verwandten zu erscheinen; aber die Steffi ließ sich halt nix sagen.

»Für was haben wir's denn? ...«

Und obwohl die Revolution aufgeräumt hatte mit den Titeln – die Grafenkrone in Brillanten, Goldfiligran, Seide und Malerei fand sich auf allem vor, was mit Steffis molliger, beweglicher Körperlichkeit zusammenhing.

»Geh, plausch net! Von mir aus sollen's mich in ihren stinketen Polizeistuben einfach Stefanie Sternfeld nennen – für die Welt bin ich Gräfin Sternfeld. Ah, das wär' ja noch schöner ...! Was ich mir kaufen tu, das g'hört mir. Jetzt mach' keine dummen Augen, Xaverl, und sei froh, daß du a g'scheite Frau hast.«

Daß sie darauf bestanden hatte, den fürstlichen Onkel und die Prinzeß Kusin' kennenzulernen ... darüber wäre fast die Heirat gescheitert.

Hatte denn Steffi, die geborene Stumper, eine blasse Idee, was das war – der Fürst Erasmus von und zu Hohen-Steineck oder Hoheneck? Das war ein verwehtes Jahrhundert und ein Jahrhunderte alter Klang. Das war der eingesargte Duft eines leeren Fläschchens von köstlichem Schliff. Das war Tradition – ein nebelhafter Begriff von etwas unerreichbar Hohem, Vornehmem, über der Bedrängnis der Welt Stehendem ...

Xaver Sternfeld mußte daran denken, wie er, neun Jahre alt, mit seinen Eltern dem Onkel Erasmus in seinem Dresdner Palais seine erste Aufwartung machte. Damals lebte noch die erste Frau des Onkels – eine kühle, blonde Dame mit glatt zurückgestrichenem Haar und kurzsichtigen grauen Augen.

Die Tante las Latein wie die Mama ihr Andachtsbuch. Der kleine Xaver schüttelte sich vor Entsetzen. Aber die Tante nahm ihn bei der Hand und führte ihn in einen großen Saal mit riesigen Glasschränken, die alle angefüllt waren mit Steinen aller Art und Formen. Auf den langen Tischen lagen allerlei Werkzeuge, Hämmer, Zangen, standen Glasröhren, mit buntschillernden Flüssigkeiten darin – aufgeschlagene Bücher lagen herum, von oben bis unten mit Zahlen angefüllt.

Ihm knurrte schon der Magen, aber aus Angst traute er sich nicht zu mucksen, bis dann so ein riesengroßer Lakai erschien und murmelte:

»Bitte, Durchlaucht, zum Tee ...«

Dann, bei der »Jausen«, hatte der Onkel Erasmus zu erzählen begonnen. Von seinen Reisen im Kaukasus, in der Krim, in Kleinasien ... von den Trachten und Gewohnheiten der fremden Völker und zuletzt und leider am längsten von den seltsamen Berg- und Erdformationen ...

Die Lakaien brachten Steine – ganz kleine, in viereckigen Glaskästen und noch kleinere in hölzernen Schalen. Schleppten große, prächtig gebundene Bücher an mit Bildern, die wilde, zerklüftete Landschaften zeigten, und Felsstücke, die wie von einer Riesenhand durcheinander geworfen schienen.

Und dann sagte Onkel Erasmus:

»Hier habe ich einen ganz besonders schönen Ammoniten gefunden. Zeig' mal, Gustava, Hesekiel II ...«

Und Tante Gustava holte mit ihren langen schlanken Fingern, ohne auch nur zu suchen, Hesekiel II. aus dem Glaskasten 5 a.

»Sapperment – wann ich mich in meinen Krawatteln so auskennen tät' wie die Gustava in ihren Steinderln,« seufzte damals Xavers Papa.

Aber dann gähnte er bald heimlich, und auch die Mama gähnte durch die Nase, und sie sagten, sie müßten noch viele Visiten machen – bei der Baronin Rockwitz und der Prinzessin Wreden und der Gräfin Blum, und morgen hätten sie sogar Audienz beim Erzbischof. Und es klang alles nach hastiger Entschuldigung eingesperrter Kinder, die es nicht erwarten können, auszukneifen. Es gab aber doch noch einen Aufenthalt, weil die Prinzeß Wanda hereingerufen wurde, die Wiener Verwandten zu begrüßen.

Kusine Wanda war gerade in dem wenig erfreulichen Alter eines vierzehnjährigen Backfisches. Sie hatte das strenge, blonde Gesicht der Mutter und deren hagere, gestraffte Glieder. »Wir bilden Wanda zur Assistentin meines Mannes aus,« sagte Tante Gustava ohne Lächeln, mit der harten Selbstverständlichkeit, die ihr in allem eigen war und schon auf die Tochter übergegangen zu sein schien. Denn nach einigen kurzen Sätzen zog Wanda eine kleine goldene Uhr aus dem Gürtel ihrer hellblauen Flanellbluse und sagte:

»Ich muß jetzt gehen. Ich habe gleich Trigonometriestunde.«

»Brav, brav,« lobte der Papa, »das sind so Sacherln. Das will alles g'lernt sein. Ja, ja ... heutzutag'. Da wird wissenschaftlich gekocht, und die Gartenerdbeeren werden mathematisch eingepflanzt ... Wir sind doch alleweil rückständig in Wien ... Na, Servus, Wanderl ...«

Aber vor dem ernsten, vornehmen Vetter Erasmus hatte der Papa sich doch tiefer verneigt als je vor einem der großen Wiener Herren.

Herr Gott, ja ...

Draußen freilich, da wurde aufgeschnauft, und die Mama erklärte, daß die Kapuzinergruft ein Wurschtelprater wäre gegen das Palais Hohen-Steineck in Dresden.

»Da g'friert mer ja bei lebendiger Seel' ...«

Die Sternfeldschen hatten heißes Blut, das nichts Halbes vertrug. Da mußte immer geheizt werden. Bälle, Opern, Redouten im Winter. Im April Abbazia. Dann das alte Schloß in Hütteldorf. Im Herbst Jagden oben auf dem Semmering. Und der Xaver Offizier. Na – was denn? ... Freunderln, Schampus, Logen in den Theatern – Weiberln – o ein fescher Bub – der fand schon nachher, wer ihm sein Leben weiter zahlte, wie er's gewöhnt war.

Wenn's ans Zahlen ging – hatten die Sternfelder freilich immer ein bissel Katzenjammer, und das Bild des deutschen fürstlichen Vetters leuchtete hell auf.

Wie sie lebten – das war kein Leben. Nichtswürdige Lumperei war's eigentlich. Der Bub verdiente, an den Ohren g'rissen zu werden. So ein Fallot, elendiger. Die schönsten Bilder aus dem Hütteldorfer Schloß mußten verkauft werden, um eine dumme, noch dazu platonische Ronacher-Liaison zum anständigen Abschluß zu bringen. Der Papa – Himmelsapperment noch amal – nit für an Heller Vertrauen hatte er mehr zu dem Buben, dem verflixten.

Ins »freche Dirnengesicht« wollte er der Person die Tausender schmeißen. Eigenhändig. Mama nickte und band ihm selbst die solide schwarz-seidene Krawatte. Aufgebunden hatte sie dann – die andere. Und nicht nur einmal.

Und furchtbares Geld hatte das gekostet. Das Schloß wurde auf Abbruch verkauft.

Der arme Papa verlor alle vier Himmelsrichtungen. Xaver aber, der damals in Klagenfurt stand, wurde es bang und immer bänglicher, als seine tollen Rechnungen und Wechsel ohne ein Wort des Vorwurfs beglichen wurden. Entweder hatte der Papa in der großen Lotterie gewonnen oder – –

So fuhr denn Xaver eines Tags nach Wien, mit einem Urlaubschein in der Tasche. Ehe er diese Ungewißheit ertrug und das Ahnen furchtbarer Katastrophen – lieber warf er sich gleich dem Ungeheuer in den geöffneten Rachen und verkaufte sein Leben – so teuer wie möglich.

Wenn die Decke des ehemaligen Schlosses auf Papa herabgestürzt wäre – so hätte sein Schreck nicht größer sein können als der beim Anblick seines schlanken, auffallend hübschen und nichts weniger als robusten Xaver.

Vater und Sohn starrten einander an, die Gesichter bleich und verzerrt. Der Papa faßte sich zuerst.

»Red' leise, wann du was zu sagen hast. Die Mama braucht nit alles zu wissen, was Männer unter sich ins Klare bringen ...«

Xaver fühlte, daß die Rollen vertauscht waren, und da er für jeden Fall Nachsicht zu üben entschlossen war, sagte er: »Geh, Papatscherl, wo druckt's?«

Na, es war jedenfalls gut, daß er in Zivil gekommen war. Es wär' dem Xaver leid gewesen, wann er den Papa in seiner Wut mehrfach hätte an die Rücksicht erinnern müssen, die seiner Uniform gehörte. Es war nicht schön, was er zu hören bekam, und nicht erfreulich, was die Zukunft ihm bot. Der alte Herr hatte total den Kopf verloren, war ganz in den Händen dieser abenteuerlichen und gewissenlosen Ronacherperson.

»Also, Papatscherl – wann's weiter nix ist – vor dem Frauenzimmer sollst Ruh' hab'n ... die schaff ich dir ...«

Der Papa schrie ihn an. Er würde doch nicht selbst gehen. So ein Milchbart. Wollte er am Ende nochmal zwischen die Pranken der Person kommen?

Da lachte Xaver. »Das erste Mal habe ich den Offiziersdegen mitgenommen. Diesmal nehme ich die Reitpeitsche.«

»Aber nit ins Gesicht,« schluchzte der Papa. Er wurde kindisch.

Als der Xaver die Tür aufmachen wollte, gab's einen Widerstand, und als er sie aufdrückte, lag da die Mama ohnmächtig auf dem Fußboden.

Der Papa murmelte schuldbewußt: »Was wird's sagen, Xaverl, wann's erwacht? ... Was wird's sagen?«

Aber die Mama ersann noch eine ärgere Strafe als hageldichte Vorwürfe. Sie schwieg. Schwieg beharrlich und nahm die Falten ihres Kleides zusammen, um den Papa nicht zu streifen.

Die Mariann' meldete das Nachtmahl an. Diener gab es nicht mehr in dem gräflichen Hause, und die ehemalige Kammerzofe, die zeitweilig an Rheuma litt und nicht mehr eine andere Stelle einnehmen konnte, hatte sich zum Stubenmädchen degradieren lassen.

»Mein Sohn kommt wohl nimmer. Sie können sein Gedeck abnehmen, Mariann' ...«

Ein giftiger Pfeil für den Papa. Er hätte aufheulen können. Wenn »die Person« den Buben in ihrem rosenroten Teekleid mit dem Hermelinkragen empfangen hatte – – dann war er verloren ... aufs neue verloren. Und dann hatte – die Person – eine Art ihre Perlenkette zu schließen, nur halb ... daß sie früher oder später in den tiefen Ausschnitt ihres Teekleides fallen mußte. Dann gab's Schulterbewegungen, die einen verrückt machen konnten, und ein Lüpfen der Spitze auf dem klassisch schönen Busen, und ein gurgelndes Lachen, das ihn jedesmal um das letzte Restel seines Verstandes gebracht hatte, ein Lachen, dem die größten Meister italienischer Malerei, ein Familienschloß, ein alter Park, eine Louis Quinze-Einrichtung und zuletzt noch, von allem das Geliebteste, das Jagdhäusel am Semmering zum Opfer gefallen waren.

Das Jagdhäusel, in dem er mit der Mama die Flitterwochen, die ersten und alle die nachfolgenden, verbracht hatte. Denn so ein verliebtes Paar wie sie beide hatte ganz Wien nit gesehen ... Und ...

Der Papa schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr klirrte und die Mama etwas von wild entfesseltem Temperament murmelte.

Himmel Herrgott noch einmal! Wie hübsch die Mama noch war – – Wenn sie so ironisch lächelte ... Wie jung trotz ihrer grauen Haare ... War er denn mit Blindheit geschlagen gewesen, all die Monate? Wahnsinnig? Fürs Irrenhaus reif?

»Unser Häusel,« murmelte er mit erstickter Stimme, »wann wir unser Häusel ... Spuck' mich an ... hau' mir ins Gesicht ... ich bin's nicht wert anders ...«

»Geh' red' nicht ... geh' ... Wenn nur unser Häusel ...«

Es war neun, als Xaver ankam. Ramponiert sah er aus. Ekel im Gesicht und Triumph in den Augen. Wie er die Eltern erblickte, griff er in die Brusttasche. »Da habt ihr euer Häusel wieder!«

Er warf eine Schenkungsurkunde auf den Tisch.

Ein zweiter Griff. »Und hier die Perlkette von der Mama.«

Die Mama schrie auf. Das war also das Versatzamt? Aber der Papa küßte ihren Ärmel, ihre Knie. Wann einer eine Million Schulden bekennt, kommt's da noch auf tausend Kronen an?

Ja immerhin – was ihr am teuersten war – Perlkette und Semmeringhäusel ... sie hatte sie wieder.

»Hat sie freiwillig, du ... Xaverl! ... freiwillig?« fragte leise der Papa.

Xaver antwortete nicht. Nur der Ekel grub sich tiefer ein um die Mundwinkel. Aber in seiner Stimme klang Mitleid durch, als er sagte:

»Wie's gewesen ist, davon wollen wir nit reden, Papatscherl! Nie. Aber am Ende war's ein Geschäft. Und wann man's kaltblütig betrachtet, kein schlechtes – und menschlich betrachtet, ein gutes ...«

Um zehn Jahre reifer und älter schien der Xaver geworden in diesen drei Stunden.

»Red',« gebot der Papa.

Xaver wischte sich mit seinem seidenen Sacktüchel den Schweiß von der Stirn und schüttete den Rest aus Papas Weinglas herunter.

»So, also nun seid's ruhig und nehmt's nit tragisch, 's kost' kei Geld und keine Ehre ... nur a bisserl Müh' ... 's is a vertrackte G'schicht', und du weißt ja ... Papatscherl, wie sie ist. Wann sich die Flora was in den Kopf g'setzt hat – dann können's ihr zehn Rösser nit aus dem Schädel rausziehen.«

»Flora heißt sie ...!« weinte die Mama in ihr Tüchel.

»Ist doch wurscht,« sagte der Papa. »Vielleicht hat sie auch mal Mizi geheißen. Solche Damen wechseln Namen wie Strümpfe. Auf der Urkunde, der verflixten, da hat sie den richtigen Namen angegeben: Aloisia Leimgruber. Was willst mit dem Namen anfangen beim Theater?«

Die Mama wußte überhaupt nicht, was man beim Theater anfangen konnte – ein Verhältnis allenfalls.

»Weiter,« drängte der Papa.

Ihm war nicht recht geheuer. Und eine Frechheit war's von Xaverl zu fragen:

»Was glaubst, Papatscherl, wie alt die Flora ist?«

So ein roher Bursch war der Xaver. Vor der Mama, mit dem hübschen, angegrauten Kopf, fragte er, wie alt die Flora war.

»Nun, an die dreißig wird's sein,« meinte er rücksichtsvoll.

»Ueber die vierzig, Papatscherl ... Schwarz auf weiß hab ich's gesehen. Und zwei Kinder hat's, und heiraten will sie.«

»Wart' ein bissel, Xaverl, wart' ein bissel ...«

Der Papa ging an die Kredenz, holte einen alten Slibowitz heraus und drei schöne, goldgeränderte Likörgläser. Es war nötig, daß sie sich alle stärkten. Dann griff Xaver den Bericht mit erneutem Mut auf.

Die Aloisia Leimgruber hatte also zwei Kinder: einen jetzt achtzehnjährigen Sohn, der – man mußte ja grad nit alles glauben, was die Flora daher redete – im vierten Lebensjahr von seinem Vater geraubt worden war, und den sie seitdem nie wieder gesehen. Nur einmal hatte sie aus Amerika einen Brief bekommen. Er hatte ihr Bild in einer illustrierten Wiener Zeitschrift gesehen, und der Vater hatte ihm gesagt, das sei seine Mutter. Da er drei Viertel des Jahres auf Reisen sei, so gäbe er ihr seine feste Adresse an, von wo aus ihn eine Nachricht immer erreichen würde. Sie reisten mit einem Wanderzirkus, zu dessen Besitzer sich der Vater aufgeschwungen hatte. Er selbst wäre von der Akrobatik mehr und mehr abgekommen und bilde sich als Athlet und Ringkämpfer aus.

Der Papa nestelte nervös an seinem Kragen.

Sapperment nochmal – eine so beschützte Geliebte ... Mutter eines Ringkämpfers. Die Flora Berger vom Ronacher ...

»Sollen wir mit dem Boxer ... das Geschäft machen, Xaverl?«

»Woher! Der Kerl geht einen gar nix an. Die Flora hat ihm nit amal geantwortet. Die hat ganz andere Ambitionen ... Na ja, alsdann, die Sache ist so: sie will heiraten. Bewirbt sich da ein wohlhabender Gastwirt um sie, aus der Schweiz. Bächlisberger heißt er. Als Mann nit so übel – ein Kerl. War früher sicher mal Hausdiener – weiß zu lächeln und rauszuschmeißen. Dreht den Gästen die Taschen um. Das imponiert ihr, denn davon versteht sie selber was. Na, kurz und gut – 's ist schon das Richtige für sie. Aber nun hat's eine Tochter eingetragen in den Matrikeln als Agathe, uneheliches Kind der ...«

»Red' nit weiter, Xaverl,« rief die Mama gebieterisch. »Was die Person will – kann ich mir denken. Aber daraus kann nix werden ... Adoptieren solch ein Früchtel ... Unseren Namen ... Hast denn gar keine Pietät?«

»Doch, doch, Mama ... aber schau ... gar so jung seid's ihr nimmer, und alles verlieren auf eure alten Tage wollt ihr doch auch nicht. Daß ich den Offiziersrock ausziehen müht' ... daran habt's ihr wohl auch nicht gedacht? Was soll ich dann werden? übers Wasser als Bereiter, wie in der Operett'?«

»Wo hat's denn das Mädel gehalten, bisher?«

Der Papa lenkte offensichtlich ein, und Xaver atmete erleichtert auf und sprudelte nur so heraus, was er wußte. Agathe war auf dem Lande von der Großmutter zuerst betreut worden. Später im Haus eines Gymnasialprofessors in Wien streng erzogen und zusammen mit den zwei Knabenpensionären unterrichtet.

Einmal im Jahr hatte die Flora im steifen Besuchszimmer der Frau Professor ihre Tochter sehen dürfen. Mit dem Kind, dem Backfisch, hätte die Flora auch nicht viel anfangen können – – aber für die Schönheit des aufblühenden jungen Mädchens hatte sie offene Augen. Sie schickte ihr Kleider, hübschen Schmuck, feine Handschuhe. Sie schrieb der Frau Professor, daß die Agathe jetzt Tanzstunde bekommen und in die Gesellschaft eingeführt werden müsse. Die Frau Professor schrieb zurück, so lange Agathe in ihrem Hause sei, dürfe sie sich nicht kleiden wie eine Kokotte, und die Gesellschaft, in die sie sie allenfalls einzuführen gedächte, lege keinen Wert auf albernes Herumgehopse, sondern auf gründliche Bildung und ernsthafte Unterhaltung.

»Da hat's die Flora mit der Wut gekriegt und hat's gemacht, wie's der Vater ihres Buben gemacht hat. Hat dem Mädel auf der Straße aufg'lauert, hat's in einen Wagen reing'schoben und hat's zu sich genommen. Dann hat sie sie eine Woche lang eingekleidet, und als sie fertig war, da hat's ihr Kind ang'schaut und zu weinen ang'fangen.«

Der Xaver strich sich über die Stirn, um sein noch knabenhaftes, weiches Gesicht huschte verlegene Rührung.

»Kann schon sein, Papatscherl, daß es die ersten ehrlichen Tränen der Flora waren.«

»Krokodil bleibt Krokodil,« unterbrach die Mama.

»Die eigenen Jungen frißt ein Krokodil aber doch nit, mußt nit übertreiben, Muzili ...«

Der alte Kosename wirkte beschwichtigend, und Xaver konnte – mit einigen Stockungen, Milderungen, Auslassungen zum Hauptpunkt kommen.

Jetzt also ging der Ehrgeiz der Flora höher. Sie verlangte, daß ihre Tochter in einer aristokratischen Familie aufgenommen werde. Am liebsten bei der gräflichen Familie Sternfeld, die ihr durch ihre ... ja also ... »Beziehungen« zu Vater und Sohn als die geeignetste erschien. Unkosten sollten sie davon keine haben. Sie zahlte einen monatlichen Pensionsbeitrag von fünfhundert Kronen und dreihundert Kronen monatlich Toilettengeld. Zusammen achthundert Kronen. Zu Weihnachten und zum Geburtstag je tausend Kronen extra. Aber Bedingung: absolute Gleichberechtigung in der Familie und der Gesellschaft. Daß sie keinen gesetzlichen Vater besaß, wußte sie. Nur nicht, daß die Aloisia Leimgruber die Flora Berger war, die durch drei Saisons die erste Nummer bei Ronacher gesungen und die letzten Jahre in der Ronacher-Bar den umworbensten Tisch hatte, an dem sie französischen Schampus und amerikanische Drinks verschenkte.

Die Mama erhob sich entrüstet von ihrem Stuhl.

»Das ist nichts wie eine gemeine Rache,« sagte sie. »Dazu geben wir unsere Hand nicht her.«

»Lieber das Jagdhäusel vielleicht,« brabbelte der Papa.

Aber die Mama, die jeden Morgen im Einholkorb der Köchin herumstöberte und heimlich auf dem Markt die Preise nachkontrollierte, die Mama, die im letzten Sommer sogar auf die Gasteiner Kur und die Badener Schwefelquelle verzichtet hatte – die Mama überschlug schon das Kredit und Debet ihres Haushaltungsbudgets in schmerzlichem innerem Kampf.

Wie Xaver von ihrem Gesicht all die Leidensstationen ihrer Gedanken ablas! Das Herz drückte es ihm ab.

Bis ihm plötzlich eine Erinnerung kam. An ein großes, finsteres Palais, an zwei riesige, steife Lakaien, an einen schmalen, strengen, großen Herrn, der wundervoll erzählte von fremden Menschen und Ländern, an Latein und Griechisch lesende Frauen ...

»Wie wär's denn mit dem Onkel Erasmus ...? Ein Fürst von und zu Hohen-Steineck, Durchlaucht ... Ist das nit nobel genug? Und Platz hätten die genug in ihrem großen Kasten? Und zu wissen brauchen sie nix – nix Genaueres ...«

Der Papa legte seine Hand segnend auf Xavers Haupt und blitzte die Mama an. »Muzili ... der Bub ... Was sagst? ... der Bub.«

Die Mama fuhr mit zitternder Hand streichelnd über Xavers Rock. »Herrgott, wann sich das machen ließ' ... Aber wie führt man so ein Mädel ein? Und dann – wir sind seit Jahren nimmer in Verbindung mit dem Erasmus. Und seine Frau – die Gustava ... Wann ich deutsch red' – redt sie Latein ... und zudem sind sie nie in Dresden. Kutschieren in der Welt herum. Leben in Zelten, kochen ihr Essen ab auf freiem Feld, wie Soldaten im Manöver, schießen auf Neger, reiten tage- und nächtelang. Weißt, Puzili« – das war der Papa – »da war doch mal ein Artikel in der ›Freien Preß‹ von E. Stein. Da hab'n s' noch Fußerln gemacht und unten den richtigen Namen mit Titel vermerkt.«

»Schon, schon, Muzili, aber das war vor einem halben Jahr, und wie ich ang'fragt hab bei der Zeitung, hat's geheißen, der Artikel wär' schon fünf Monate alt, und der Fürst lebe jetzt in Berlin.«

»Um Gott'swillen ...« Die Mama konnte sich in Gedanken noch eher in die afrikanische Wildnis versetzen als in die Preußenhauptstadt.

Aber Xaver wurde nachdenklich. »Ob Berlin oder Samarkand – hier kommt's auf den Menschen an – nit aufs Land. Hat's nit immer g'heißen: der Onkel Erasmus ist der vornehmste und edelste Mensch von der Welt? Ein Idealist, ein großer Herr vom alten Schlag, ein Gelehrter von tiefgehender Bedeutung? Also – das sind alles Elemente, wie g'schaffen, ein bissel ... ang'schmiert zu werden.«

Schonend, in der lieben Manier des verwöhnten Buben, aber dennoch mit unerbittlicher Logik machte Xaver den Eltern klar, daß es nur einen einzigen Weg gäbe, aus allen Schwulitäten herauszukommen und die Aufnahme der Agathe Leimgruber in einem die Ronacher-Flora befriedigenden Hause durchzusetzen. Der wäre: Agathens Existenz einer Entgleisung des Papas zuzuschreiben.

Der Papa wehrte sich wie ein Wilder. Die Mama traf alle Anstalten zu einem zweiten Ohnmachtsanfall. Xaver redete. Redete wie ein Buch. Es war vier Uhr morgens, als der Papa sich stöhnend zu einer illegitimen Tochter bequemte. Und halb fünf, als der Brief an den lieben und verehrten Vetter Erasmus geschrieben war, in dem der Papa sich zu einer Jugendsünde bekannte und die zärtliche Liebe zu seiner tadellos, in den strengsten Grundsätzen erzogenen Tochter gestand, deren Existenz er nur deshalb seiner armen Frau verheimlichte, »um nicht das ideale Eheleben, das er mit ihr geführt hatte, zu zerstören, und damit zugleich das Glück seines Alters und das Elternheim seines einzigen Sohnes, eines zu den größten Hoffnungen berechtigenden, strebsamen Offiziers der k. und k. Armee ...«

»Meine arme Tochter soll nicht als Bettlerin zu Dir kommen. Ich werde meine hiesige Bank beauftragen, Dir monatlich achthundert Kronen zu überweisen, die hoffentlich genügen werden, die Unterhaltskosten für meine teure Agathe zu decken ... Meine Frau darf nie etwas von den Zusammenhängen erfahren, ebensowenig wie mein Kind weiß, daß es sein Leben mir verdankt. Vielleicht gelingt es mir, mit der Zeit meine Frau mit der Tatsache auszusöhnen, für den Augenblick aber habe ich nur den einen Wunsch, mein unschuldiges Kind in die ihm angemessene Umgebung zu bringen, es Deiner verwandtschaftlichen Nachsicht und Liebe zu empfehlen und Dich zu bitten, Deine verehrten Damen günstig für sie zu stimmen. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, daß Du damit den Seelenfrieden von Menschen rettest, in deren Adern ein wenn auch verschwindender Teil des edlen Blutes der Hohen-Steineck rollt.

Es umarmt Dich in steter Bewunderung Dein alter unglücklicher Vetter und Freund Anton Sternfeld.«

Dieser Brief wurde am nächsten Vormittag in zwei gleichlautenden Exemplaren »per Expreß« nach Dresden und Berlin geschickt mit einem unterstrichenen »Persönlich« in der unteren linken Ecke des Umschlages.

Am Abend desselben Tages überbrachte der Postbote dem Grafen Sternfeld die große, schwarzgeränderte Todesanzeige der Fürstin Gustava von und zu Hohen-Steineck. Zwischen dem Datum ihres Ablebens und dem Datum des Poststempels lagen sechs Monate. So erübrigte sich die Reise zur Beerdigung, deren Tag übrigens auch auf der Todesanzeige nicht angegeben war.

Xaver fing an sehr besorgt zu werden um den Erfolg des ausgeklügelten Planes. Nachdem die Stimmung zwei Tage tief unter Null gestanden hatte, stieg sie am dritten so hoch, daß die gräfliche Wohnung zur Hölle erhitzt wurde. Aber am vierten Tage kam ein Eilbrief, eingeschrieben und »persönlich« zu Händen des Herrn Grafen Anton Sternfeld abzugeben.

Selten wohl hatte der goldene Crayon des Papa einen so zitternden Namenszug geführt. Denn jetzt ging's ums Ganze: ums Jagdhäusel, um Familienehre und Familienglück ...

»Weißt, Papatscherl, laß mich's lesen! ...«

»Lies,« gebot der Papa und fühlte, wie ihm die Knie weich wurden.

Xaver faltete das schicksalsschwere Blatt auseinander:

»Lieber Vetter Anton!

Bevor ich auf Deine Zeilen eingehe, muß ich mich entschuldigen, daß ich Euch erst so spät Mitteilung vom Tode meiner Frau und treuen Mitarbeiterin Gustava gemacht habe. Aber es war ihr Wunsch, daß ihr Tod erst ein halbes Jahr später bekanntgegeben würde, damit nicht der Ansturm von Beileidsbezeigungen und der unausbleibliche Pomp einer Bestattung unsere Gedanken und Kräfte von dem Abschluß einer Arbeit ablenkten, deren rasche Vollendung ihr am Herzen lag. Denn nur sie selbst wußte zu beurteilen, welche Lücke sie hinterließ, da der Tod sie gerade in dem Augenblick abrief, als wir bei der Ausarbeitung des reichhaltigen Materials unserer letzten Forschungsreise im griechischen Hochgebirge begriffen waren. Gustava, der ich die ersten Anregungen zu meinem erfolgreichen geologischen Arbeiten verdanke, war, wie Dir bekannt sein dürfte, um zwölf Jahre älter als ich und hatte schon als Gräfin Schlaar bemerkenswerte kleinere Arbeiten auf dem Gebiet der Mineralkunde geliefert. Seit Jahren schleppte sie sich mit einem inneren Leiden herum, aber sie kannte keine Schonung. Unterstützt von unserer Tochter Wanda hat sie noch auf ihrem Sterbebett wichtige Aufzeichnungen registriert und den Grundriß zu einer vielleicht epochemachenden neuen Theorie gewisser Erdschichtungen auf vulkanischer Basis entworfen, mit Zuhilfenahme außerordentlich feiner experimenteller chemischer Ergebnisse. Der Tod hat ihr Retorte und Feder aus der Hand gewunden ...«

»Geht's noch lang mit der Musik?« fragte der Papa, krebsrot vor Ungeduld. Die Mama riß nervös an ihrem Taschentuch.

Xaver brabbelte noch ein paar undeutliche Sätze vor sich hin, dann: »Jetzt ... jetzt ... na, in Gottes Namen ... Also:

›Was nun Dein ... die ... Dein Bekenntnis anbetrifft, mein lieber Vetter, so bedaure ich natürlich aufs tiefste eine Verirrung, die gewiß düstere Schatten auf Dein Leben geworfen haben muß. Aber wir Menschen haben nicht Richter zu sein, sondern müssen uns mit den Tatsachen abfinden und uns ihnen unterordnen. Es ist begreiflich, wenn Deine Frau diesen Tatsachen anders gegenübersteht, als ich und Wanda es tun, und es freut mich, daß Du genügend Vertrauen zu mir hast, um Hilfe von mir zu erwarten. Mein Haus steht Deinem Kinde offen.

Es hat eine Zeit gegeben, da wünschte ich mir leidenschaftlich einen Sohn. Denn ich war der Letzte meines Namens. Das Schicksal hat mir meinen Wunsch nicht erfüllt. So bin ich in meinen Handlungen nur mir und meiner Tochter verantwortlich. Deine Familie aber mag glauben, ich hätte die verwaiste Tochter eines befreundeten Gelehrten zu mir genommen. Wanda ist, wenn auch herb, so doch von lauterster Gesinnung. Sie wird Deiner Tochter Stütze und Lehrmeisterin sein, und gewiß wird es uns gelingen, Deine Agathe in den ernsten Ideenkreis unserer geistigen Interessen einzuspinnen, auf daß sie Wurzel faßt und die ihr zukommende Heimat bei uns findet. Die Tochter eines Grafen Sternfeld wird das edle Blut und den vornehmen Sinn ihres Vaters nicht verleugnen können.‹«

Xaver unterdrückte ein Lächeln, las schnell noch ein paar Sätze, und dann bedeutsamer:

»... Was nun Dein Anerbieten betrifft, mir für den Unterhalt Deiner Tochter achthundert Kronen monatlich zu überweisen, so lehne ich selbstverständlich jede materielle Beihilfe ab. Ein Hohen-Steineck darf weder handeln noch tauschen. Dies ist auch der Grund, daß ich – trotzdem meine wissenschaftlichen Expeditionen den größten Teil meines Vermögens verschlungen haben – dennoch das Haus meiner Ahnen, das Dresdener Palais, nicht verkauft habe und treu unserem Hausgesetz jedes Jahr einige Monate und Wochen dort zubringe. Ist jedoch Dir, mein lieber Vetter, der Gedanke peinlich, so ohne weiteres meine selbstverständliche Hilfe in Anspruch zu nehmen – so kann ich Dir vielleicht einen Ausweg nennen. Werde außerordentliches Mitglied unserer Paläontologischen Gesellschaft, deren Präsident nicht Fürst Hohen-Steineck, sondern der Forscher E. Stein ist. Normierst Du Deinen monatlichen Beitrag nur auf die Hälfte der Summe, die Du für den Unterhalt Deiner Tochter Agathe ausgeworfen – so kann ich Dir nicht nur heute schon den wärmsten Dank unserer Gesellschaft übermitteln, sondern Dir auch baldige Ehrenmitgliedschaft zusichern, die Dich berechtigt, an unseren interessanten Sitzungen teilzunehmen.

Schreibe mir, wann wir Agathe erwarten können – unser Haus soll das ihre sein. Empfiehl mich Deiner lieben Gattin, grüße Deinen Sohn und sei versichert, daß Dein Geheimnis auch Agathe gegenüber aufs strengste gewahrt wird

von Deinem
Erasmus von und zu Hohen-Steineck.«

»Hm,« sagte der Papa, »hm ... wie heißt die G'sellschaft?«

»Pa-lä-on-to-lo-gische ...«

»So ... ja ... Das hätt's auch nit gedacht, die Flora, daß sie mich zum Mitglied einer wissenschaftlichen G'sellschaft machen würde.« Der Papa erschrak, blickte auf die Mama und strich sich dann über die wohlgerundete Pikeeweste. Die Mama hatte nichts gehört.

Nun blieb noch das Letzte zu erledigen, und Xaver unterzog sich auf Mamas Wunsch auch dieser Aufgabe.

Er überbrachte der Flora Berger einen erbetenen offiziellen Brief vom Fürsten Hohen-Steineck. Sie las eigentlich nur die Unterschrift.

Xaver hätte das junge Mädchen gern gesehen, mit ihm gesprochen, es auf dies und jenes aufmerksam gemacht. Aber die Flora ließ es nicht zu.

»Weißt, Xaverl ... Bist a hübscher Bub – daran ist sie nit g'wöhnt ... Verliebt sich am End' ... und das wär' g'fehlt. Denn du bist doch ein armer Hascher. Is' schon besser, ich bring' sie an den Zug, und du kannst ja auf dem Perron stehn und sie dir anschaun, wann sie ans Fenster tritt.«

Am Tage danach stand Xaver halbverborgen hinter einem Berg von Koffern, die auf einem Handkarren die Anfahrt des nächsten Schnellzuges abwarteten, und starrte, fassungslos vor Entzücken, in eins der süßesten Mädchengesichter, die er je erblickt hatte.

Und neben ihm – ein bißchen kleiner, vor Angst, gesehen zu werden – der Papa.

Die Flora hatte mit keinem Augenzwinkern von ihrer beider Anwesenheit Notiz genommen. Aber – war es plötzlich erwachter mütterlicher Stolz oder Mitleid mit den »zwei armen Haschern« – sie befahl der Tochter, den leichten weißen Schleier zurückzuschlagen ... Und dann gab sie den niedergeschlagenen Augen absichtlich eine bestimmte Richtung, indem sie auf die Bahnhofsuhr zeigte. Bei dieser Gelegenheit mußte notgedrungen ein Strahl aus den großen, langbewimperten Braunaugen die beiden heimlichen Beobachter treffen und ein neues Entzücken in ihnen auslösen.

Beim Nachtmahl war der Papa von ungewöhnlicher Schweigsamkeit. Plötzlich legte er das Besteck zurück auf den Teller und sagte nachdenklich:

»Wenn ich wüßt', wann die nächste Sitzung der Polä ... der Polätologischen G'sellschaft ist – meiner Sel' ... ich würd', um was für meine Bildung zu tun – einen Rutscher machen nach Berlin.«

Zu dem Rutscher war es aus Geldmangel nicht gekommen. Dann brach der Krieg aus.

Im selben Jahr aber meldete der Papa dem Xaver ins Feld, daß der Onkel Erasmus sich mit der Agath' habe kriegstrauen lassen.

Und nach weiteren drei Jahren hatte der liebe Gott mit dem Kummer und der Angst der Sternfelder Grafen ein Einsehen. Der Xaver bekam einen Heimatschuß. War erst eitel Freude und Seligkeit über das bissel Lahmen. Aber nachher, als es nicht besser werden wollte und das dünne Edelblut so gar keine Heilkraft aufbrachte – da wurde es doch bedenklich. Immer häufiger mußte er sich marode melden, der Xaver; immer länger in irgendeinem Lazarett liegen. Dann schließlich klappte er ganz zusammen.

In einem der schönsten Lazarette aber rührten erzherzogliche Hände dem Verwundeten die Suppe kühl, und hübsche junge Mädchen in kleidsamer Schwesterntracht huschten zwischendurch wie wohldressierte Zöfchen und nahmen aus den hochgeborenen Fingern, was diese nicht mehr zu halten, zu tragen und zu rühren gewillt waren ... Denn Unterschiede gab es doch, trotz einheitlich-bescheidener Schürze und Haube ..! Das konnte Xaver gut beobachten von seinem Liegestuhl aus, der stets belagert war von den vornehmen jungen Samariterinnen. Und besser noch beobachtete den Xaver Sternfeld die Steffi Stumper, deren Papa das Geld aus dem Blut gescheffelt hatte, das in Europa geflossen war.

Es hatte wohl kaum einen Artikel gegeben, dessen Aus- und Einfuhr verboten war, mit dem Herr Stumper während des Krieges nicht den schwungvollsten Handel getrieben hätte. Aber der Xaver Sternfeld war weder Kaufmann, noch Rechner. Hübsche Augen, ein kusseliges Goscherl hatte die Steffi Stumper – und daß sie zugab, für ihr Leben gern Gräfin zu werden – das war sogar »herzig«, weil's gar so naiv war.

Immerhin schluckten der Papa und die Mama sehr schwer, als der Xaver ihnen von seinen Heiratsabsichten sprach. Der Mama vor allem fiel ihre lange Ahnenreihe steinschwer auf die Seele. Bis der Papa ein Machtwort sprach und erklärte:

»Wann die Tochter einer Ronacher-Flora Durchlaucht Hohen-Steineck geworden ist, darf ein Fräulein Stumper schon Gräfin Sternfeld werden.«

Aber gewisse Formalitäten wurden beobachtet. Herr Stumper mußte Visit machen und »sich anschauen lassen«.

Viel zu sehen war, wie Xaver richtig vorausgesetzt hatte, nicht an ihm. Er schnaufte nur fürchterlich, weil sich der vierte Stock ihm auf die Lunge geschlagen hatte, und wußte nicht recht, wo er seinen Zylinder hinstellen sollte. Was nun die Heirat betraf, so sagte er gutmütig: »Also ob ich meiner Steffi ein paar Boutons kaufe für eine halbe Million oder einen feschen, jungen Grafen für drei Millionen – das ist g'hupft wie g'sprungen. Und vom Xaverl ist es brav, daß er seine Eltern hier aus den Dachkammerln herausnimmt.« Zur Hochzeit versprach er zu kommen. »Der Xaverl wird die Herrschaften bis dahin vielleicht schon in meiner Badener Villa untergebracht haben. Ich selbst hab' mir nur ein einziges Zimmerl reserviert. Bin ja immer unterwegs. Personal ist vorhanden. Zwei Stubenmadeln, Köchin, Gärtner. Der Gärtner ist ein entfernter Verwandter von mir ... ein sehr, ein guter Rechner, der hat die Kassa. Eine brave Haut. Wenn die Herrschaften was haben wollen – bitt schön, immer nur zu dem. Ich mein', bei Extraausgaben.«

Damit empfahl sich der Herr Stumper.

Und kam erst wieder zu Steffis Hochzeit, die auf Bitten der Mama »ganz intim« bei Sacher gefeiert wurde. So intim, daß nur ein paar Kameraden von Xaver dabei waren und von seiten der Braut ein paar hübsche junge Mädeln unbekannter Herkunft zum Twostep. Am Ende der Tafel aber hockte ein Mann mit einem unmöglichen Bratenrock und weißer Binde, mit kantigen Händen und rissigen Nägeln, mit grauem Spitzbart und hagerem, sonnenausgedörrtem Hals, der in dicken Strängen auf holzstarren Schultern saß. Und das war Herr Dostal, der Gärtner, Kassierer und Verwandte des Herrn Stumper.

Im Wirrwarr des Plätzesuchens, gleichsam heimlich, hatte er sich zu seinem Gedeck geschlichen. Als Erster, ebenso unbemerkt, war er von der Tafel aufgestanden, nachdem er seinen Stuhl ordentlich unter den Tisch geschoben hatte. Gönnerhaft hielt Papa Sternfeld ihm seine mit Havannas wohlgefüllte Tasche hin.

»Ein Zigarrl ist das, Dostal ... ein Zigarrl ... greifen's zu, genieren Ihnen nit, bitt' schön.«

»Ja, das Zigarrl, dös kenn i schon. Hab's ja selber besorgt, weil der Herr Stumper g'meint hat, so was g'hörte sich für Grafen. Is also recht. Aber für unser einen, da wär's halt a Schand und a Sünd!«

Er dienerte zwei-, dreimal linkisch und abweisend. Dann war er verschwunden.

Der Papa krauste wieder mal seinen krebsroten Kopf.

»– – Xaverl, Du ... Xaverl ... wird das Mistviech mir allweil meine Zigarrln nachrechnen?«

Der Wunsch, die Hochzeitsfeier abzukürzen, war bei allen gleich groß.

Am größten aber bei Herrn Stumper – – der während der Tafel mindestens acht geschäftliche Telegramme erhalten und beantwortet hatte. Bis Steffi ihm den zerbissenen Bleistummel lachend aus der knochigen Hand gewunden und erklärt hatte, lieber verzichte sie auf die nächste Million, als daß sie länger zusehen wollte, wie ihr »Stumperl«, so nannte sie den Vater, wenn sie zärtlich war, sich an ihrem Hochzeitstage plagte.

Später, im reservierten Abteil des Zuges, ihre Hand in der ihres Mannes, fragte sie: »Du ... Xaverl ... weißt, was das Diner bei Sacher gekostet hat?«

Und sie wurde fast ärgerlich, als er seine Hand aus der ihren löste und mit schmalen Lippen antwortete: »Daß einmal die erste Frage meiner Frau nach dem Preis des Hochzeitsessens sein würde ... das hätt' ich mir auch nit träumen lassen!«

Kalt und heiß war dem Xaver in den ersten Verlobungswochen oft geworden, wenn er entdeckte, wie das Geld sich in sie eingefressen in den sechs Jahren und ihr eine nicht umzustürzende hohe Meinung von sich gegeben hatte, daß er sich selbst oft vorkam wie ein braves Hunderl, dem man ein Zuckerl aufs Schnauzel legt. Kriegte ja auch alles, was man sich nur wünschen konnte: goldenes Zigarettenetui, Platina-Armband, Uhr mit Brillantenschieber über schwarzem Ripsband – – ein halb Dutzend Krawattennadeln, eine kostbarer als die andere. Und spürte es dennoch oft bitter auf der Zunge, wie einmal, als er sagte:

»Weißt, Steffi, da gibt's einen Trepolo und einen Corregio, die möcht' i halt gar so gern zurückkaufen.«

»Was sind das? Dackeln?«

Es war ihm kein Trost, daß Steffi von den Kubisten schwärmte.

Wie unheimlich real sie dachte, hatte sich ihm aber erst offenbart, als jeder Rückzug abgeschnitten war ...

In Dresden war es. Er hatte die zarten Spitzen ihres Nachtkleides bewundert und gemeint: »Ich glaub', Steffi, der glühendste Liebhaber könnt' dich nicht so verwöhnen wie dein Vater ... ein unheimliches Geld muß der verdienen!«

Sie lächelte stolz. »Ja, mein Stumperl das ist halt ein G'hauter. Freilich – wann's erste G'schäft fehlgegangen wär' – hätt' er leicht müssen brummen. Aber er hat sich g'sagt: Das ganze Leben lang harte Erbsen fressen, weil man kein' Schneid nit aufbringt, was zu riskieren, oder aber nur mal ein paar Monat lang, wann's grad schief 'gangen is – sonst aber Poularden verzehren mit Trüffeln – da is nachher schon besser ... man riskiert was. Hab' ihm auch zugeredet. War kein Spaß für mich, zehn Stunden am Tag Leichenhemden und Leichendecken nähen. Da hätt'st meine Händ' sehen sollen, und vom Perlkranzbinden mit dem Draht sind's auch nit schöner worden! In zwei Särgen hat mein Stumperl das erste Weizenmehl geschoben an die ungarische Grenze. Bin mit g'fahren im schwarzen Trauerg'wandel ... Und wenn so Beamte gekommen sind, da hab' ich mir's Taschentücherl vor die Augen g'halten und g'schluchzt. Nachher hat's der Vater schon allein gemacht und ohne Särge ...«

Dem Xaver Sternfeld waren die Glieder an ihrer Seite kalt und starr geworden, und krampfhaft mußte er an Papa und Mama denken, um nicht aus dem breiten Doppelbett vom schönsten Gastzimmer des Dresdener Hotels zu springen und irgendwohin geradeaus zu laufen – mit dem einfachsten Rock angetan ... ohne Platinaarmband, ohne goldenes Zigarettenetui und ohne gefüllte Brieftasche ..

Ganz fassungslos war er daher, als Steffi auf dem Besuch bei den fürstlichen Verwandten bestand. Um nichts in der Welt hätten die Sternfelds verraten, wen Onkel Erasmus in zweiter Ehe heimgeführt hatte, und übrigens wußten sie auch nicht, wie diese Ehe ausgefallen war. Xaver rechnete nur an den Fingern nach – dreiundzwanzig müßte die Agath heut sein. Und das Herz schlug ihm ein bissel schneller, als es hätte sollen, da er an das süße Mädchengesicht im Coupéfenster zurückdachte. Der Onkel Erasmus aber, der war ... ja an die sechzig war er sicher ... Und seine Tochter Wanda an die dreißig ... Was machte das arme Hascherl zwischen den zweien? ... Steffi hätte er's verbergen mögen.

Und wenn's dem Onkel Erasmus schon vor dem Krieg nicht sonderlich gegangen war ... Wie jetzt? ... – – –

– – – An all diese langen, tragikomischen Geschichten aus den Häusern Hohen-Steineck und Sternfeld mußte der Xaver denken, während er auf der Terrasse des Wintergartens saß und dort über den Köpfen des Parkettpublikums vier junge Mädchen in silberflimmernden, kurzen Röckchen, auf kleinen, libellenförmigen Flugmaschinen durch den Raum schwirrten. Es sah hübsch, leicht, fast unwirklich aus.

»Ist dös herzig! Ich bitt' dich ... schau' doch, Xaverl ... oder hast Angst, daß sie dir ins Weinglas fallen?«

»Geh, Steffi, nit so laut ...«

Zum Glück war der Onkel Erasmus in die Durchsicht der Rechnung vertieft, die der Herr Ober mit einer eleganten Geste vor ihn hinschob.

Agathe hatte sich über die Brüstung gebeugt, und aus ihrem Gesicht, das kaum einen Blutstropfen mehr zu haben schien, starrten die großen, langbewimperten Augen auf die Bühne.

Schwarze Vorhänge umschlossen dreiteilig einen strahlend hellen Raum. In diesem Raum stand ein Mann. Eine schwarze Druse unterbrach die leuchtende Helle des Fleisches, das glänzte wie das Fell eines gesalbten, gekreideten und gestriegelten Zirkuspferdes. Regungslos stand der Mann in der stolzen Offenbarung einer so ungewöhnlichen, kraftvollen Schönheit, daß die Meisterwerke der Antike dagegen kümmerlich wirken mußten.

»Himmel-Herrgott, ist das ein Kerl ...« Der bewundernde Neid der Schwachen lag in Xaver Sternfelds leisem Ausruf.

Der Fürst langte nach einem abgegriffenen Krimstecher, und ohne die Hand sinken zu lassen, im Tonfall des Mannes, der gewohnt ist, daß seinen Worten gelauscht wird, auch wenn er sich an keinen Einzelnen wendet, begann er:

»Einen so vollendeten Körper habe ich nur einmal in meinem Leben zu sehn bekommen. Es war ein Bereiter bei einem reichen Moskauer Fischhändler, der ein großes Gut auf dem Kaukasus besaß, und dessen Gast ich durch einige Wochen dort war. Der Fischhändler veranstaltete öfters zur Unterhaltung seiner Gäste Wettschwimmen, in der Art, daß die schönsten Leute seiner zahlreichen Dienerschaft auf ungesattelten Pferden über den reißenden Fluß bis zum jenseitigen Ufer schwimmen mußten. Der junge Bereiter erschien an dem mir zu Ehren veranstalteten Wettschwimmen stehend auf dem Pferd, ohne die geringste Hülle. Wie Gott ihn geschaffen, nur zwei schmale Zügel in der Faust, ließ er sich von dem arabischen Hengst ans andere Ufer tragen, während das strudelnde Wasser aufspritzte. Drüben lag die Sonne im Verlöschen. Sie umlohte den weißen Körper auf dem schwarzen Hengst. Es war ein unvergeßliches Bild. Dann in einer sonnendurchglühten Staubwolke verschwanden Roß und Reiter. Sie kamen nicht wieder. Der Fischhändler lachte und meinte, er hätte Feste gegeben, die ihn schon mehr gekostet als einen Diener und einen Gaul. Aber auch dieses Fest sollte damit nicht bezahlt sein. Drei Tage später fand man seine zwei Töchter eng zusammengebunden je mit einem Herzschuß auf dem Teppich ihres Salons.«

Fürst Erasmus Hoheneck merkte es gar nicht, daß von allen am Tisch nur die Sternfelds ihm zugehört hatten.

Zum erstenmal war Steffi entzückt von dem alten Herrn. Wann einer so schöne G'schichten erzählen konnte –

Sie wollte gerade dem Xaverl zuflüstern, er solle doch die Herrschaften noch irgendwohin zum Drah'n auffordern, als Prinzeß Wandas Stimme plötzlich blank und ausdruckslos sagte:

»Agathe ist ohnmächtig geworden.«

Da wurde Fürst Hoheneck sehr bleich, und es war ihm lieb, daß im Gedränge des allgemeinen Aufbruchs niemand sah, welcher Wirrwarr an seinem Tisch entstanden war.

* * *


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