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Graue Schatten legten sich in den Ecken des Laboratoriums fest. War es Staub? War es Nebel, der wie eine bewegliche Wand vor den Augen des Fürsten Erasmus auf- und niederwallte?

Manchmal glitten Schritte von irgendwo her bis nahe an die Tür. Dann griff er nach dem, was ihm zunächst lag, einem Bleistift, einem Reagenzglas, einem Heft, das er mit zitternden Fingern durchblätterte.

»Bist du es, mein Kind?«

Aber die Schulter, ohne sie anzusehen, zog er Agathens Hand an seine Lippen, anbetend und zerstreut. Murmelte: »Ist Wanda noch nicht zu Hause? Ich warte gerade auf sie. Brauche sie für die letzten Berechnungen. Es klappt alles. Die Lösung ist nahe. Ich sprach gestern mit Doktor Kürer, oder war es vorgestern? Ich weiß nicht mehr. Überzeugte ihn. Die Fachkollegen, weißt du ... hätte es nie geglaubt – aber Gelehrtenneid – das gibt es. Hab' Geduld, Agathe, glaub' an mich, mein Kind ... mein geliebtes Kind ... Alles Schöne, alles Große dieser Erde lege ich dir zu Füßen ... bald ... bald. Jetzt geh' ... Bist ja noch zu schwach zum Helfen. Aber daß du hier unten bist, daß ich deine Schritte höre... Du weißt nicht, was mir das gibt.«

Er wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen, seit ihre braunen, traurigen Augen so seltsam angstvoll zu ihm aufblickten, da er ihr von der baldigen »Lösung« gesprochen hatte. Wie ein säumiger Schuldner kam er sich oft ihr gegenüber vor, dem das »bald« zur Lüge auf den Lippen wurde.

Agathe lehnte draußen an der Tür, lauschte. Jedes leise Geräusch schreckte sie. Und die Stille mehr noch als das Geräusch. Manchmal war es ihr, als senke sich die Decke des Hauses langsam, aber unaufhaltsam auf sie alle herab. Kaum wahrnehmbar – Stunde um Stunde mehr. Tiefe, zärtliche Barmherzigkeit erfüllte sie für den Mann, der nie mehr auch nur mit einem Schein von Gattenrecht sich ihr nahte, und der wie ein entlaubter großer Baum frierend die kahlen, mächtigen Äste in die Einsamkeit streckte.

Warum ließ Wanda ihn so allein? Woher kam das Leuchten in ihren stahlblauen Augen – das auf und ab huschende Rot in dem sonst so undurchdringlichen herben, bleichen Gesicht? ... Mitteilsam, wie Frauen sind, war Wanda nie gewesen. Aber ihr Leben hatte sich abgerollt wie ein weißes Band. Da war keine Falte gewesen, kein Fleck, die sie hätte verbergen müssen. Mit der Uhr in der Hand hätte Agathe Wandas Tun und Lassen begleiten können: Laboratorium, Bibliothek, Besuche bei Professoren. Besuche, die immer seltener wurden, von denen sie immer hoffnungsloser zurückkam. Und dabei die immer gleiche, stolze, in sich verschlossene Abwehr gegen etwaiges Mitleid ... Seit jener Nacht aber ... seit jener Nacht, da sie sie an der Seite des großen Mannes über den Hof hatte gehen sehen – – des Mannes, der ein Zirkusartist war, und in dem sie, Agathe, ihren verschollenen Bruder erkannt hatte.

Eine ihr selbst unerklärliche Angst durchrüttelte sie. Wenn der alte Mann erfuhr, daß man ihn belogen – damals und jetzt. Daß jeder Tag neue Lüge gebar ... daß sie ihn betrogen alle beide... die ihm allein geblieben waren von allem, was er einst besessen – –

Tastend, scheu hatte sie Doktor Kürer gegenüber das Gespräch auf jenen Abend im Wintergarten gebracht. Daß es ein so netter Abend gewesen und ein so prächtiges Programm. Zu dumm, daß sie gerade die Nummer des Tom King nicht zu Ende gesehen. Doktor Kürer zählte ihre Pulsschläge. Nickte. Überhörte scheinbar ihre Worte.

»Jetzt brauchen Sie mich nicht mehr. Sie können mir den Abschied geben, Durchlaucht. Eine Tablette Bromural von Zeit zu Zeit, wenn Sie sich erregt fühlen.«

Sie wußte, er wich ihr aus, und wußte, daß sie von ihm nie etwas erfahren würde – nie. Daß er auch nicht kommen würde, bis man ihn rief. Dennoch versuchte sie, ihm ein Wort, eine Bewegung zu entlocken, die ihr Aufschluß geben könnte: »Finden Sie Wanda nicht verändert, Doktor?«

Er liebte Wanda. Die Frage mußte ihn treffen. Aber seine Augen blickten nur ein bißchen starrer als sonst. »Ich habe nie die Ehre gehabt, von Prinzeß Wanda ins Vertrauen gezogen zu werden. Als Arzt aber konnte ich keine wahrnehmbaren Veränderungen bemerken. Der einzig Kranke scheint mir jetzt der alte Herr. Ihn vor Aufregungen bewahren, mehr können Sie nicht tun, um sein Leben zu erhalten – wenn Sie es erhalten wollen.«

»Doktor Kürer – –«

Er verbeugte sich kurz und ging. –

»Wanda ... Wanda!«

Es war die Stimme des Fürsten Erasmus, die durch das stille, kleine Haus drang. Agathe dachte: So ruft er sie zwanzigmal am Tag... so wird er sie immer rufen. Rufen mit der Bangnis des verlassenen Kindes, rufen auch ohne Stimme mit dem suchenden Blick seiner armen Augen ...

Sie hörte die Umdrehung eines Schlüssels an der Flurtür. Im dunklen Schatten der Stiege stand Wanda Hoheneck. Agatha sah jeden kleinsten Zug in der Beleuchtung der Flurlampe, sah die sich ringelnde Strähne des silbrig schimmernden Blondhaares, den kühnen Schnitt der blaßrosa Lippen, mit den herben Mundwinkeln, sah die feinen Äderchen an den schmalen Schläfen.

Wanda drückte zwei Finger gegen die Augen, hing ihre Jacke an den Riegel, warf den Kopf zurück.

»So,« atmete sie auf. »Jetzt muß ich es ihm sagen.«

Alle Härte war aus ihrem bleichen Gesicht geschwunden. Fast lag eine weiche, wehmütige Trauer in ihrer Stimme. Aber zugleich auch eine Unerbittlichkeit, vor der Agathe erschauerte. Noch einen Versuch wagte sie. »Höre, Wanda. er arbeitet wieder. Er ist jetzt auf der richtigen Spur, sagt er. Hab' Geduld ... Noch ein paar Wochen ...«

Wanda Hoheneck schüttelte langsam den Kopf.

»Ich habe – während alles im Hause schlief – noch einmal alles nachgeprüft. Nacht für Nacht – es ist Täuschung.«

»So laß ihn dabei ... laß ihm seinen Glauben, Wanda, aus Barmherzigkeit ...«

Wie ein hilfloses Kind kauerte Agathe jetzt am Fußende der Treppe und hob beschwörend die noch kraftlosen Hände.

Wanda blickte an ihr vorbei, aber ihre Finger glitten in einer mitleidsvollen Regung über Agathes braunes Haar.

»Seinen Glauben kann ich ihm gar nicht nehmen ... Nur mich lasse ich ihm nicht mehr.«

Agathe war es, als drücke ihr jemand die Kehle zu.

»Wem bringst du dich, Wanda ... wem ...?«

Bis in die Lippen bleich stand Wanda vor der Frau ihres Vaters, und wie ein Peitschenhieb schallten die Worte von ihren Lippen: »Du, die einen alten Mann um einer Fürstenkrone wegen geheiratet – hast kein Recht mitzusprechen, wenn es um Liebe geht« ...

»Wanda ... Wanda ... seit Stunden warte ich ...«

In seiner alten, verwehten Lederjoppe, die Hände rot und naß von dem kalten Wasser, das er über ein zur Hälfte gefülltes Reagenzglas mit violetter Flüssigkeit hatte laufen lassen, so stand Fürst Erasmus auf der Schwelle des kleinen Empfangszimmers. Seine Stimme überschlug sich vor Erregung.

»Stell' mal gleich die Tabellen zusammen. Wanda ... die von der vergangenen Woche ... Ich glaube fast ... wir haben's ... O mein Gott ... mir schwindelt bei dem Gedanken ... Wo ist Agathe? Nein ... sag' ihr noch nichts ... rufe sie nicht. Eine Überraschung soll es werden. Ich selbst will dann ... Komm rasch ... komm, komm ... die schwarzen Perlen auf dem Grunde ... siehst du? Die geben das Heliogas ... Nur verdampfen muß die Flüssigkeit. Sieh nach, welchen Kältegrad sie haben muß ... sieh schnell nach ... Mein Gott ... mir zittern die Hände ...«

Wanda Hoheneck nahm dem Fürsten im Gehen das Röhrchen aus der Hand, warf es in einen großen Kupferkübel, in dem eine Pflanze dem Tod entgegenwelkte. Klirrend sprang das feine Glas auseinander. Die trockene Erde sog die Flüssigkeit in weniger als einem Augenblick auf.

»Agathe,« rief der alte Herr, »Agathe!«

Ein verzweifelter Hilferuf war es.

Agathe hörte ihn nicht. Wanda hatte zwei Türen hinter sich zugezogen.

»Licht,« murmelte der alte Mann, »Licht ...«

Dabei brannte die Bogenlampe.

Mit angstverzerrten Zügen starrte er die Tochter an – die Kameradin, die Mitarbeiterin, den Menschen, der zu ihm gehörte – mehr noch als das zarte, junge Geschöpf, dem seine Greisenliebe galt. Als sähe er das blonde, feine Gesicht zum erstenmal ... Oder doch nicht ... als wecke es ein Erinnern in ihm an weit zurückliegende Jahre. An Jahre der Kraft, des Aufschwungs, an Jahre der Arbeit, des Stolzes, und dann – –

»Ja, also, was ist das? Du hast eine seltsame Art, das muß ich sagen ... Eine Art, die nicht üblich war bei uns.«

»Ich bitte dich, mich anzuhören, Vater. Was ich dir zu sagen habe, fällt mir nicht leicht. Ich bitte dich, für einen Augenblick zu vergessen, daß ich deine Tochter bin, deine Schülerin war ... Laß mich deine Freundin bleiben auch in dieser, auch über diese Stunde hinaus – willst du?«

Sie streckte ihm ihre schmale Hand hin. In seinem alten Gesicht lief das Blut unruhevoll auf und ab, deckte das gelbliche Pergament mit blaßrosa Flecken. Er hob die Stimme, die knarrend rauhe Stimme, mit der er jetzt noch Befehle gab, und die ihn selbst hinwegtäuschte über seine Machtlosigkeit.

»Es ist augenblicklich töricht, uns in Auseinandersetzungen zu verlieren. Wenn du die Frucht meiner monatelangen Arbeit mit einem Wurf zu vernichten gedachtest, dann irrst du dich. Deine Ungeduld, deine Ungebärdigkeit, die mir fremd sind an dir, erschreckten mich. Nicht deine Tat. Hier – zwei, drei Reagenzgläser zeigen dir das gleiche Resultat. Wir müssen unsere letzten Kräfte anspannen, hörst du? Wenn du die Geduld verlierst wie ein Schulmädchen, das sein Heft zerreißt, weil es eine Aufgabe nicht zu lösen vermag, so will ich es einer vorübergehenden Nervosität zuschreiben. Sprechen wir nicht mehr darüber – an die Arbeit. Die Tabellen, Wanda ...«

»Nein.« Glaskalt war Wandas Stimme. Die Selbstsucht des alten Mannes ertötete ihr Mitleid.

»Nein,« wiederholte sie.

Da löste sich ein heiserer, halberstickter Schrei aus seiner Brust. »Nein ... warum nein?«

Sie las es ihm von den Lippen ab, die lautlos, wie gelähmt von Schreck, die Worte formten.

Und diese lautlose, fassungslose Wut des Mannes, der ihr Leben aufgesogen, vereiste den letzten Rest zagen Schonens in ihrem Herzen. Als müßte sie ihren Worten einen nicht gutzumachenden, erbarmungslosen Nachdruck geben, fegte sie mit der Hand über den langen Tisch, daß alles Glas klirrend übereinander fiel, Metallkessel über Holzgestelle kollerten, blaue, rote und gelbe Pfützen sich in den Rillen des Tisches langsam sickernd zusammenschlossen und scharfe, ätzende Gerüche verströmten.

»So, Vater ... mach' einen Strich unter das alles. Es ist nichts. Du wolltest, ich soll rechnen – ich habe gerechnet. Es ist nichts. Wird nichts. Wird nie was.«

Da fühlte sie Hände an ihrem Hals. Kalte, knochige Finger. »Wahnsinnige ... Was hast du gemacht? Gemordet hast du! Mich gemordet. Agathe gemordet. Hast unsere Zukunft ... unsere ganze Zukunft – unser Leben gemordet ...

Sie entwand sich mit einer harten Wendung ihrer straffen, schlanken Gestalt. »Nicht ich ... du hast gemordet ... Alles in mir gemordet, was mein, mein ureigenstes Recht an mir war. Hast von meinem Hirn gelebt. Dich vom Schlaf meiner Nächte genährt. Hast mein Leben genommen, ohne auch nur zu fragen, ob mir genug Atem blieb für das armselige Restchen, das du mir ließest, und hast – was an Liebe in dir war – einer anderen geschenkt, einer Fremden ... Hast mich gezwungen, ihr zu dienen, wie ich dir diente – als wäre ich nur auf der Welt, meinen Leib, meine Gedanken, meine Sehnsucht zu beugen unter das Joch deines Wahns ...«

Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle, das ihre Worte erstickte. Sie faßte nach der Tischkante, an der sie sich festhielt, starrte mit trockenen, brennenden Augen dem Vater ins totenbleiche Gesicht. Und fiel plötzlich an ihm nieder, in einer letzten, heißen Aufwallung namenlosen Mitleids, da sie ihn auf dem Stuhl sah – zusammengebrochen, einem Bündel aneinandergefügter Gliedmaßen gleich, den Ausdruck hilflosen Nichtverstehens in den verzerrten Zügen.

»Vater ...«

Sie lag mit dem Gesicht auf seinen bebenden Knien. Sie haschte nach seiner Hand und drückte ihre heißen Lippen auf die dürre, aderndurchquerte Haut.

Er murmelte: »Laß nur ... laß nur ...«

Zog seine Hand nicht zurück. Legte sie auch nicht auf das blonde Haar, das halbaufgelöst in reicher Flut den schmalen, rassigen Kopf einbettete. Daß es seine Tochter war, die vor ihm lag – er begriff es kaum noch. Dieses fessellose junge Weib war nicht Wanda Hoheneck. Nicht die herbe, kühle Arbeiterin, die er unbegrenzt verehrte, die ein Teil war von ihm selbst, in der er die Eigenschaften leben sah. die er am höchsten schätzte: Selbstzucht und vornehme Abgeklärtheit.

»Ach, lassen wir das ...«

So unsagbar peinlich war das alles. So unverständlich. Er mühte sich aufzustehen.

Da warf Wanda den Oberkörper zurück und gab ihn frei. Die Erinnerung kam ihr, wie sie hier, fast an der gleichen Stelle, vor dem gekniet, der jetzt Herr ihres Lebens war. Und ein Strom heißen Glückempfindens hüllte sie tröstend ein.

Eine Mutter hätte sie verstanden, ohne Worte. Ihre Mutter, deren Bild sie zertrampelt in ihrem Zimmer gefunden, ihre Mutter, deren ganzes Leben dieser Mann in sich aufgesogen hatte wie das ihre. Langsam erhob sie sich, umfaßte noch einmal mit leerem Blick all die stummen Zeugen ihres sinnlosen »Gelehrtendaseins«. All die Regale, Schränke, Retorten, Destillierapparate – – was bedeuteten sie anders als der Dresdener Palast, dessen zusammenbrechende Mauern nur mehr ein Symbol waren? Das Symbol eines unheilvollen und unheilbaren Wahns?

Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke: der Gedanke an ihren Reichtum. An den Reichtum, dem alles möglich, dem alles erreichbar war, den Reichtum, der Wahn in Wirklichkeit wandeln konnte.

Heute vormittag, in einem kleinen Salon des Hotels Adlon, wo sie auf Tom Kings Bitte den Besuch seines Sekretärs erwarten sollte, hatte Mister Quick ihr im Auftrag von Direktor Stephens einen Kreditbrief überreicht, dessen Gesamtsumme die Höhe von zwei Millionen Mark erreichte. Ein getippter Brief mit der ebenfalls getippten Unterschrift Stephens' lag bei.

»Liebe Schwiegertochter. Sie brauchen Kleingeld, denke ich, für Ihre Anschaffungen. Wenn es Ihnen viel scheint, so kann ich nur sagen: Was schnell gebraucht wird, bezahlt man doppelt. Es ist nicht nötig, daß Tom weiß, was ich Ihnen schicke. Er wird es selbstverständlich finden, daß seine Braut sich zeigt, wie es ihrem Rang zukommt. Tom weiß nicht, was Frauen brauchen und was sie lieben. Es ist mir angenehmer, er lernt es von Ihnen, als von anderen.

Yours affectionally. Stephens.«

Mister Quick hatte eine überaus unauffällige Art, nicht da zu sein, wenn man in seiner Gegenwart Briefe zu lesen hatte, die er überbrachte. Ob es Freudenbotschaften waren oder – was öfters der Fall war – Uriasbriefe. Er kannte immer den Inhalt und erhaschte mit einem Blick die Antwort – aus einem Mundzucken, einem Augenblinzeln, einem rascheren oder schwereren Atemholen des Empfängers.

Diesmal war er zum mindesten auf einen kurzen Ausruf gefaßt: ein Zurückweisen der Schenkung oder aber auf ein mühsam unterdrücktes Lächeln oder ein hastiges Zusammenknittern des Begleitschreibens. Nichts von alledem geschah.

»Sonst noch etwas?«

Kühl, wie mit einem Hotelportier, wie auf der Bühne Königinnen mit ihrem Kammerdiener sprechen, war die Stimme der blonden Prinzessin in dem schlichten, schwarzen Kleid. Das imponierte ihm beinahe. Rasch, beflissen dienstlich meldete er, im Adlon sei ein Appartement reserviert auf den Namen der engagierten Kammerfrau, Johanna Winter. Alles, was die Prinzessin kaufe, würde am besten hierher geschickt und von hier spät abends durch den Privatdienst Mister Kings an den Extrazug gebracht. Ob die Prinzessin sich Frau Winter ansehen wollten?

»Ja, bitte.«

Fast gleichzeitig war er draußen. Atmete auf. Sein Dienst war nie leicht gewesen zwischen den zwei Riesen, die nichts kümmerte als ihr eigner Wille. Es schien ihm, als würde er von jetzt ab noch schwerer sein.

Noch gellte ihm Ria Romas Lachen im Ohr. Was war von dieser kühlen, herben Vollblutaristokratin zu erwarten, wenn sie in ihrem Stolz getroffen war?

»Bitte, Frau Winter, Sie werden gewünscht.«

Eine straffe, sehnige, schlanke Gestalt ging raschen Schrittes an ihm vorüber. Mister Quick folgte ihr, einen gespannten Ausdruck in den beweglichen, scharfen Zügen.

»Frau Johanna Winter,« stellte er vor und fuhr gleich fort: »Ein glücklicher Zufall. Frau Winter wurde gerade frei, und ich wählte sie unter sechs anderen Kandidatinnen, weil mir die Übereinstimmung der Maße ihrer Figur mit denen Eurer Durchlaucht von größter Wichtigkeit – weil Bequemlichkeit für Eure Durchlaucht erschien. Auch der Masseur von Mister King hat die gleichen Maße wie sein Herr. Es erübrigen sich auf die Art lästige persönliche Anproben bei Schneidern, Schuhmachern. Konfektionären und so weiter. Ich glaube, bis auf die Handschuhnummer stimmt alles. Ich habe mir die Maße von der Schneiderin Eurer Durchlaucht zu verschaffen gewußt.«

Keine Muskel rührte sich in Wanda Hohenecks Gesicht, während Mister Quick mit virtuoser Ehrerbietung von der »Schneiderin Ihrer Durchlaucht« sprach, die irgendwo in der Hofwohnung eines vierten Stockes zwischen muffigen, meist beim Althändler gekauften und nun zum x-ten Male gewendeten Stoffetzen eine klapprige Nähmaschine mühsam in Gang hielt.

»So ... ja ... dann kann Frau ... Frau Winter gleich etliches für mich besorgen. Wo waren Sie im Dienst – als was?«

»Ich war zuletzt vier Jahre Kammerjungfer bei der Großfürstin Kyrill.«

Die Stimme war rauh, die Worte schienen sich nur schwer von den festgepreßten Lippen zu lösen – als hätten sie einen Sprachfehler zu überwinden oder die Gewohnheit langjährigen Schweigens.

Wanda Hoheneck blickte plötzlich auf, sah jetzt zum ersten Male das fahle, hagere Gesicht, in dessen tief umschatteten Höhlen von schweren Lidern überdeckte, dunkle Augen wie erloschene Kohlen eingebettet lagen.

»Warum haben Sie den Dienst verlassen?«

»Ich heiratete.«

»Ihr Mann – –«

»War Stallmeister, später Reitlehrer,« schob Mister Quick in seiner raschen Art ein. »Frau Winter ist Witwe. Sie war gerade im Begriff, einen Modesalon zu eröffnen, als ich sie entdeckte und bestimmte, in den Dienst Eurer Durchlaucht zu treten. Für absolute Zuverlässigkeit und Redlichkeit sowie Aufopferung in ihrem Dienst übernehme ich jede Verantwortung.«

Wanda Hoheneck winkte zerstreut ab.

»Dann ist's ja gut.«

Abermals ergriff Mister Quick das Wort: »Ihre nächste Aufgabe, Frau Winter, ist, ein vollständiges Trousseau für Ihre Durchlaucht zusammenzustellen – von Strümpfen und Schuhen angefangen bis zu den Hüten und Handschuhen. Sie benutzen das Hotelauto, zahlen bar in den Geschäften und lassen die Sachen auf Ihren Namen hierher schicken. Sollte etwas fehlen, kann es in Wien nachbeschafft werden. Koffer, Reisenecessaire besorge ich selbst.«

»Welchen Stil bevorzugt Ihre Durchlaucht?« fragte modulationslos die rauhe Stimme.

»Darf ich bitten, sich zu äußern, Durchlaucht – –«

Wanda spielte mit den Ecken des Stephensschen Briefes. »Englisch für tagsüber. Die Abendkleider – wie üblich. Keine Mode von morgen. Keine Extravaganzen. Nicht zu prächtig und ... nicht zu jugendlich.«

Sie hätte nicht geglaubt, daß es ihr so schwer sein würde, es auszusprechen. Mister Quick unterdrückte rasch ein aufsteigendes flüchtiges Lächeln.

»Haben Durchlaucht sonst noch – Befehle?«

Wanda Hoheneck erhob sich aus dem Sessel und blickte starr ins Leere, mit einem Ausdruck kalter Entschlossenheit in den herben Zügen.

»Ja. Ich wünsche nicht mit einem Titel angesprochen zu werden, auf den ich ja doch in wenigen Wochen kein Anrecht mehr habe. Ich heiße Fräulein Hoheneck.«

»Sehr wohl, gnädiges Fräulein.«

Mister Quick sagte sich, daß es nicht ganz das war, was Stephens vorschweben mochte.

Wanda Hoheneck schöpfte tief Atem, dann in dem gleichen, knappen, entschlossenen Ton fügte sie hinzu: »Von Frau Winter verlange ich absolute Diskretion nach jeder Richtung – aber auch jeder. So. Das wäre alles.«

Der Boden brannte Wanda unter den Füßen. Fremd und unfaßbar schien ihr alles, was da vor sich gegangen war. Unfaßbarer als alle geringfügigen Tatsächlichkeiten, als ihre phantastische Liebe und die noch phantastischere Lösung ihres Schicksals. Sie trat vor den Spiegel und drückte ihren Filzhut tiefer in die Stirn. Da erblickte sie das Gesicht der Winter. Einer tragischen Maske glich es in seiner fahlen Undurchdringlichkeit. Der Blick ihrer stahlblauen Augen traf den nächtigen Abgrund, der zwischen dem Spalt der schweren Lider sichtbar wurde. Ein leises Frösteln glitt über Wandas Schultern.

Die wenigen Minuten, die sie allein blieb, benutzte sie, um die Briefe in ihren Taschen zu verwahren. Es war doch nicht so einfach für eine Hoheneck, ein Geldgeschenk anzunehmen – auch wenn es von einem kam, der sie Schwiegertochter nennen durfte. Tom King hatte ihr gesagt: »Ich denke, es ist Ihnen angenehmer, wenn wir uns hier in Berlin nicht öffentlich zusammen zeigen. Mister Quick ist unauffällig. Wir wollen alles durch ihn arrangieren lassen.« Und sie hatte stumm genickt und hatte es ihm innerlich Dank gewußt, daß er umsichtiger als sie selbst ihren Ruf schonte.

So waren ein paar kurze Autofahrten im Dämmer des herabsinkenden Abends – weit draußen hinter Halensee – alles gewesen, was sie von ihm gehabt hatte. Bis er gestern, kurz vor dem Halten des Wagens sagte: »Mein Vater läßt Sie bitten, morgen um elf Uhr vormittags in die Halle des Hotels Adlon zu kommen, wo Mister Quick, unser Sekretär, Sie erwarten wird, um einiges mit Ihnen zu besprechen. In drei Lagen müssen wir nämlich abreisen.«

In drei Tagen ...! Alles Blut lief ihr aus dem Gesicht. Da nahm er ihre Hand: »Wenn Sie Reue haben, Miß Wanda – noch ist es Zeit. Sie dürfen sich nicht zwingen –«

Er hatte das verlegene Lächeln eines großen Jungen, dessen Augen größer gewesen waren als sein Magen, und der nun nicht wußte, wie er mit Anstand das allzureichlich Genommene wieder auf die Schüssel zurücklegen könnte – –

Wanda hörte nur die Großmut eines über sich selbst stehenden, erlesenen Menschen aus seinen Worten heraus. »Wie könnte ich je etwas bereuen, was unser beider Leben eint? Weißt du denn nicht, Tom, daß ich dich liebe?«

Ihr blonder Kopf fiel an seine Schulter. Ihre Lippen waren ihm preisgegeben. Er aber küßte ihre Hand. Stumm. Mit einer Ehrerbietung, die in diesem Augenblick hätte verletzen können, wenn sie nicht so ehrlich gewesen wäre. Und er sagte auf englisch, weil er sich zum »Du« nicht entschließen konnte: » I never will forget your kindness!«

Gleich darauf hatten sie sich getrennt. Und heute war mit dem Brief des Mannes, der sich ihr »Schwiegervater« nannte, der erste folgenschwerste Schritt auf dem Boden der Wirklichkeit getan.

Jetzt aber stand sie dem Vater gegenüber, erschüttert von seinem Fremdsein zu ihr, in diesem Augenblick ihrer tiefsten seelischen Not. Einer Not, die er hätte erraten, über die er ihr hätte hinweghelfen müssen ... wie einst sie ihm hinweggeholfen über die peinliche Stunde, da er ihr seine Absicht anvertraute, Agathe zur Frau zu nehmen. Grollend fragte sie: »Hast du nie daran gedacht, Vater, daß ein Mann kommen könnte, der mich zur Frau begehren würde?«

»Dich – –?« Wanda – von einem Manne zur Frau begehrt – –? Allerlei Namen fielen ihm ein: Professor Wolter, Doktor Kürer ... Nein ... das war unsinnig. Wanda war eine Kameradin, eine Mitarbeiterin, aber sie war keine Frau, die man heiratete. Und so heiratete eine Hoheneck auch nicht. Doktor Kürer allenfalls, wenn er seinen Titel wieder aufnahm. Obwohl auch das nicht sein durfte. Wanda war für ihn da. Mußte für ihn da sein, bis er es gefunden hatte, was seinem Leben Recht und Agathe eine Zukunft gab. Und im übrigen: Wer heiratete heute ein Mädchen ohne Vermögen aus vornehmem Hause, eine Wissenschaftlern, eine ... Hirngespinste waren das! Ein plötzlicher Aufruhr verstauter Sehnsucht vielleicht...

»Mein liebes Kind ... ich hätte dich für vernünftiger gehalten – –«

»Bedaure, Vater, ich bin nicht vernünftig.«

Kalt, fast grausam stieß sie die Worte heraus.

Er aber wollte sie nicht ernst nehmen. Suchte mit leichter Ironie einer Lage Herr zu werden, deren Peinlichkeit sich für ihn immer mehr vertiefte.

»So ... so ... Dann also, laß hören, liebes Kind, wer der präsumptive Glückliche ist, den du mit deiner Hand zu beehren gedenkst? Daß ich leider nicht imstande bin, dir eine Mitgift zu geben – darüber wirst du den Mann, falls eure« – er suchte das Wort – »Aussprache so weit gediehen ist, hoffentlich nicht im unklaren gelassen haben. Denn da wir niemanden empfangen, so dürfte eine Bekanntschaft, die außerhalb des Hauses angeknüpft ist, vielleicht doch nicht die nötigen Garantien absoluter Ehrenhaftigkeit bieten, und man müßte mit beiderseitiger Enttäuschung rechnen, was mir für dich leid täte.«

Er war zufrieden mit sich, der Fürst Erasmus, da er die Gegenwart all seiner geistigen Kräfte spürte. Schon lange hatte er nicht so klar, so zusammenhängend, so über den Dingen stehend seine Ansicht geäußert.

»Eine Mitgift brauchst du mir nicht zu geben, Vater. Denn obwohl ich die pekuniäre Frage nicht in den Vordergrund stellen möchte: Dein Leben hoffe ich dir wieder aufbauen zu können.«

Durch die schlanke, vornübergeneigte Gestalt des alten Herrn ging ein Ruck. Seine Augen flammten auf. Hatte Wanda das Heliogas gefunden? Hatte sie – ohne seine Hilfe – der Natur das letzte Geheimnis entlockt? Es war mehr als Bedauern und weniger als Neid, was ihm jetzt das Herz zusammendrückte. Aber immerhin ... es war sein Kind, seine Schülerin – die das Ziel erreicht hatte, nachdem er selbst so viele Jahre gegiert.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht dem allem« – sie wies auf den Tisch mit dem durcheinandergeworfenen Gelehrtengerät – »meinem zukünftigen Gatten verdanke ich diese Möglichkeit. Du wirst in dein Dresdener Palais ziehen, wirst Agathe ein wenn auch nicht luxuriöses, so doch sorgenfreies Leben bieten können. Deine alten Beziehungen aufnehmen, wenn du willst. Alles das wird dir durch meine Heirat ermöglicht werden.«

Fürst Erasmus schloß beide Hände um eine Stuhllehne, über der noch Wandas Laboratoriumskittel hing. Sie sah das mühsam verhaltene Beben seiner Arme. Hastig, knarrend löste sich die Frage von seinen weißen Lippen: »Wer ist denn der Mann?«

Für die Dauer eines Augenblicks versagte ihr der Mut.

»Ein Mann aus unseren Kreisen? Ich frage dich, Wanda – antworte.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ein Mann der Wissenschaft? Sag' ... rede ... ein Arzt? Ein ... ein Künstler? Es gibt große, vornehme Künstler ... Maler, Bildhauer ... Schriftsteller ... Nein?«

»Nein.«

Er atmete erleichtert auf. Forschte eigensinnig und doch beinahe ein bißchen beruhigt: »Ein Gutsbesitzer, nicht wahr? Ein ... also zugegeben ... ein bürgerlicher Landwirt.«

Dieses furchtbare Frage- und Antwortspiel mußte abgekürzt werden. Ihre Nerven drohten zu versagen.

»Ja ... wenn du willst, Vater – auch das. Er besitzt Land ... sehr viel Land. Wie ein König ist er in seinem Land.«

»Wo?«

»In Amerika ... Südamerika ...

Es wurde still.

»So weit würdest du fortziehen, von mir und unserer Arbeit?«

»Laß das doch,« schnitt sie erregt ab. »Du hast mein und dein Vermögen in diese fruchtlose Arbeit gesteckt – ein drittes Vermögen für den gleichen Zweck könnte ich nicht aufbringen – würde ich nicht aufbringen wollen.«

Seiner Augen kurzes Leuchten erlosch. Seine Stimme hatte einen zitternden, wehen Unterton, als er sagte: »Nie hätte ich solch eine Antwort von dir ... gerade von dir für möglich gehalten. Bist du denn fühllos, du? So wie deine Mutter?«

»Nicht, Vater, nicht!«

Sie riß sich los aus der harten Umklammerung – hob abwehrend die Hände. Nur nichts hören aus dem Munde dieses Mannes, was ihn erniedrigte, was das Andenken ihrer Mutter beschimpfte und was doch nur greisenhafte, hilflose Auflehnung sein konnte gegen die Unerbittlichkeit des Schicksals.

»Wie heißt der Mann? Seinen Namen will ich wissen, den Namen des Mannes, der von der Straße hier einbricht, um sich eine Hoheneck herauszustehlen?«

»Der Name sagt dir doch nichts ... Was soll ein Name ...«

»Das überlasse mir. Oder wärst du feige – –«

»Tom King,« gellte da ihre Stimme durch den Raum. Und sie wiederholte wie in einem Fieberschauer: »Tom King, Tom King ... jetzt weißt du ihn, den Namen, Tom King ...«

Lautlos wiederholte er die zwei Silben, und seine Augen weiteten sich mehr mit jeder Bewegung seiner Lippen, und seine Adern schwollen in dem feinen, hageren Gesicht an, daß sie wie knorrige Wurzeln die dünne, bleiche Haut zu sprengen drohten.

»Einen Athleten gibt es dieses Namens, einen, der sich für Geld sehen läßt – der seine Muskeln ausstellt und sein nacktes Fleisch begaffen läßt ... Tom King ... ja., ich erinnere mich ... Der Kerl aus dem Wintergarten ... ein Boxer ... Ja ...«

Ganz leise fielen die Worte in die Stille, vereinzelt gleich schweren Erbsen, die auf ein Sieb fallen.

Wanda stand da, die Augen starr und furchtlos auf den Vater gerichtet. »Er ist es, Vater ... er ist es.«

Da sauste etwas durch den Raum und fiel splitternd zur Erde. Es war der Stuhl, der in Greifnähe des Fürsten gestanden hatte. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. »Dirne ... Dirne! Du und deine Mutter – ihr beide. Dirnen seid ihr: Mutter und Tochter!«

Seine Stimme überschlug sich. Seine Hände rissen die Schürze, in die er sich eingekrallt hatte, in Fetzen, die er Wanda ins totenblasse Gesicht schleuderte.

»Ja, sieh mich nur an, du Kind einer schamlosen Dirne ... Wage es nicht mehr, mich Vater zu nennen. Wage es nicht! Der Kugel, die deinen Boxer trifft, und sollte ich ihm die Nächte auflauern – dieser Kugel würde eine zweite folgen – für dich ... Lauf', zeig' mich an! Lauf' rasch, oder ich vergreife mich an dir ... deinem Hals! ... Her mit deinem Hals ... deine Mutter will ich mit in dir erwürgen ... Dafür, daß sie dich geboren, will ich sie erwürgen ... jetzt nach ihrem Tod ... In dir ... du Dirne ... du!«

Er stürzte nach vorn. Die Tür wurde von außen aufgerissen. »Erasmus! Erasmus!«

Nie hatte Agathes Körper sich so fest an den seinigen geschmiegt wie jetzt.

»Agathe ... meine Agathe ...«

Die knochige Hand tastete an ihrem Haar. Es war, als ob seine Augen nichts mehr sähen.

»Jag' sie fort, die Dirne ... jag' sie fort, Agathe! ... Sie besudelt dich, wie sie mein Haus besudelt. Jag' sie fort, oder ...«

Er riß sich los, blickte irre suchend um sich, schwang plötzlich ein feines, langes Messer in der Luft.

»Hinaus die Boxerdirne – hinaus!«

Agathe wollte ihn aufhalten. Aber es war ein Tobsüchtiger, der die Waffe schwang und sie zurückstieß. Da warf sie ihm den halbzerschellten Stuhl vor die Füße, und während er stolperte, rief sie mit dem Aufgebot ihrer letzten Kraft: »Jag' auch mich aus dem Haus ... Hörst du – mich. Tom King ist mein Bruder.«

Ein unartikulierter Laut rang sich aus der Brust des alten Mannes, das feine, lange Messer entglitt seiner Hand, seine Augen blickten groß und starr, sein offener Mund verzog sich zu einer schauerlichen Grimasse, dann brach er wie vom Blitz getroffen zusammen.

Draußen klingelte es ein paarmal –

»Es wird das Mädchen sein ... sie soll von drüben nach dem Arzt telephonieren, um Jesu willen rasch ...«

Wanda hob ihren Hut auf und ihr Täschchen, die irgendwo lagen. Sie wußte nicht, was sie tat. Sie faßte auch Agathes Worte nicht. Aber sie ging hinaus, machte die Flurtür auf. Ein Herr stand draußen. Der englische »Stößer« saß ein bißchen schräg auf dem graumelierten Haar.

Sie ging an ihm vorbei, gleichsam ohne ihn zu sehen, ließ auch die Tür weit auf. Sie ging über den Hof, wie sie schon einmal gegangen war – langsam, nachtwandlerisch.

»Ah, da schau her ... Wanda, meine liebe Wanda ...«

Graf Anton Sternfeld blickte ihr nach, verdutzt, fassungslos ... machte ein paar hilflose Bewegungen mit dem Hut: »Ja ... was is denn das nachher?«

Aus dem Hause drangen Stimmen. Alle Türen standen offen. Er ging dem Licht nach, das sich aus dem Laboratorium bis zur Schwelle des kleinen Empfangszimmers durchstahl.

»So kommen Sie doch ... ich kann nicht allein ... helfen Sie doch,« klang es ihm verzweifelt entgegen.

Eine junge Frau erhob sich vom Boden, auf dem eine hagere Gestalt lang ausgestreckt lag mit verkrampften Händen und wachsgelbem Gesicht.

»Jessas Maria ... Jessas Maria ...«

Der Stößer flog in die nächste Ecke. Aber vorstellen mußte er sich doch. »Pardon ... Sie sind doch die Agath', nit wahr? ... Ich bin der Papa ... der Graf Sternfeld aus Wien ...«

»Is nicht mehr nötig, Graf Sternfeld ... er weiß die Wahrheit, ich mußt's ihm sagen.«

Graf Sternfeld griff sich an den Kopf. »Ja – das hat g'fehlt! Sind's denn wahnsinnig? Da haben's was recht's ang'stellt ... Himmelsakra ... Himmel ... Gehn's weg da ... Ich heb' ihn schon auf. Tun's lieber nach'm Arzt schicken ... Erasmus ... mach kane G'schichten ... Is ja alles nit wahr ... was dir die Agath' g'sagt hat ... bei Gott und Seligkeit ... Ich adoptier's, du ... Hörst, Erasmus, ich adoptier's ...«

Er schrie es dem Ohnmächtigen in die Ohren. Dazwischen schimpfte er: »Einen schönen Pallawatsch haben's ang'richtet. Eine Gans sind Sie. Wollen's denn zum Zirkus gehn, daß Ihnen über Nacht die Schwesternliebe eing'schossen ist? Wollen's den alten Mann umbringen? Wollen's mich ins Kriminal bringen?«

Er wußte offenbar nicht mehr in seiner Angst, was er sagte, der Papa Sternfeld. Himmelsakrament!

»Ich adoptier's!« schrie er immer wieder, als genügte dieses Wort, den alten Mann vom Tode zu erwecken.

Agathe netzte Hals und Stirn des Liegenden mit Kölnisch Wasser, griff zur Salmiakflasche. Da hob Fürst Erasmus die Lider. »Ja ... was ist ... was war ...?«

Seine Augen mit dem toten Blick blieben auf seinem Wiener Vetter haften.

»Seit wann ... was willst du? ... Agathe!«

Und noch einmal: »Agathe!«

Er riß sich aus den Armen des Grafen Sternfeld los – erhob sich taumelnd, sah mit leeren Augen um sich. »Wo ist Agathe?«

Spürte einen heißen Kindermund auf seiner Hand, die Knie trugen das Gewicht seines Körpers nicht – er fiel auf einen Stuhl.

»Jag' sie fort – Agathe ... alle ... jag' sie fort!«

Anton Sternfeld tupfte sein Gesicht mit dem Tuch ab, verbarg seine Ratlosigkeit hinter einer Anzahl krampfhaft-zweckloser Bewegungen: »Sind's nur nit bös, Agath' ... ich hab' da ein bissel über die Schnur g'haut in meiner Aufregung ... Aber z'erst geht die Wanda an mir vorbei, als wann's mich nit sieht, und dann –«

Da schnellte Fürst Erasmus noch einmal hoch auf, und mit kurzem Atem, wie ein Hund, bellte er: »Nenn' den Namen nicht, du! Sie ist tot ... hört ihr – tot. Nie geboren ist sie – ausgelöscht, zerstampft. Keinen Brief, keinen Laut, keinen Atemzug von denen dort zu uns – solang ich lebe – schwör mir's, Agathe.«

»Ich schwör' es dir, Erasmus,« sagte Agathe tonlos mit weißen Lippen.

»Schaff' ihre Kleider fort, ihre Sachen – nichts darf mehr hier sein von ihr – keine Stecknadel, kein Bild ... nicht von ihr, nicht von ...«

Er ließ plötzlich beide hagere Hände auf Agathes Schultern fallen, krallte sich ein in den dünnen Stoff ihres Kleides.

»Wenn ich wüßte, daß du ... du ... mich noch einmal belügst, daß du heimlich etwas verwahrst, verbirgst, was keinen Raum mehr haben darf in meinem Hause –«

In furchtbarer, irrer Drohung starrten seine Augen sie an. Da griff sie langsam in den Ausschnitt ihres Kleides, reichte ihm abgewandt mit bebenden Fingern die alte, vergilbte Photographie. Es war alles, was noch Zusammenhang hatte mit einer Vergangenheit, die sie nicht kannte. »Anderes habe ich nicht.« murmelte sie kaum vernehmlich.

Anton Sternfeld stand da wie angenagelt. Immer wieder brach ihm der kalte Schweiß auf Stirn und Schläfen aus. Eine Situation war das – eine Situation – heiliger Nepomuk!

Die Blicke des Fürsten Erasmus aber sogen sich fest an dem Bild des halbnackten Riesen, der mit der Hand einen Stuhl balancierte, auf dem eine Frau saß, mit einem Knaben auf dem Schoß. Selbstgefällige, lachende Freude an eigener Schönheit und Kraft lag in dem brutalen Athletengesicht des Mannes.

Und Fürst Erasmus erkannte den Mann. Das war Yourka ... der Pferdedieb Yourka – der Bereiter des Moskauer Kaufherrn – der nackt auf dem Rücken des köstlichsten Renners über den Strom geschwommen, um am jenseitigen Ufer in einer goldenen Staubwolke zu verschwinden. Das war Yourka, um den zwei junge, blühende Mädchen ihr Leben gelassen, und der dann sich weiter geabenteuert hatte durch die Länder, unter anderen Namen.

»Der da ist dein Vater, Agathe ... der da?«

Einem heiseren Röcheln gleich rang sich die Stimme von den Lippen des Fürsten. Er zerriß die Photographie. Ganz kleine Papierschnitzel waren es nur noch, die in der Luft herumflatterten.

»Erasmus ...«

Der Anton Sternfeld lehnte, weißer als seine Pikeeweste, an der Wand. Was hatte er getan? Wenn er hätte ahnen können – – der Bub hatte recht ... Eine Schuftigkeit war's gewesen – eine mehr zu den vielen anderen. Er sah plötzlich auch aus wie ein ganz alter Mann, der Graf Anton Sternfeld, und seine Stimme hatte einen wehleidigen, zitternden Klang.

»Wann du willst, Erasmus ... ich nehm' die Agath' mit ... Jetzt gleich ... nach Wien ... soll's wie meine Tochter haben.«

Da war's dem Fürsten Erasmus, als hätte ihm der Anton das Messer mitten ins Herz gestoßen. Alles Grauen der Einsamkeit, der Verlassenheit krallte sich in ihn ein, wühlte sich ihm ins Gehirn, ließ sein Blut erstarren. Aber durfte er sie halten? Und wenn er heute ihr bettelnd zu Füßen fiel und sie blieb – dann gab es für sie ein Warten – nur auf den Tod. »Wenn sie gehen will ...«

Mehr brachte er nicht heraus. Ihm war es, als müßte er sich brüllend vor namenlosem Schmerz auf den Boden werfen. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter. Niemand durfte sehen, was er litt, niemand in seinem Gesicht lesen. Da ließ er es dunkel werden.

»Wenn du mich nicht fortjagst – so bleibe ich, Erasmus ...«

»Mein Kind ... mein einziges, einziges Kind!«

»Himmelherrgott ... Himmelherrgott.«

Heimlich stahl Graf Anton Sternfeld sich aus dem Dunkel heraus.

»Mäderl, armes! Mäderl, armes!«

Erst draußen in der Tiergartenstraße merkte Graf Anton Sternfeld, daß er ohne Hut war. Aber zurückgehen, ihn holen ... in das schrecklich düstre, kleine Haus zurückgehen, wo der Wahnsinn eines Greises die Seele eines Kindes mordete ... eher wäre Graf Sternfeld zu Fuß von der Tiergartenstraße nach Mariazell gepilgert, um seine Sünden abzubeten – –

Jetzt – wann der Dostal nix g'schickt hatte – müßte halt der Xaver aushelfen. Nach dem allem könnt' man eh nit gleich in Berlin auf und davon laufen ...

»Jessas ... Puzi, wie schaust denn aus?«

Die Gräfin Sternfeld schlug beide weißen Hände über dem Kopf zusammen, als ihr Mann vor ihr stand, bleich, mit verquollenen Augen, verdrücktem Kragen und wirrem Haar.

Er legte den Finger auf die Lippen und winkte ihr. ihm ins Schlafzimmer zu folgen.

»Muzerl ... jetzt is' aus! Mußt dem Buben schreiben ... i kann nimmer. Der Erasmus, die Wanda ... die Agath' ... Jessas Marand Joseph ... nit, wann i hundert Jahr alt werd', vergeß i's.«

»Ja ... was denn, um Gott's willen?«

»Schließ die Tür ab, Muzi ... Wann der Dostal recht hält' und die Mariann' doch an der Tür horchen tät ... Alsdann komm her ... ganz nah!«

Und wie kleine Kinder, die sich im Dunkel fürchten, so setzten sie sich Seite an Seite auf ein Bett und hielten einander bei den Händen, während Graf Anton Sternfeld in wehleidigem Geflüster die Tragödie schilderte, die sich während seines Besuches beim Vetter Erasmus abgespielt hatte.

* * *


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