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XXV.

Der Friede zwischen den beiden kriegführenden Mächten war abgeschlossen worden und Lionels Regiment lag im Quartier, der Entlassung seiner Freiwilligen in jedem Augenblicke gewärtig. Jetzt hatten sämtliche Gefahren und Strapazen aufgehört, die Neger in allen Sklavenstaaten waren für freie Menschen erklärt worden und von beiden Seiten die Gefangenen ausgewechselt. Es gab wieder regelmäßig Sold und Verpflegung, – eine angenehme Zeit der Ruhe folgte den durchlittenen Anstrengungen.

Hermanns Eltern schrieben häufig. Sie waren in Chicago zwar schon ganz heimisch geworden, wollten aber doch, wenn alle Stürme schwiegen, in die frühere Heimat zurückkehren und womöglich an der alten Stätte ihr Haus wieder aufbauen. Herr Neubert war daher sehr erfreut, als er hörte, daß sein verstecktes Eigentum sicher geborgen sei, er wandte sich in dieser Angelegenheit sogleich an einen ihm befreundeten Advokaten, der die Sache zur rechten Zeit in seine Hand nehmen sollte.

Auch Philipp schrieb beinahe in jeder Woche mehrere Briefe. »Jetzt sind die Gefangenen ausgewechselt,« hieß es in einem derselben. »Wir haben hier mehrere Hunderte von Halbgenesenen, unter denen sich auch Mr. Mason, der Notar befinden soll. Ich werde zu ihm gehen und der Sache auf den Grund kommen.«

Lionel schüttelte den Kopf. Er dachte an den haßerfüllten Blick, welcher ihn damals getroffen, an Mr. Masons Drohungen und seine spöttischen Worte. Der Notar nahm an, daß das Testament vernichtet sei, die beiden Zeugen waren in der Schlacht geblieben, – wovor hätte er sich also fürchten sollen?

Diese Hoffnung würde sicherlich gänzlich fehlschlagen.

Und in der That kam bald darauf ein zweiter Brief, in welchem Philipp meldete, daß er mit Mr. Mason eine längere Unterredung gehabt habe. »Es waren Zeugen zugegen,« schrieb er, »meine beiden Vormünder, ein Advokat und ein Fabriksbesitzer. Wir baten Mr. Mason, die volle Wahrheit zu sagen, aber er zuckte nur lächelnd die Achseln und behauptete, von nichts zu wissen. ›Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß überhaupt ein Testament vorhanden sei?‹ fragte er mich.

»›Ich glaube es mit Sicherheit behaupten zu können, Sir!‹

»›Etwa durch jenen Lionel Forster selbst? Schenken Sie dem verschmitzten Burschen, der gern ein bedeutendes Vermögen an sich bringen möchte, bei seinen Erzählungen so leicht Glauben?‹

»Und da habe ich dich denn verteidigt, Lionel, da habe ich gesagt, daß du mein liebster Freund seiest und daß deine Lippen nie eine Unwahrheit ausgesprochen haben. Ich wurde bei dieser Rede ganz heiß, ich ereiferte mich so sehr, daß mir die Stimme versagte, aber Mr. Mason blieb bei seinem spöttischen Lächeln, seiner unleidlich kühlen Weise.

»›Weshalb spüren Sie denn so emsig dem nach, was Sie ins Unglück stürzen müßte, junger Herr?‹ fragte er mich. ›Man läßt solche Geschichten an sich herankommen, aber man stöbert nicht in allen finsteren Ecken herum und zieht sie mit eigener Hand förmlich gewaltsam an das Tageslicht!‹

»Mein einer Vormund nickte. ›So denke ich weiß Gott auch!‹ versetzte er.

»Der andere jedoch, Mr. Webbs, der Advokat, schien entgegengesetzter Ansicht zu sein. ›Kollege Mason,‹ sagte er, ›Sie führten ja doch die Geschäfte jenes verstorbenen Mr. Trevor von Seven-Oaks, nicht wahr?‹

»›Ja, Sir. Ich weiß also, daß kein Testament vorhanden war.‹

»›Weshalb sagten Sie denn so eben: ›Man läßt solche Geschichten an sich herankommen! Das verstehe ich nicht.‹

»Da wurde Mr. Mason sehr bleich, seine Augen sprühten Funken. ›Suchen Sie Händel?‹ schrie er. ›Noch liegt mein Arm in der Schlinge, aber später stehe ich Ihnen jederzeit zu Diensten.‹

»Es gab darauf zwischen den beiden noch eine Flut von spitzigen Redensarten, in die ich mich nicht mehr hineinmischte, aber später sagte mir Mr. Webbs, daß er ganz und gar überzeugt sei, Kollege Mason habe in der bewußten Angelegenheit Geheimnisse – und das ist genau auch meine Ansicht. Liebster Lionel, bestimme du, was jetzt geschehen soll. Es quält mich unsäglich, das Verbrechen, welches an dir begangen wurde, es raubt mir allen Mut, alle Lebensfreude. Noch Jahre müssen vergehen, ehe ich mündig bin, lange Jahre! – werde ich das erleben?

»O wüßte mein unglücklicher Vater, wie viel Elend er auf das Haupt seines Sohnes gehäuft, – Lionel, er würde vielleicht –

»Doch lassen wir das alles. Ich weiß, du hast ihm vergeben, das allein kann mich ganz beruhigen.«

Und Lionel antwortete aus Herzensgrund: »Ja, ich habe vergeben, Philipp. Wenn deine Vormünder dir gestatten, mich nach meiner Entlassung aus dem Regimente wieder das Gymnasium auf deine Kosten besuchen zu lassen, dann bin ich äußerst dankbar und werde meinen Weg durch das Leben schon finden. Vielleicht, wenn Herr Neubert hierherzieht, trete ich auch bei ihm in die Lehre. Mache dir meinetwegen keine Sorgen, liebster Philipp, ich will mich schon vorwärts bringen.«

Während dieses lebhaften und erschöpfenden Briefwechsels vollzogen sich fern von beiden jungen Leuten auf dem einsamen Gottesacker, welcher Charles Trevors letzte Ruhestätte barg, ganz andere aufregende Dinge.

Nach Lionels Besuch konnte der würdige alte Totengräber die frühere Ruhe nicht mehr wieder finden, er ging umher und schüttelte den Kopf und flüsterte vor sich hin mit allerlei seltsamen Gebärden. »Wenn ich dieses mit dem zusammenstelle!« sagte er, »dann –«

»Nein, nein ich kann mich unmöglich täuschen. Es ist so und ich wäre in meinen eigenen Augen ein Schuft, wenn ich schweigen wollte.«

Seine Frau sah ihn ganz ängstlich an. »Was gibt es denn nur, Alter, was erregt dich so furchtbar? Man könnte wirklich denken –«

Aber er schnitt ihr die Fortsetzung dieser Rede rundweg ab. »Denke garnichts, Alte, noch weniger aber mache irgend einer Nachbarin Mitteilungen, hörst du! Es handelt sich um Dinge die noch nicht spruchreif sind.«

Damit ging er fort, die würdige Frau im maßlosesten Erstaunen zurücklassend. »Noch nicht spruchreif,« wiederholte sie. »Noch nicht spruchreif!«

Und dann nahm er die Angelegenheit mit dem Eisengitter zuerst in die Hand. Es wurde weggebrochen und die Knechte mußten das ellenhohe Unkraut entfernen. Da lagen auf allen vier Seiten Mr. Manfred Trevors Steine, an denen er sich zu überzeugen pflegte, ob auch das Gitter unberührt geblieben sei, zwölf im ganzen, – die Arbeiter mochten sie mit den Fingern nicht fortschieben, vielleicht aus abergläubischer Furcht, daß irgend ein Spuk sie treffen könne. Ihre Schaufeln mußten den Dienst leisten, zuerst um die geheimnisvollen Steine weit hinaus zu schleudern über die grüne Umfassungsmauer des Gottesackers, dann, um die durcheinander kriechenden, gekrümmten Regenwürmer in den Höhlungen totzuschlagen und zu zerstampfen. Gut, daß jetzt dies unheimliche Wesen ganz aufhören sollte.

Dann wurde der Stein weggenommen und die allgemeine Neugier begann sich an das Ereignis zu knüpfen. Es kamen Leute, um die leere Stelle in Augenschein zu nehmen; man flüsterte und tauschte Vermutungen. Die unsinnigsten Gerüchte schwirrten wie Mückenschwärme durch die Luft.

Auch Lionel hatte dies und das gehört. Er war jetzt aus seinem Regimente entlassen und trug vorläufig wieder die blaue Schülermütze; eng verbunden mit dem einzigen wahren Freunde seines Herzens, bei ihm lebend, fühlte er sich vollkommen glücklich, besonders da auch Ralph und Toby in Philipps Diensten geblieben waren, während Hermann nach Chicago ging, um mit den Seinigen in die Heimat zurückzukehren.

Das ganze Land ruhte aus von den furchtbaren Aufregungen der letzten Zeit, auch Lionel und Philipp, denen jedoch die Angelegenheiten des fernen Grabes hie und da zugeflüstert wurden und die durch diese Gerüchte in erneute Unruhe gerieten. Lionel schrieb an den Totengräber, der ihm indessen nicht antwortete, sondern gerade zu derselben Stunde, in welcher dieser Brief kam, am Grabe des verstorbenen Gutsherrn stand und mit fieberhafter Ungeduld den Arbeiten zusah.

Eine große, ganz erwartungsvolle, von den Schauern des Unheimlichen geschüttelte Menge hatte sich auf dem Kirchhofe eingefunden. Kopf an Kopf gedrängt, umstanden die Leute den Platz, Unsinniges schwatzend, mit blassen Gesichtern, ganz bereit, es ohne Erstaunen zu sehen, wenn irgend ein übernatürliches Ereignis geschehen, oder irgend ein Fabelwesen aus dem geöffneten Grabe aufsteigen werde. Ihre Reihen vergrößerten sich noch fortwährend, bis endlich die Pforten des Gottesackers geschlossen werden mußten.

Zunächst am Grabe standen einige Polizisten und außerdem zwei Gerichtspersonen mit dem Geistlichen des Sprengels und dem Totengräber. Von den Arbeitern war schon nichts mehr zu erblicken, jetzt kam auch der Sarg zum Vorschein, die zerstäubten, verwelkten Kränze, die flatternden Seidenbänder, denen es beschieden war, nach langer Grabesnacht noch einmal von den Strahlen der Mittagssonne überglänzt zu werden. Fast bis auf den Boden drangen schon die Schaufeln der Knechte, dem Totengräber schlug das Herz in der Brust, als habe er ein Unrecht begangen. Noch immer kein Zeichen von – –

Aber ja doch, ja, er hatte sich wirklich nicht geirrt, hatte richtig geschlossen, jetzt war der Beweis zu tage gefördert. Einer seiner Knechte hielt einen verstaubten, mit Schimmel überzogenen Gegenstand hoch empor. »Das finde ich eben zwischen den Kränzen, Gentlemen! – Eine Brieftasche, wie es scheint!«

Zwanzig Hände zugleich streckten sich dem Schatze entgegen, von Auge zu Auge flog der Blick des Einverständnisses. Da auf der Metallplatte des verschlossenen Behälters stand, nachdem ein Tuch säubernd darüber hinweggefahren war, in deutlich erkennbaren Zügen der Name ›Manfred Trevor‹. –

»Gottlob!« nickte der Totengräber. »Gottlob!« –

Die Menge war weniger befriedigt. »Nur eine lederne Brieftasche, weiter nichts!« Und man hatte doch gedacht, daß wenigstens ein Vampyr aus diesem Grabe aufsteigen werde.

siehe Bildunterschrift

Die Auffindung des Testaments.

Der gefundene Gegenstand wanderte nach Richmond in die Hände des Vormundschaftsgerichtes und acht Tage später erhielt Lionel eine Vorladung, um zu hören, was man ihm mitzuteilen habe.

Philipp war nicht citiert worden, für ihn dagegen seine Vormünder und außerdem Mr. Mason, der Notar. Das Gesicht dieses letzteren erschien in wahrhaft erschreckender Blässe, er suchte Lionels Bick, als wolle er durch das Auge desselben geradeswegs in der Seele des Betrogenen lesen und herausbringen, wie viel Gnade oder Strafe er zu erwarten habe.

Lionels Herz schlug schneller. Er durchschaute bei dem ersten Worte des Vorsitzenden den Sachverhalt vollständig, aber nur ein Gedanke beherrschte dabei seine Seele. »Gottlob, daß Philipp nicht gegenwärtig ist!«

Und dann wurde der Inhalt der Brieftasche auseinandergenommen. Ein wohl erhaltenes, eng beschriebenes Dokument kam zum Vorschein, die letztwillige Verfügung des Gutsherrn von Seven-Oaks, das Blatt mit dem Siegel und dem Namenszuge Mr. Masons, des Notars.

Er sah es, er sah die Unmöglichkeit, jetzt noch zu leugnen, und auf seiner Stirn erschienen große Tropfen. Diese Stunde wurde für ihn zum Todesurteil.

Langsam, mit ruhiger Betonung verlas der Vorsitzende den Inhalt des Testaments, der von allen Anwesenden nur dem Notar und unserm Freunde bereits bekannt war. Freigelassen schon vor Jahr und Tag alle diese unglücklichen, auf offenem Markt wie Schlachttiere verkauften Neger, umsonst die Qualen, welche sie durchlitten, die Wunden von den Fangzähnen der Bluthunde, die von den Hieben der neunfachen Geißel, umsonst der Tod aus Verzweiflung, dem so viele anheimgefallen sein mochten. Alles nur die Folge des einen, schrecklichen Betruges.

Lionel wurde in diesem Augenblick anerkannt als der rechtmäßige Erbe von Seven-Oaks, man beglückwünschte ihn, drückte ihm die Hände, man begriff nicht, weshalb der wehmütige Ernst seines hübschen Gesichtes tiefer und immer tiefer wurde.

Armer Philipp! Er kam über diesen Gedanken nicht hinaus.

Mr. Webbs, der Advokat, näherte sich triumphierend seinem geschlagenen, moralisch hingerichteten Kollegen; in den grauen Augen blitzte ein wahres Wetterleuchten.

»Nun, Sir,« sagte er, »Ihr Arm heilt ja wohl wieder, nicht wahr? Aber mit der gebotenen Genugthuung dürfte es windig aussehen. Ich muß nach dem Geschehenen für die Ehre weiterer Bekanntschaft bestens danken.«

Mr. Mason antwortete keine Silbe, er sah aus wie ein Toter.

Lionels Herz begann sich zu regen. Sollte da seinetwegen ein bisher geachteter Mann im falschen Lichte erscheinen?

Er bat um das Wort und erzählte den Richtern, was im Zeltlager zwischen dem ehemaligen Gefangenen und ihm selbst, dem Soldaten der Regierung vorgegangen war. »Mr. Mason hat die Unwahrheit gesprochen,« schloß er, »davon läßt sich nichts wegstreiten, aber er that es aus Gründen, die wenigstens von allem Eigennutz frei sind, aus politischem Hasse, der in diesen schweren Zeiten auch sonst wackere Männer zu Falle gebracht hat.«

Es waren freundliche Blicke, die jetzt auf der Stirn unseres Helden ruhten. Jedes Herz schlug für den unerschrockenen Jüngling, der so kaltblütig den eigenen Vorteil bei Seite setzen konnte, nur um nicht gegen die Stimme des Gewissens zu handeln.

»Wir danken Ihnen, Mr. Forster!« sagte der Vorsitzende. »Und Sie, Mr. Mason, was haben Sie zu antworten? Ist die Erzählung des jungen Mannes in allen Teilen richtig?«

Der Notar nickte. Jetzt zum erstenmale hob er den Blick und gab eine laute, verständliche Antwort. »Mr. Forster,« brachte er mühsam hervor, »ich danke Ihnen. Sie sind ein edelmütiger Charakter! – Wollen Sie mir die Hand geben, Sir?«

»Gewiß!« rief Lionel. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Mr. Mason!«

Der Advokat schien sprechen zu wollen, dann aber schüttelte er nur leicht den Kopf und ging, nachdem er Lionels Hand gedrückt, mit gesenkten Blicken aus dem Zimmer, bitterer bestraft durch die Großmut des Beleidigten, als durch den Haß und die Angriffe der ganzen Welt.

Unser Freund eilte sogleich nach Hause, um dem wartenden Philipp das Ergebnis der Unterredung mitzuteilen. Wie sehr und wie lange auch der Sohn darauf gefaßt gewesen war, seines Vaters Verbrechen durch Thatsachen bestätigt zu sehen, – als die Nachricht kam, da erschütterte sie ihn doch tief.

Also nicht das erschreckte Gewissen hatte den unglücklichen Mann zur letzten Ruhestätte seines Verwandten geführt, – nein, nur die elende Furcht vor einer Entdeckung. Er wußte, daß das Dokument im Grabe lag und verzehrte sich in dem Gedanken, ein Zufall könne es früher oder später zu Tage fördern.

Wie ganz gemein, ganz erbärmlich! –

Philipp weinte glühende Thränen der Scham. »Und was hat der bethörte Mann erreicht?« flüsterte er. »Das Gegenteil von allem, was er beabsichtigte.«

Lionel nickte. »Onkel Charles hütete treulich mein Erbe – auch selbst im Grabe noch. Ein seltsamer Zufall!«

Und dann gedachte er der Worte des schlichten, deutschen Bauers: ›Es gibt gar keinen Zufall, junger Herr!‹ –

Gottes Hand hatte alles so gnädig, so weise zum rechten Ende hinausgeführt.

Lionel zog Philipps Hände herab und sah ihm fest in die Augen. »Ist denn heute Besonderes geschehen?« fragte er treuherzig. »Sind wir nicht auch jetzt noch Brüder und wahre Freunde, wie immer?«

Und das bittere Leid schmolz dahin in dem Bewußtsein einer Liebe, einer Treue, an der weder Zeit noch Wechsel zu rütteln vermochten. –

Später kam Jack Peppers zum Besuch und auch dieser drückte Lionels Hand, als er ihm herzlich Glück wünschte. »Haben Sie nie dem ersten Beginn der Dinge nachgeforscht?« fragte er, »nie daran gedacht, wer den Schuß abfeuerte, von dem Mr. Charles Trevor in die Brust getroffen wurde? Wir sprachen bisher von dieser Angelegenheit, wie ich glaube, nicht.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Und auch diese Unterredung möge die erste und letzte sein,« entgegnete er. »Derartige Dinge bleiben am besten für immer mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckt.«

»Das ist jetzt, nun Ihre Rechte anerkannt sind, allerdings auch meine Ansicht, Sir. Aber hätte man den Kampf gegen Sie aufgenommen, so würde ich als Zeuge erschienen sein, als Sachverständiger vielleicht. Es war Mr. Manfred, der seinen Vetter erschoß.«

Lionel strich das Haar aus dem Gesicht. »Philipp scheint nie daran gedacht zu haben,« versetzte er. »Ich bitte Sie also um völliges Stillschweigen, Jack. Weshalb sollten wir die Ruhe meines armen Freundes unnötig stören?«

Der Trapper nickte. »Gewiß nicht, Sir. Der junge Herr Trevor ist an allen diesen schlimmen Geschichten vollkommen schuldlos, – ich schätze ihn sehr hoch und würde ihm um keinen Preis eine Kränkung zufügen wollen.«

Dabei blieb es. Die ganze, in ihrer Bedeutung so umfassende Veränderung vollzog sich anscheinend unbemerkbar, aber doch in einer Richtung zum Segen für beide Theile. Im Testamente war für Philipps Unterhalt freigebig gesorgt, der arme Krüppel lebte also von dem, was ihm als sein rechtmäßiges Eigentum gehörte, so daß selbst der Schimmer einer Abhängigkeit oder eines drückenden Gefühles den gegenseitigen Beziehungen der beiden jungen Leute fern blieb.

Im Laufe der nächsten Monate kehrte die Familie Neubert in ihre alte Heimat zurück, der verborgene Schatz wurde zu Tage gefördert und das Haus neu erbaut, aber größer und stattlicher als das frühere, mit mehreren Nebenwohnungen, davon eine die Familie Reuter bezog. Nach und nach kamen alle Entflohenen in die Stadt zurück, Handel und Wandel verbesserten sich und aus den trüben Tagen blühte eine neue schönere Gegenwart empor.

Philipp bezog die Universität, um seinen Studien weiter obzuliegen, Lionel ging, nachdem er das Abiturientenexamen bestanden, auf einige Jahre zur landwirtschaftlichen Akademie, dann übernahm er Seven-Oaks und zog von den ehemaligen Sklaven seines Onkels alle, die er ausfindig machen konnte, als freie Arbeiter auf das Gut.

Die Negerhütten waren wieder angefüllt mit einer großen Schar jener schwarzen, geistig unmündigen Geschöpfe, die sich am glücklichsten fühlen, wenn sie nicht selbst zu denken und zu sorgen brauchen. Um den plätschernden Brunnen inmitten des Hofes spielten farbige Kinder, aus den geöffneten Thüren der Häuser erklang zur Feierabendstunde das Zischen der brodelnden Pfannen und das fröhliche Lachen der Frauen wie einst. Im Herrenhause schaltete am Herd Cassy, die frühere Beherrscherin der Küche, während Ralph als Kutscher die alte Livree trug und seine hauptsächlichste Aufmerksamkeit dem Reitpferde des jungen Gebieters zuwandte. Seit den Tagen, in welchen Lionel die Schülermütze trug, war Ajax sehr steif und sehr fett geworden, aber als ein lieber Freund aus glücklicher Kinderzeit erhielt er das Gnadenbrot und wurde täglich spazieren geführt, um die nötige Bewegung zu haben.

Hermann trat als Teilhaber in das Geschäft seines Vaters; er und Lionel blieben auch in Zukunft die besten Freunde.

Was die Witwe Dunkan betraf, so erhielt sie in bestimmten Zwischenräumen eine Summe, die es ihr ermöglichte, ohne eigene Arbeit zu leben und auch ihren ungeratenen Sohn zu ernähren. Benjamin sprach immer von bedeutenden Plänen und weitaussehenden Unternehmungen, aber er regte nie einen Finger, um für sich selbst auch nur ein Stück Brot zu verdienen.

Frau Dunkan ahnte vielleicht, aber sie erfuhr doch niemals, daß es ihr eigener ehemaliger Sklave war, der so großmütig für sie sorgte.

Als der junge Gutsherr von Seven-Oaks eines Tages vor seiner Thür saß und mit Hermann und dem zum Besuche gekommenen Philipp von alten Zeiten plauderte, da erschien in der Allee eine sonderbar aussehende, etwas herabgekommene Gestalt, der das Leben nur selten einen Schimmer seines Glückes, seiner Freuden geschenkt haben mochte, ein Alter mit grauem Haupte und gebeugter Haltung.

Lionel musterte den langsam Heranschreitenden. »Ich sollte den Burschen kennen,« murmelte er, »aber doch ist mir's ungewiß, wo ich ihn gesehen haben könnte.«

Auch Hermann beobachtete die fremde Erscheinung, bis endlich der Mann den formlosen Filz vom Kopfe nahm und die drei Herren achtungsvoll grüßte. Jetzt erkannten ihn vier Augen zugleich, – »Mac Donald der Schotte!« –

»Er selbst!« sagte mit traurigem Lächeln der Alte. »Er selbst und matt und müde vom langen Wege.«

Lionel war ihm bereits entgegengegangen und reichte jetzt dem bebenden Manne freundlich die Hand. »Seien Sie mir willkommen, Mr. Mac Donald,« sagte er. »Was Sie vor Jahren dem kranken Knaben gethan, das wird Ihnen heute redlich vergolten werden. Bleiben Sie auf Seven-Oaks mein Gast, so lange Sie wollen.«

Der Schotte neigte gerührt das Haupt. »So sah ich Sie damals,« sagte er, »so in dieser Umgebung, jung und blühend als Gebieter über einen schönen Fleck Erde. Gottlob, daß die Weissagung jener Stunde in Erfüllung ging.«

Auch Hermann reichte ihm die Hand. »Sie haben sich durchgefragt bis hierher, Mac Donald?« sagte er lächelnd.

»Ja, – in der Hoffnung auf das gute Herz Ihres Freundes. Es ist zu spät, wenn man in der Mitte seiner Jahre das Leben nochmals neu beginnen will; – ich habe es bitter empfinden müssen.«

Lionel führte den Alten in ein Zimmer, das er fortan als sein eigenes betrachten sollte. »Und doch wollen wir in gewisser Weise neu beginnen, Mac Donald,« lächelte er. »Doch wollen wir's! Sie werden irgend eine leichte Thätigkeit erhalten, sollen Ihr Brot selbst verdienen und als ein zufriedener, glücklicher Mensch leben. In den Feierabendstunden sprechen wir dann von alten Zeiten und wie es auf der Insel der Leichenplünderer herging, damals, als wir in der großen Baracke Richard den Dritten aufführten. Wissen Sie's noch? – Erinnern Sie Sich noch, wie Toby, der Neger, die Flucht ergriff, wenn Sie Ihr: ›Ein andres Pferd! Verbindet meine Wunden!‹ hervordonnerten?«

Jetzt lachte Mac Donald. »Der Bursche ist vermutlich noch jetzt bei Ihnen, Mr. Forster?« fragte er.

»Natürlich! – Morgen werde ich ihn Ihnen als Leibsklaven zugesellen, denn von der inzwischen stattgehabten Veränderung der Dinge hat Toby keinen Begriff. Er ist in seinem Bewußtsein immer noch mein Eigentum und befindet sich dabei außerordentlich wohl.«

Lionel drückte die Hand des Schotten und begab sich wieder zu seinen Gästen. Abends aber, als er ganz allein auf der Veranda stand und in den dämmernden Mondschein hinausblickte, da zog durch sein Herz ein Gefühl des stillen, unbeschreiblichen Glückes. Hunderte waren es, die von ihm das tägliche Brot erhielten, Hunderte, die ihn treu und dankbar liebten, – von allen Lebenden zu ihm kam aus weiter Ferne der Schotte, um an sein Herz bittend und getrost zu klopfen, der Erfüllung sicher, – – kann es einen größeren Reichtum, kann es mehr Segen überhaupt geben?

Und die Gedanken des jungen Mannes kehrten zurück zu jenem gütigen Freunde, der seine Jugend beschützt, der noch im Tode sein Recht bewahrt und behütet hatte. »Onkel Charles, lieber Onkel Charles, wie innig danke ich dir!«

*

Druck von Velhagen & Klasing in Bielefeld.

*

Graf Hindenburg

Signatur vom Schmutztitel des antiquarischen Buches


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