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VIII.

Drinnen im Salon verstummte das Lachen, der Redner brach mitten im Satzgefüge plötzlich ab und der Schrei einer Frauenstimme beantwortete denjenigen Benjamins. Es war Mrs. Dunkan, die laut aufkreischte. »Mein Kind! Mein Kind! – Ben, wo bist du?«

Ein ganzer Chorus wiederholte den Ruf. »Ben! Ben!«

Lionel schüttelte den Kopf. »Haben Sie Ihren Verstand verloren, Master Ben?« sagte er. »Wo sind hier Diebe?«

Der Sohn des Friedensrichters schrie indessen nur immer stärker, so daß Lionel schon seines Weges gehen wollte, ohne sich um den ungezogenen Burschen weiter zu bekümmern, aber jetzt hängte sich dieser wie eine Klette an ihn und rief: »Haltet ihn fest, haltet ihn fest, er hat gestohlen!«

Sekundenlang schien Lionel nicht verstanden zu haben, das Unerhörte nicht zu begreifen, dann aber brach die Erkenntnis mit Macht herein, er packte seinen Widersacher, warf ihn zu Boden und setzte ihm das Knie auf die Brust. »Ich will eine Erklärung haben!« keuchte er. »Du elender Feigling, wer gibt dir das Recht, mich zu beleidigen?«

Alles das vollzog sich während weniger Sekunden, in einer kürzern Frist, als sie für die Gäste des Hauses notwendig war, um aus den Gesellschaftsräumen ins Freie zu gelangen. Jetzt aber kamen sie herbei, von allen Seiten zugleich, Mrs. Dunkan und ihr Gemahl den übrigen voraus, die Dame mit gerungenen Händen, immer noch rufend und weinend, bis sie die Gruppe der kämpfenden jungen Leute sah und nun beinahe außer sich geriet.

»Wieder dieser unselige Lionel! – Haltet ihn, haltet ihn!«

Mehrere Herren trennten die Streitenden, andre lächelten. »Zwei junge Schlingel, die einander in die Haare gerieten! – Weiter nichts!«

»Na, wo sind denn die Diebe?« fragte jemand.

»Sprich!« befahl ziemlich unwillig der Friedensrichter seinem Sohn. »Was gibt es? Was meintest du?«

Die tückischen Blicke des jungen Menschen trafen den Sklaven, dessen derbere Kräfte ihn in diesem Moment nicht bedrohen konnten. »Ich ging hier draußen ein wenig auf und ab,« sagte er, »mein Kopf schmerzte stark, da wollte ich Luft schöpfen und« –

»Er lügt!« schrie Lionel, »er –«

»Still!« gebot der Friedensrichter. »Dich wird man demnächst hören!«

Benjamin deutete hämisch lächelnd auf das offene Fenster. »Ich erschrak ganz furchtbar,« sagte er mit erkünstelt treuherzigem Tone. »Lionel sprang plötzlich da heraus und mir beinahe auf den Kopf!«

»Ich? Ich? O mein Gott, das ist zu arg!«

»Gerade du!« wiederholte Benjamin. »Wer denn sonst wohl? Es ist ja sonst niemand hier!«

»Du selbst, Schurke! Du selbst bist aus jenem Fenster gesprungen und du hast bei meinem Anblick vor Schreck laut aufgeschrieen!«

»Die handgreifliche Lüge!« rief Mrs. Dunkan. »Wenn Benjamin wirklich in knabenhaftem Übermute einmal anstatt zur Thür lieber zum Fenster hinausgesprungen wäre, wer wollte es ihm wehren? – Und vollends jener Sklave!«

In diesem Augenblick nahm Mr. Nathanael Forster das Wort. »Gentlemen!« sagte er, »dies Fenster führt in mein Zimmer, ich möchte also, während Sie sämtlich zugegen sind, nachsehen, ob sich meine Koffer unverletzt finden, – Ben hat den Burschen da so bestimmt beschuldigt, daß etwas Mißtrauen gerechtfertigt scheint.«

»Sicherlich!« tönte es im Kreise. »Das ist nur billig!«

»Solch unangenehme Störung!« seufzten heimlich die tanzlustigen jungen Leute.

Mr. Forster ging ins Haus, und ließ sich von einem der Diener eine Lampe bringen. Schon, als der erste Lichtstrahl in das Zimmer fiel, rief er mit mit lauter Stimme: »Aha, da haben wir es! Mein Koffer ist erbrochen!«

»Lionel hat's gethan!« rief Benjamin.

Eine Art von wilder Verzweiflung bemächtigte sich unsers verleumdeten Freundes. »Bei Gottes Gegenwart!« rief er, »bei allem, was heilig ist, – Benjamin lügt! Er selbst sprang aus jenem Fenster!«

»Er also wäre es, der fremde Koffer erbricht? O Dunkan! Dunkan! Gehen dir jetzt die Augen auf? Siehst du ein, wie entsetzlich dein Kind von jenem elenden Sklaven beleidigt wird?«

Der Friedensrichter winkte ärgerlich. »So laß uns doch erst einmal hören, ob überhaupt Gelder gestohlen worden sind, meine gute Mary!«

Jetzt kam Mr. Forster wieder aus dem Hause zurück, er näherte sich dem Sohne dessen, der ihm die bitterste Demütigung seines ganzen vergangenen Lebens zugefügt hatte. Langsam, aber vollkommen deutlich sprechend, sagte er: »Mir fehlen allerwenigstens vierzig Dollar, wahrscheinlich aber noch mehr! – Gestatte, daß ich deinen Sklaven durchsuche, Freund Dunkan!«

»Bitte, bitte, – ich muß sogar darauf bestehen!«

Jetzt war Benjamin plötzlich ein andrer geworden. »Ich weiß, wo das Geld steckt!« rief er. »Lionel hat es unter der Bluse im Gürtel, meine Finger konnten es ganz deutlich fühlen!«

Mr. Nathanael Forster lächelte triumphierend. »Der Apfel fiel also nicht weit vom Stamme!« sagte er in bedeutsamem Tone. »Komm her, Bursche!«

Aber Lionel stieß ihn kräftig zurück. Es war in diesem schweren und schrecklichen Augenblick um seine Besonnenheit vollständig geschehen, er konnte sich nicht beherrschen, konnte den rasenden Zorn, der ihn durchbebte, nicht mäßigen. »Was wollen Sie, Herr?« rief er. »Was bedeuteten die Worte, welche Sie soeben sprachen?«

Mr. Forsters weinrotes Gesicht zeigte das Behagen gesättigten Rachedurstes. »Von deinem Vater war die Rede, du Schlingel! Dieser elende Nigger hat mich um Tausende bestohlen, er täuschte das in ihn gesetzte Vertrauen auf ganz –«

Weiter kam er nicht. Lionel sprang wie eine gereizte Katze auf ihn zu und schlug hin, wo die Faust traf, er prügelte vor den Augen der ganzen Gesellschaft den Millionär, wie man einen widerspenstigen Schuljungen züchtigt, indem er rechts und links gehörige Ohrfeigen bekommt, jene von der inneren, diese, die empfindlicheren, von der Außenseite der flachen Hand. Mr. Forster hatte die Hiebe erhalten, bevor irgend ein Mensch im stande gewesen war, den erbitterten Knaben von ihm loszureißen.

Lionel atmete wie befreit. »Gottlob!« rief er, »Gottlob! Ich habe meinen toten Vater an seinem Beleidiger rächen können! Wie er selbst, als Sie seine Ehre angriffen, Ihnen mit der Reitpeitsche antwortete, so that ich's mit der Faust. Jetzt machen Sie mit mir, was Sie wollen!«

»Das Strafurteil soll dir nicht fehlen,« nickte der Friedensrichter. »Mr. Forster selbst wird es fällen; vorerst aber wollen wir das Geld zu Tage fördern.«

siehe Bildunterschrift

Lionel rächt seinen Vater.

Lionel deutete auf seine Brust. »Es sind fünfzig Dollar in meinem Besitz,« sagte er, während bei dem Gedanken an die schwerwiegende Bedeutung dieser Thatsache ein Strom von Hitze durch alle seine Adern rann, »doch ist natürlich die Summe nicht das dem Herrn Forster gestohlene Geld. Von letzterem weiß ich nichts.«

Der genannte Herr hatte sich noch nicht hinlänglich erholt, um schon wieder sprechen zu können; er lag halb ohnmächtig vor Wut auf einer Bank und wurde von den Damen reichlich mit wohlriechenden Essenzen übergossen, während sich die Herrenwelt mehr um Lionels Angelegenheit bekümmerte und namentlich der Friedensrichter, außer sich über die verursachte Störung des Festes, jetzt sehr energisch bemüht war, den Zwischenfall so schnell als möglich aus der Welt zu schaffen. »Eine verrückte Ausrede!« sagte er, die Achseln zuckend. »Du hattest, als ich dich kaufte, keinen Cent!«

»Damals nicht, nein!«

»Woher willst du es denn auf ehrlichem Wege später erworben haben, he?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir! Sie haben mich immer gut behandelt, es ist mir daher sehr unangenehm, Ihnen nicht offen antworten zu dürfen, aber die Rücksicht auf dritte Personen zwingt mich zu schweigen.«

Mr. Dunkan lächelte spöttisch. »Du bist offenbar äußerst zartfühlend,« bemerkte er, »nur schade, daß dabei für dich selbst wenig Vorteil herausspringen wird. Nochmals, Bursche – denn du bist ja fast noch ein Knabe – willst du den Ursprung des Geldes nennen?«

»Nein! So wahr mir Gott helfe, ich habe keinen Cent gestohlen, ich bin nicht in Mr. Forsters Zimmer gewesen, aber eben so wenig kann ich über den Erwerb der fünfzig Dollar irgend eine Andeutung machen.«

Der Friedensrichter zuckte die Achseln. Vielleicht hatte es für den erfahrenen Beamten nicht der langen Verhandlung bedurft, um in Lionels Seele die Wahrheit seiner Aussage klar zu erkennen, vielleicht durchschaute der erschreckte Vater mit heimlichem Entsetzen den Sachverhalt auf das allergenaueste, aber – gerade deshalb mußte er unbeugsam bleiben. Sein Sohn, der Träger seines Namens konnte kein Geld gestohlen haben.

»Sammy!« rief er mit lauter Stimme in den Hof hinaus.

»Sir!«

Die Gäste traten unwillkürlich etwas zurück; der Mulatte mit seiner unvermeidlichen Peitsche erschien in einer breiten Gasse, die sich vor seinen Schritten gebildet hatte, er grüßte stumm die Versammelten und blieb dann wartend, breitspurig vor Mr. Dunkan stehen.

»Sammy, hier nimmst du diesen Burschen mit dir und führst ihn in das Gefängnis. Da! ich habe Eile!«

Er deutete auf unsern Freund und Sammy streckte sogleich mit phlegmatischer Gebärde die Hand aus, um sie auf Lionels Schulter zu legen. »Komm, Jüngelchen!« sagte er.

Ein Druck seines Daumens, fühlbar und gedankenschnell angebracht, sprach indessen durchaus anders. »Da hinaus,« sagte er. »Laufe was das Zeug halten will!«

Und Lionel verstand ihn vollkommen. Sein gewaltiger, plötzlicher Ruck schien den festen Griff des Prügelmeisters abzuschütteln, – wie ein Blitz vom Himmel fährt und spurlos den Blicken entschwindet, so schoß er in die Lücke hinein und war von der Finsternis verschlungen, bevor noch Sekunden vergingen.

Sammy sah ihm mit gut gespieltem Erstaunen nach. »Eh!«, sagte er. »Ist unklug geworden, der Junge?«

Mr. Dunkan runzelte hie Stirn. »Sammy!« rief er, »wo ist dein Schlüssel?«

»Hier, Sir!«

»Gut, dann mag der Schlingel laufen, bis ihm die Lust dazu von selbst vergeht. Er kann weder die Pforte öffnen noch hinüberklettern!«

Das letzte unerwartete Ereignis schien indessen die Lebensgeister des geprügelten Kentuckiers vollständig wachgerufen zu haben, er sprang plötzlich empor und schüttelte die Faust. »Das geht so nicht, Dunkan!« rief er in herrischem Tone, »ich will zu meinem Rechte gelangen, indem ich diesen Sklaven exemplarisch bestraft sehe! Gott weiß, welche Schlupfwinkel ihm offen stehen! – Auf, meine Herren! Auf! Wir müssen ihn wieder haben!«

Die Damen waren schon vorher vom Schauplatz der Dinge verschwunden, ebenso die jüngeren tanzlustigen Herren; nur solche ältere Leute befanden sich noch draußen, die an der Sache selbst ein Interesse nahmen, aber gerade diese stimmten in ihren Ansichten mit denen des Kentuckiers vollkommen überein, sie stürmten ihm nach, als er vorauslief, um selbst den entflohenen Sklaven wieder einzufangen.

»Sammy!« rief der Friedensrichter, dem alles daran lag, sich Mr. Forsters Freundschaft zu erhalten. »Sammy, wo ist dein Hund?«

Der Mulatte pfiff. »Warp!« rief er. »Warp!«

Ein Geheul aus ziemlicher Entfernung beantwortete den Lockruf; die Dogge war offenbar eingesperrt und konnte nicht hinaus in Freie.

»Ich muß zufällig die Thür hinter mir ins Schloß gedrückt haben,« meinte mit der harmlosesten Miene der Peitschenschwinger.

»Dann öffne sie jetzt wieder!« gebot der Friedensrichter. »Folgen Sie mir, meine Herren!« setzte er gegen seine Gäste gewendet hinzu. »Der Flüchtling kann uns auf keinen Fall entrinnen!«

»Ich will dir den Burschen abkaufen, Dunkan,« warf Mr. Forster ein. »Du darfst immerhin einen tüchtigen Preis fordern, er soll bewilligt werden.«

»Ah, gut, mein alter Natty, gut. Die Sache wird sich schon machen.«

Und der würdige Mann überlegte, daß ihm dies Angebot willkommen sei wie ein Mairegen, er brachte nicht allein eine respektable Summe ins Haus, sondern erlöste auch zu gleicher Zeit von allerlei Übeln. Nach dem Vorgefallenen hätten Lionel und Benjamin doch nicht wohl ferner unter einem Dache leben können.

Jetzt brachte der Mulatte den Hund, worauf sich der ganze Zug gegen die äußere Pforte in Bewegung setzte. Warp stürmte bellend in großen Sprüngen voraus, ihm folgten die Herren, denen es hier unter den dichten Bäumen vollständig an Licht mangelte. Die Finsternis war so stark, daß man kaum seine ausgestreckte Hand erkennen konnte.

»Natty!« rief Mr. Dunkan. »Bist du es, der mich am Arm hält?«

»Alle Teufel, nein! Was geht hier vor? – Das sind Schwarze, – Nigger!«

Ein Schrei der Überraschung brach sich Bahn. »Was wollt ihr, Kerle? Gebt Raum, oder ich lasse euch samt und sonders durchpeitschen!«

Es antwortete niemand, aber die undurchdringliche Mauer lebendiger Körper wich auch nicht um Haaresbreite. Wo Mr. Dunkan oder seine Begleiter gewaltsam durchbrechen wollten, da stellte sich ihnen das Hindernis entgegen, wo sie einen erhobenen Arm zurückschlugen, da erstanden aus dem unheimlichen Dunkel wie auf Verabredung zehn andere.

Es wurde auf der ganzen Linie gerungen, stumm und erbittert, warmes Blut träufelte zu Boden, hier oder dort lag im aufgewühlten Sande eine menschliche Gestalt ohne sich zu bewegen, aber die feste Reihe der Neger war nicht durchbrochen worden.

Der Friedensrichter gab den Kampf auf. Über zweihundert Schwarze lebten in seinen Hütten, – wie wäre es möglich gewesen, hier die Schuldigen herauszufinden? Und wenn sie an der Meuterei sämtlich beteiligt gewesen wären, – konnte er alle zweihundert peitschen lassen?

»Geben Sie nach, Dunkan,« raunte jemand in sein Ohr. »Man muß zuweilen nicht sehen oder hören wollen.«

»Das denke ich auch. Dazwischen schießen wäre eine leichte Mühe, aber die Getroffenen kosten mir mein gutes Geld.«

»Und der geriebene Bursche ist ohnehin längst über alle Berge!«

Mr. Dunkan nickte gelassen. »Und wenn er wirklich über die Umfassungsmauer gekommen wäre, – aber es ist undenkbar! – so fange ich ihn doch wieder ein. Wohin will er sich wenden? Mir, dem Friedensrichter, wird man hoffentlich so leicht keinen Sklaven stehlen!«

Er versuchte es, seinen Verwandten aus dem dichten Gewühl hervorzuziehen, aber Mr. Forster gab nicht eher nach, bis ihm die Perücke abgerissen und die elegante Kleidung zerfetzt war. Uhrkette, Busennadel, Medaillon, alles lag in Trümmern auf dem Kampfplatze, während der Millionär selbst, schnaufend vor Zorn, von Herrn und Frau Dunkan verpflegt und verpflastert wurde, um nur erst einmal wieder in dem beinahe leeren Gesellschaftssaal erscheinen zu können. Die anständigeren unter den Gästen hatten sich ohne Aufsehen entfernt, es blieb nur noch jener Rest, den gerade ein kleiner Skandal am meisten anlockt und von diesen guten Leuten sah sich der Friedensrichter neugierig umringt, während Mr. Forster wie ein angeschossener Eber tobte und zehnmal in derselben Minute schwor, er werde diesen Lionel nur kaufen um ihn totpeitschen zu lassen. –

Und er selbst, unser verfolgter Freund, – wo war er?

Seine flinken Füße trugen ihn an den Gebüschen vorüber und auf den offenen Hof hinaus, während es noch keinem der Anwesenden eingefallen war, ihn zu verfolgen. Eine schwarze Hand legte in die seinige einen Schlüssel, hie und da rief es in unterdrücktem Tone: »Wir helfen dir!« – dann flog er weiter bis an die Mauer, öffnete das Eisenthor und stand mit wildschlagendem Herzen draußen auf der offenen Straße.

»Frei! Frei!« – –

Nur der Gefangene, der Sklave kann ermessen, welch einen Jubel der Gedanke birgt. Frei! Soweit die Welt offen daliegt, frei! – –

Aber doch nur so lange, bis die Verfolger ihm nachsetzten und ihn überholten, das fiel wie ein kalter Wasserstrahl auf die erste Freude und trieb den glücklich Entronnenen eilends davon, um vor allen Dingen ein Asyl, eine Unterkunft zu suchen.

Wohin nun?

Die Frage entstand erst jetzt. Bis dahin hatte es nur geheißen: Fort! Fort! – aber im Verfolge dieses Gedankens mußte sich auch die Stätte finden, an der ein sicherer Schutz den Flüchtigen erwartete, oder es war alles umsonst gewesen. Wohin? Wohin? – Sein Herz schlug wie ein Hammer gegen die Brust.

Zu den freundlichen Leuten, bei denen Frau Neubert mit ihren Kindern Aufnahme gefunden, durfte er sich gewiß bittend wagen, sie waren Deutsche und würden keinen Bedrängten im Stiche lassen, das wußte er. Ein Ruck warf den schweren Schlüssel wieder über die Pforte zurück, dann eilte Lionel davon, um auf Umwegen die ihm wohlbekannte Behausung des Herrn Behrens im deutschen Quartier der Stadt so schnell als nur irgend möglich zu erreichen.

Der Weg war weit, aber es lagen vor dem Flüchtigen auch mehrere Stunden vollkommener Dunkelheit, Lionel übereilte daher nichts, sondern überzeugte sich bei jedem Schritt, ob auch kein Verräter in der Nähe sei. Gleich Herrn Neubert, nur von der entgegengesetzten Seite mußte er den Bach durchwaten und in den Furchen der Baumwollenfelder dahingehen, bis endlich das deutsche Viertel vor ihm lag und nun die Gefahr näher rückte.

Schlürfenden Schrittes humpelte ein uniformierter Wächter zwischen den Häusern dahin, lange schwarze Schatten fielen von den Giebeldächern auf das Halbdunkel des sandigen Weges, mageren, verhungerten Hunden zum Asyl dienend, Scharen von Katzen beherbergend, gleichsam die Zusammenkunftsorte der Ausgestoßenen, deren Tisch nirgends mehr gedeckt wurde, seit der Hunger in jede Thür sah und selbst für die Menschen ein empfindlicher Mangel eintrat. Hie und da strich wohl auch ein Geier hart an den Wänden dahin, um womöglich von der aus dem Rinnstein gezogenen Beute noch einen Anteil zu erlangen, während in den Schlupflöchern der Kanalroste die schwarzäugigen Ratten lungerten, bereit, die allerkleinsten Bissen wegzuschnappen, überall da Nachlese zu halten, wo die größeren Räuber ihre Feste gefeiert hatten.

Da drüben lag das Haus des Herrn Behrens mit seinem kleinen Vorgarten und dem schmalen, zum Hofe führenden Gange, – ihn mußte Lionel erreichen.

Alles war dunkel und still rings umher, die Menschen schliefen noch fest, kein Tagewerk hatte bis jetzt begonnen. Wo doch der Wächter blieb?

Seine Schritte näherten sich und verhallten wieder, – nun mußte das Wagnis unternommen werden. Mit drei Sätzen flog Lionel über die Straße.

Jetzt war das Hauptsächlichste geschehen. Unser Freund schlich am Hause hin und bis zu dem Schuppen auf dem Hofe. Sollte er klopfen?

Die Hand war schon ausgestreckt, aber Lionel zog sie im gleichen Augenblick auch bereits wieder zurück. Ohne Zweifel kamen mit Tagesanbruch die Verfolger hierher, um ihn zu suchen, es war also besser, seine unfreiwilligen Quartiergeber wußten von nichts, damit sie ihre Unbefangenheit vollständig bewahrten. Ein Blick, ein Laut hätten dem scharf beobachtenden Friedensrichter alles verraten.

Lionel dankte dem Himmel, daß die allgemeine Not des Landes Herrn Behrens längst gezwungen hatte, seinen Hofhund abzuschaffen; das Bellen eines solchen Tieres würde ihn jetzt vielleicht ins Unglück gestürzt haben. Er probierte die Thür des Schuppens, sie gab nach, – mit dem Gefühl unsäglicher Erleichterung schlüpfte der Knabe in den dunkeln Raum, dessen Wände ihn wenigstens vorläufig allen fremden Blicken entzogen.

Tastend ging er durch den Schuppen, um sich zu orientieren. Arbeitsgeräte aller Art, eine Hobelbank, ein Haublock, eine Handkarre und dergleichen mehr, dann aus dem Winkel hervor ein leises Atmen. Da lag die Ziege mit ihren beiden Jungen auf duftendem Heu.

Weiterhin stand eine Leiter. Lionel kletterte hinauf. Die offene Bodenluke ließ ihn passieren, dann sah er im helleren Schimmer um sich her. Hier lagen mehrere Fuder Heu, sonst nichts.

»Davon baue ich mir eine regelrechte Festung,« dachte unser Freund, »ich lege mitten durch das Heu einen Gang bis zur entgegengesetzten Mauer an und verschanze mich in aller Form.«

Fürs erste aber streckte er sich doch auf das lockende Bett und ließ die letzten Ereignisse nochmals an den Augen seines Geistes vorüberziehen. Der Zorn des Friedensrichters kannte natürlich keine Grenzen, er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um nicht allein den verlorenen Wert wieder zu erlangen, sondern namentlich, um eine ausgiebige Rache zu nehmen, – aber ohne die Beihilfe der Dogge konnte er freilich nichts ausrichten.

Lionel fühlte einen Schauder in allen seinen Adern. Sammy hatte ihm einmal das Verfahren gezeigt. Er nahm ein Kleidungsstück, das der Entflohene getragen und rieb damit die Schnauze des für Negerjagden dressierten Tieres, dann wurde dieses in Freiheit gesetzt, um meistens die Fährte nicht zu verlassen, als bis das Opfer tot oder lebendig wieder in den Händen seiner Verfolger war.

Lionel glaubte einen Augenblick, statt der Luft flüssiges Feuer zu atmen, er schien ersticken zu müssen, aber dann kam ihm ein anderer Gedanke. Sammy besaß in jenem Dachwinkel, den er als Magazin benutzte, unter anderem auch ein Fläschchen mit wasserhellem Inhalt, das hatte er einmal lächelnd und triumphierend gezeigt. »Ein paar Tropfen auf Warps Nase und mein Hund hat den Stockschnupfen, du, er findet den geflüchteten Nigger nicht, und wenn er ihm so nahe steht, daß er einen Knochen aus seiner Hand nehmen könnte.«

Ein Lächeln überflog bei der Erinnerung an den gutmütigen Riesen Lionels Gesicht. Sammy prügelte ohne irgend eine gefühlvolle Anwandlung jeden, der zu Stockschlägen verurteilt worden war, Alte und Junge, Fremde und Bekannte, aber er hatte auch einen kleinen Kreis seiner besonders Vertrauten und diese nahm er in Schutz. Seine Dummheit und Langsamkeit wurden in solchen Fällen zum Bollwerk, das ihn unangreifbar machte, aber in aller Stille verbarg sich dahinter ein breites, schlaues Grinsen, das doch regelmäßig den Sieg verkündete.

Ja, gewiß, Sammy würde den Inhalt des bewußten Fläschchens zur Anwendung bringen und dadurch Warps furchtbare Waffen gänzlich lähmen.

Während dieser Betrachtungen war es Tag geworden und Lionel begann nun, sich durch das Heu zu wühlen. Zuerst machte er einen geraden Gang und dann hinter dem Haufen an der Mauer eine Lagerstätte. Als letztes Werk schloß er, vorn beginnend, den Schlupfweg so geschickt wieder zusammen, daß keine Spur dieser Minierarbeiten zurückblieb.

Nun war die Festung vollendet, leider ohne Proviantvorräte, das machte sich bereits jetzt störend bemerkbar, aber diese kleine Unannehmlichkeit mußte einstweilen geduldig in den Kauf genommen werden. Lionel streckte sich auf sein Lager und schloß die Augen, er wollte zwar nicht schlafen, aber es war doch so angenehm, ein wenig zu ruhen; er dachte über dieses und jenes nach, endlich auch über den Inhalt des Fläschchens, das Sammy im Dache verbarg.

»Du wirst doch Warps Schnauze zur rechten Zeit einschmieren?« fragte er halblaut.

Und dann sah er den Mulatten grinsen und nicken. Wie kam Sammy hierher auf den Dachboden des Schuppens?

Kuriose Geschichte das.

Im Neste erwachte das Schwalbenpaar und rüstete sich zu seinem ersten Fluge in den Sonnenschein, um junge, unerfahrene Mücken wegzuschnappen. – Lionel schlief fest, während rings um seine Freistatt her das Getriebe des Tages neu begann.

*

Zwei Stunden später saß die Familie Behrens mit ihren Gästen um den Frühstückstisch versammelt. Da gab es weder Kaffee noch Zucker, weder Butter noch Backwerk, sondern nur grobes Hausbrot und eine bescheidene Biersuppe, aber Herr Behrens bot, was er besaß, der Frau und den Kindern seines unglücklichen Freundes mit so vieler Herzlichkeit, daß von keinem Teilnehmer des kleinen Mahles die feineren Genüsse vermißt wurden, besonders heute, am vorletzten Tage des Zusammenseins.

»Wären wir doch um eine halbe Woche weiter!« seufzte Frau Neubert. »Ich möchte vor Angst vergehen!«

»Hätte ich nur Lionel erst befreit!« meinte Hermann. »Sammy will ihm meinen Brief zustecken, wie er bestimmt versprochen hat.«

»Das alles steht in Gottes Ratschluß!« sagte ruhigen Tones der Hausherr. »Es ist vergebens, die Zukunft durchschauen zu wollen, ehe sie Gegenwart wurde und es wäre nicht einmal ein Gewinn, wenn wir es wirklich vermöchten. Vertrauen und hoffen, Gott um seinen allmächtigen Segen bitten, das ist alles, was wir thun können.«

In diesem Augenblick sah Hermann zufällig aus dem Fenster. »Was kommt da?« rief er. »Der Friedensrichter mit noch vier anderen Herren! – Wahrhaftig, auch Sammy ist bei der Gesellschaft – und die Dogge!«

»Dann wird ein Schwarzer entflohen sein!«

»Gott erbarme sich des Unglücklichen!« seufzte Frau Neubert.

»Herr Behrens!« rief Hermann, »sehen Sie doch nur! Sollte man nicht denken, die Leute kämen hierher?«

Der Hausherr erhob sich. »Mögen Sie doch!« sagte er. »Von einem ehrlichen Manne haben wir nichts zu fürchten.«

Die Gesellschaft näherte sich jetzt der Hausthür und eine Sekunde später klopfte der Friedensrichter mit dem Stocke gegen dieselbe. Das klang mehr wie ein Befehl, als wie eine Bitte um Einlaß.

Herr Behrens öffnete. Aus dem Hintergrunde des Zimmers sahen alle Anwesenden hinüber zum Flur, der sich jetzt mit den Fremden füllte. Die Dogge nahm wie das zahmste Schoßhündchen ihren Platz an der Seite des Mulatten.

»Guten Morgen, Herr Behrens!« grüßte der Friedensrichter. »Wir kommen in einer fatalen Angelegenheit, die Ihnen indessen auf mein Ehrenwort keinerlei Verdruß zuziehen soll, wenn Sie nur ganz offen die Wahrheit sprechen!«

Herr Behrens verbeugte sich etwas spöttisch. »Es war meines Wissens niemals meine Gewohnheit zu lügen, Herr Friedensrichter!«

»Well! Dann sehen Sie mich offen und ehrlich an. In Ihrem Hause lebt die Familie Neubert, nicht wahr, Sir?«

»Ja!«

»Gut. Der Sohn derselben ist ein vertrauter Freund des Sklaven Lionel, den er früher auf Seven-Oaks zu besuchen pflegte, mit dem er auch in letzterer Zeit gern noch gelegentlich ein Wort wechselte. Habe ich recht?«

»Ja, Mr. Dunkan. In dem allem ist hoffentlich nichts Verbotenes.«

»Durchaus nicht. Aber nun kommt meine Frage. Hat der Sklave Lionel hier bei Ihnen einen Zufluchtsort gesucht?«

»Ob sich Lionel hier in diesem Hause befindet?«

Die Familienglieder sahen einander an. Niemand verstand, was der Beamte meinte. »Ist denn Lionel entflohen?« fragte endlich Hermann.

»In dieser Nacht, ja!«

»O Gott im Himmel, der Arme!«

Herr Behrens bewegte die Hand. »Suchen Sie, wo Sie wollen, meine Herren, Sie werden indessen nichts finden. Niemand von uns hat den jungen Menschen gesehen.«

Die fremden Herren wechselten Blicke. Der Friedensrichter zuckte sogar kaum merklich die Achseln. »Die Leute wissen von nichts,« sagte diese Bewegung. »Es war verlorene Mühe, den Burschen hier zu suchen.«

»Wir könnten aber doch Warps Scharfsinn zu Rate ziehen!«

»Sehr gern, obgleich ich mir auch davon keinen Erfolg verspreche. Sammy, reibe deinem Hunde die Schnauze mit Lionels Kleidern!«

Der Mulatte gehorchte phlegmatisch. »Such, Warp!« befahl er. »Such!«

Die Dogge bellte, ihre Augen glänzten blutunterlaufen, die gespaltene Schnauze glitt am Boden von Stelle zu Stelle, beroch und umschnupperte jeden Gegenstand, – dann kehrte der Hund zu seinem Herrn zurück, er hatte nichts gefunden.

Ähnlich ging es in allen übrigen Räumen des Hauses, draußen auf dem Hofe und im Schuppen. Warp konnte keine Spur entdecken.

Mr. Nathanael Forster brummte eine Verwünschung in den Bart, er strich mit der Rechten über die mancherlei Schrammen, welche sein rotes Gesicht aufwies und dann verließ der ganze Zug nach kurzem Gruße das Haus, um die Entdeckungsreise weiter fortzusetzen.

»In Seven-Oaks wird er stecken,« meinte der Friedensrichter. »Vielleicht besitzt er unter den zurückgebliebenen Sklaven noch diesen oder jenen Freund.«

»Vielleicht ist er auf dem Wege nach Richmond! Das gestohlene Geld war ja, wie er selbst zugab, in seinen Händen.«

»Oder er geht mit geraden Schritten zur Nordarmee. Da werden ja die Nigger als gleichberechtigte Brüder empfangen.«

»Alles Böse soll über ihn kommen! Jedenfalls ist er, sobald wir ihn erst einmal eingefangen haben, mein Eigentum, Dunkan, du versprachst es mir!«

»Natürlich, mein guter Natty, natürlich!«

Nur der Mulatte sprach kein Wort. Er streichelte seinen Hund und lachte in sich hinein. »Bist mein gutes Tier, Warp, mein Prachtstück! Sollst auch einen großen Knochen haben!« –

Während sich die Gesellschaft mit schnellen Schritten entfernte, schloß Herr Behrens seine Hausthür und dann sahen die Zurückgebliebenen einander an. Hermann brach plötzlich in Thränen aus. »O mein Gott, wohin kann sich Lionel gewendet haben?« schluchzte er.

Eine peinliche Stille folgte diesen Worten, auch Frau Neubert weinte. Wie der Schatten einer Gewitterwolke lag es auf dem ganzen Hause.

Später ging Herr Behrens ins Geschäft und die Kinder machten sich auf den Weg zur Schule. Hermann schlich ganz trübselig in den Schuppen, wo er, um nicht müßig dazusitzen, auf dem Haublock einiges Holz für den Küchenbedarf zu spalten begann.

Die regelmäßigen Schläge hatten zur Folge, daß Lionel auf seinem Heulager erwachte. Zuerst erschrak er, sein Herz klopfte heftig, aber dann kam die Erinnerung an das Geschehene, – er horchte, ob nicht irgend ein verdächtiges Geräusch in der Nähe sei.

Unten auf dem Hofe gackerten friedlich die Hennen, in der Nachbarschaft jauchzten spielende Kinder, kein Laut verriet, daß die Ruhe des friedlichen Hauses irgendwie gestört sei.

Vom Turme schlug es jetzt acht, – da mußte er also eine hübsche Anzahl von Stunden geschlafen haben.

Die Axtschläge unten im Schuppen verstummten, ganz deutlich erkannte Lionel, daß jemand in der Nähe heftig weine, er stand geräuschlos auf und glitt durch den, nur vorn wieder geschlossenen Gang bis zur Luke. Auf dem Hackklotz saß Hermann und drückte mit beiden Händen das Taschentuch vor sein heißes Gesicht.

Lionel mußte den Grund dieser Thränen erfahren, er durfte aber seine Gegenwart nicht so plötzlich verraten, daß vielleicht dritte, in der Nähe befindliche Personen aufmerksam wurden, daher nahm er eine Handvoll Halme, ließ sie auf Hermanns Kopf herabfallen und zog sich selbst blitzschnell von der Luke zurück.

»Ist jemand oben?« klang es plötzlich zu ihm herauf.

Statt aller Antwort vollführte er ein Geräusch, das Hermann hören mußte und das diesen bewog, sogleich die Leiter zu erklettern. Mit dem Finger auf den Lippen empfing er ihn, mit einer Gebärde, welche stumm, aber doch sehr beredt um Schweigen bat.

Aus nächster Nähe sahen sie einander an und über Hermanns Züge ging ein helles Leuchten des Glückes. »Lionel!« flüsterte er. »Du bist in Sicherheit! – O, wie danke ich Gott!«

Unser Freund erbleichte. »Was hörtest du?« sagte er. »Hat man mich gesucht?«

Hermann stieg ganz hinauf und die beiden umarmten einander in herzlicher Begrüßung, dann erfuhr Lionel, was sich zugetragen hatte, auch, daß die Gefahr jetzt schon vorüber sei. Zum erstenmale atmete er wieder freier und leicht wie gewöhnlich, gab er in seiner Seele der neuen Hoffnung einen weiten Spielraum. »Also in der nächstfolgenden Nacht hätte ich doch schon hierherkommen müssen, Hermann? Dann ist ja alles gut. In acht Tagen haben wir das Gebiet der Nordarmee erreicht.«

Er erzählte nun von dem Grunde seiner plötzlichen Flucht und dem Gelde, das ihm Philipp Trevor geschickt hatte. Es wurde verabredet, daß er zu aller Sicherheit auf dem Heuboden bleiben und denselben nicht verlassen solle, bis der Zug in die Keller des Gefängnisses angetreten werden mußte. Schon um der Kinder willen war das besser; sie konnten ihren kleinen Spielkameraden Mitteilungen machen und dadurch den gefürchteten Verrat herbeiführen.

Lionels Vorratskammer füllte sich ganz nach Wunsch, er erhielt auch Bücher und durfte nach langer schmerzvoller Entbehrung zum erstenmale wieder ungestört lesen. Während dieser Muße schrieb er an Philipp Trevor einen acht Seiten langen Brief, den Hermann in Sammys Hände spielte und den dieser weiterzuschaffen versprach.

Der Mulatte stellte keine Frage und gestattete sich keine einzige Bemerkung, aber das gelbe Gesicht grinste von einem Ohre zum anderen und die Hand nahm den mitgeschickten Dollar so gewandt in Empfang, als sei ein wertloses Blatt hineingefallen.

Am nächsten Morgen hatte Hermann seines Vaters Antwort erhalten, die Vorbereitungen waren sämtlich getroffen und in der Mitte der mondlosen Nacht sollte das Unternehmen der Gefangenenbefreiung unter Gottes Beistand gewagt werden. – – –

*

Unsäglich langsam hatte sich für den verhafteten Deutschen unterdessen Stunde an Stunde, Tag an Tag gereiht. In jeder Nacht erhielt er von den Seinigen einen Brief und außerdem an Lebensmitteln, was treue Freundschaft in der Zeit der allgemeinen quälenden Not für ihn herbeischaffen konnte. Er blieb auf diese Weise vor dem ärgsten Mangel bewahrt, aber dennoch litten Leib und Seele in dem düsteren Gefängnis gar sehr, besonders weil es keinerlei Thätigkeit für ihn gab und weil das ganze Verfahren, anstatt auf Gesetz und Recht, vielmehr auf die schrankenloseste Willkür gestützt wurde. Eines Tages hatte er um Arbeit gebeten und der Aufseher antwortete in sehr ernsthaftem Tone: »Zählen Sie die Fliegen, Sir! Das wird Ihnen Mühe genug kosten.«

Die übrigen Gefangenen lagen teils in dumpfer Verzweiflung auf dem halbvermoderten Stroh, teils spielten sie mit den zerhackten und zerbissenen Stücken von Rinderknochen irgend welche selbsterfundenen Glücksspiele oder legten auf dem Fußboden Figuren, nur um irgend etwas zu denken, in irgend einer Weise den Geist zu beschäftigen.

Zuweilen ließ sich einer dieser Unglücklichen von der Verzweiflung übermannen, er fiel in eine Art von Tobsucht oder Wut, verlangte freigelassen und vor Gericht gestellt zu werden, oder drohte dem Aufseher, er wolle ihn erdrosseln, dann folgte jedesmal die Strafe in der Gestalt einer Verbannung in den Keller; die Zurückgebliebenen rückten enger an einander, sie schlossen während der betreffenden Nacht kein Auge, es wurde geflüstert und ängstlich gehorcht, bis am Morgen der Aufseher einen halb getöteten Menschen mit roher Gewalt wieder in den Schlafsaal beförderte. Fieber und heftiges Delirium folgten den Qualen des schrecklichen Aufenthaltes, einmal jählings der Tod, dessen kalte Hände den Unglücklichen im Schüttelfrost so lange hin und her warfen, bis der letzte Atemzug entflohen war.

Dann blieb die Leiche im Schlafsaal liegen, bis der träge, schlürfende Aufseher das Grab ausgeworfen hatte. Unverhüllten Antlitzes wurde der Körper die Treppen hinabgeschleift, ungesäubert und verkrümmt in die Gruft gepackt. Oben am Fenster standen die Leidensgenossen des Heimgegangenen, sie durften nicht hinunter in den Hof, um dem, der da so ohne alle Feier, ohne Gebet und Segen verscharrt wurde, wenigstens die letzten Ehren zu erweisen, aber sie thaten das, so gut es anging, aus der Entfernung.

Ihre Hände waren gefaltet, ihre Blicke gesenkt. Während der Aufseher die kurze Pfeife stopfte, um bei seinem traurigen Geschäft in aller Ruhe fortzurauchen, standen oben die bleichen, vom Elend gebeugten Gefangenen bei einander und beteten das Vaterunser, wie sie es am offenen Grabe gethan haben würden. Sie warfen auch im Geiste die Handvoll Erde hinab auf die tote Brust, einer oder der andere merkte sich den Ort, wo in ungeweihter Erde ein Christ bestattet lag.

Man flüsterte an solchen Tagen, statt laut zu sprechen, man ging in sich und hielt Umschau im eigenen Gewissen, anstatt zu spielen. Was heute dem eben Verscharrten geschehen war, das kam ja vielleicht morgen über einen seiner Gefährten. Die geheimnisvollen Schrecken der Finsternis in den Kellern umgarnten ein neues Opfer und ließen es nicht wieder aus ihren Krallen, bis die Seele entflohen war. Das Schwert hing am seidenen Faden über jedem Haupte.

In die furchtbare Gefahr einer Nacht da unten sollte sich nun Neubert freiwillig und wohlüberlegt hineinstürzen, um auf mühsamem Wege die Freiheit, die Wiedervereinigung mit denen, welche er liebte, zu gewinnen. Ihm graute, es lief kalt über seinen Rücken herab, so oft er daran dachte, aber dennoch stand der Entschluß ganz fest.

Noch eine Nacht und ein Tag, dann hatte die Stunde geschlagen.

Ein feiner Regen rieselte unaufhaltsam herab und fiel durch die zerbrochenen Scheiben kühlend auf die heiße Stirn des Gefangenen. Desto besser, wenn ein unangenehmes Wetter die Leute in ihre Häuser trieb, die Wächter in jene Schlupfwinkel, welche sie sich für derartige Fälle gesichert hatten; um so weniger konnte dann irgend eine Störung von außen her das Unternehmen vereiteln und noch in der zwölften Stunde alle, mit so unsagbarer Mühe vorbereiteten Pläne über den Haufen werfen.

Es dunkelte schon; nun war die Zeit gekommen, um irgend einen Streit vom Zaune zu brechen und dadurch die Verbannung in den Keller zu bewirken. Das Herz des Gefangenen schlug unruhig, er fragte sich, ob seine Kräfte ausreichen würden, solchen Angriffen die Spitze zu bieten. Wenn nun das Wasser gestiegen war, wenn es mit seinen eisigen Armen ihn bezwang und zu Boden warf, was dann?

Aber er durfte nicht daran denken, nicht schwach werden. Gott würde bei ihm bleiben, um der guten Sache, um der Seinigen willen.

»Ich habe Zahnschmerzen,« sagte er den übrigen. »Zu allen Freuden dieses Aufenthaltes auch das noch!«

Einer der anderen nickte. »Sie haben sich erkältet, Neubert! Das Wachestehen am offenen Fenster ist gefährlich.«

»Wie meinen Sie das?« fragte überrascht der Kaufmann.

»Ich meine, was ich weiß, Neubert. Sie besitzen eine Verbindung mit der Außenwelt, – daran müssen Sie mich teilnehmen lassen, oder ich verrate Sie. Jeder für sich und Gott für uns alle, – ich will Briefe erhalten und Briefe schreiben, Sie müssen mir dazu die Mittel schaffen und zwar noch in dieser Nacht.«

Der Kaufmann zuckte die Achseln. »Es hat Ihnen lebhaft geträumt, mein guter Herr!« sagte er ruhig.

Jener nickte. »Das glaube ich kaum, aber wir werden ja sehr bald sehen. Von nun an besitzen Sie einen Wächter.«

Neubert lächelte. »Das glaube ich kaum!« wiederholte er in etwas spöttischem Tone die Worte seines Mitgefangenen.

Der schien plötzlich lebhaft betroffen, das blasse Gesicht überzog sich mit Purpur. »Sie wollen also fliehen?« sagte er in unterdrücktem Tone. »Sie gehen von hier fort?«

»Sobald man mir die Thüren öffnet, ganz gewiß.«

Der andere trat näher herzu, er sah einen Augenblick forschend in das Gesicht des Kaufmanns, dann warf er sich plötzlich vor ihm hin auf die Kniee. »Lassen Sie mich einen Brief schreiben, guter Herr! Nur einen, einen – und ich werde es Ihnen danken, so lange ich atme!«

Neubert wandte sich ab. »Quälen Sie mich nicht,« flüsterte er. »Es ist ganz unmöglich.«

Der andere sprang auf. »Allein fliehen, allein Ihre Korrespondenz haben sollen Sie nicht!« rief er in ausbrechender Verzweiflung. »Alles um alles! Wenn Sie mir keinen Beistand leisten wollen, so mache ich dem Aufseher eine Mitteilung.«

Neubert antwortete nicht, als aber der Wärter kam, verlangte er etwas Tabak. »Ich habe Zahnschmerzen, mein guter Mann, bringen Sie mir auch ein kleines Glas Branntwein. Nach meiner Freilassung wird alles bezahlt werden.«

Der Aufseher hatte seinen täglichen Trost bei der Flasche schon gesucht und gefunden, er war in gereizter Stimmung und sah über die Schulter hinweg den Gefangenen an. »Das ist ja der Fliegenzähler, nicht wahr? Heute will er allerlei Befehle ausgeführt haben? Hm, braucht doch nicht etwa ein kaltes Bad, der gute Mann?«

»Ich verbitte mir Ihre Bemerkungen!« rief Neubert.

»Sieh! Sieh! Spielt ein wenig den Herrn im Hause! Noch weitere Befehle, Euer Ehren?«

»Er will flüchten!« rief der zurückgewiesene Gefangene. »Er hat Verbindungen nach außen und denkt zu entkommen, daher ist er so dreist!«

Der Aufseher nahm die Pfeife aus dem Munde. »Denkt zu entkommen?« wiederholte er. »Aus diesem Hause? – Wenn mir das geschähe, hätte ich meinen Posten verloren. Die Herren vom Vigilanzkomitee lassen nicht mit sich spaßen.«

Während er die Worte langsam vor sich hin sprach, näherte er seinen ausgestreckten Arm der Schulter des Gefangenen und wollte diesen ergreifen, Neubert wich ihm jedoch mit großer Geschicklichkeit aus. »Was bedeutet solche Frechheit?« rief er.

Der Aufseher lachte. »Daß ich mich deiner versichern will, Bursche! Marsch mit dir, du wirst für diese Nacht an die Fensterstäbe gebunden und morgen mache ich von der Geschichte Meldung.«

Eine ungeheure Angst bemächtigte sich plötzlich des Gefangenen. Wenn ihn der Aufseher gewaltsam hier oben festhielt, so war alles verloren!

»Hund!« rief er, gegen den Mann einen wuchtigen Hieb führend. »Willst du wohl deine schmutzigen Pfoten von meinem Arme lassen!«

»Neubert! Neubert!« erscholl es von den Lippen der entsetzten Mitgefangenen. »Sie stürzen sich gewaltsam ins Unglück!«

»Nun in den Keller mit ihm!« brüllte der Aufseher schäumend vor Wut. »Faßt an, ihr andern, ich befehle es.«

Keiner regte sich, bis auf den einen, dessen Neid ihn vollständig beherrschte. Dieser allein kam dem Aufseher zur Hilfe; obwohl sich Neubert scheinbar zu verteidigen suchte, obwohl er um sich schlug und stieß, wurde er doch überwältigt und die Treppen hinabgeschleift. Welch' eine Anzahl von Stufen! – Ob der Weg nie ein Ende nahm?

Die Laterne am Gürtel des Aufsehers warf ihren matten Schein über geschwärzte Wände und kolossale eiserne Träger, die das Erdgeschoß stützten. Ein Modergeruch, betäubend und schrecklich, drang aus der Finsternis der untersten Tiefe den Männern entgegen.

»Wo sind wir?« rief Neubert. »Es ist naß hier!«

Der Aufseher lachte. »Sollst ein Vollbad haben, Jüngelchen! Warte, jetzt kommt die letzte Treppe. Da hinab, wenn's beliebt!«

Ein schwarzer schillernder Sumpf umgab die untersten Sprossen der Leiter. Es plätscherte und gurgelte darin, wie von lebenden, aufgeschreckten Wesen.

»Da hinein?« raunte der Begleiter. »O Jesus, das ist gräßlich!«

»Ich thu's nicht!« rief Neubert.

»Das wollen wir sehen!«

Und der Aufseher schüttelte die Leiter, so daß sein Gefangener nur die Wahl behielt, entweder in das Wasser zu springen oder zu fallen. Er that natürlich ersteres und im gleichen Augenblick zog der Wärter schadenfroh die Leiter aus dem Wasser. »Wünsche angenehme Ruh!« grinste er. »Wenn der Keller Gäste beherbergt, pflegen wir die bewegliche Treppe wegzunehmen. So, verehrter Herr Fliegenzähler, nun spazieren Sie umher, wo Sie wollen, das ganze Haus steht Ihnen zu Gebote und Luftschachte gibt es, wie Sie sehen, überall.«

Er wandte sich ab, um den Keller zu verlassen und seinen Begleiter mit sich zu ziehen, aber dieser schüttelte, am ganzen Körper zitternd, den Kopf. »Neubert,« rief er mit der Angst des aufgeschreckten Gewissens, »Neubert, so sprechen Sie doch ein Wort!«

»Nun, – und welches denn?«

»Daß Sie mir vergeben,« klang es beinahe schluchzend von den Lippen des jungen Mannes.

»Vollständig!« antwortete Neubert. »Gehen Sie mit Gott, Freund, ich grolle Ihnen nicht. Auf Wiedersehen!«

Der andere hob die Hand. »Dieser Ton!« rief er. »Ich kann mich unmöglich täuschen! Sie haben doch die Absicht zu fliehen, Neubert!«

Der Aufseher lachte. »Nur immer zu!« rief er. »Wünsche guten Erfolg!«

Und dann schob er ohne viele Zeremonien den jungen Mann vor sich her, die Treppen hinauf. »Wie spät es geworden ist!« rief er voll Ärger. »Noch konnte ich dieses Burschen wegen das Abendbrot nicht verteilen!«

Die Antwort des Gefangenen verhallte in der Ferne, Herr Neubert sah sich, als der letzte Lichtstrahl langsam verschwand, allein in einer dichten undurchdringlichen Finsternis, deren Schrecken durch keinen Laut, keinen Schimmer von draußen her unterbrochen wurden. Eiskalt stieg ihm die Wasserflut hoch bis zur Brust, den Atem einschnürend, lähmend, wie ein Panzer von Stahl, der alle Glieder zugleich drückte und die freie Bewegung hemmte; er wollte gehen, die Örtlichkeit untersuchen, vielleicht irgend einen erhöhten Punkt finden, aber er kam nur mit äußerster Anstrengung und nur zollweise vorwärts, – seine Kräfte waren nach der wochenlangen Haft doch einem solchen Unternehmen kaum mehr gewachsen, das erkannte er gleich in den ersten Augenblicken.

Wie viel würde er darum gegeben haben, seine Taschenuhr noch zu besitzen! Wenn sich auch in der tiefen Finsternis des Kellergewölbes der Stand der Zeit nicht erkennen ließ, so konnte doch das leise Ticken als eine Art von Gesellschaft, als eine Form der Lebensäußerung gelten, während diese lastende Stille die Gedanken verwirrte und das Blut heiß zum Gehirn trieb.

Hie und da gurgelte das Wasser, hie und da stieß ein kalter Körper gegen die Hand des Gefangenen oder kletterte auf seine Schulter und berührte mit spitzer nasser Schnauze sein Gesicht: Ratten, die den Eindringling besuchten, um zu erkennen, ob er ihr Opfer werden würde, oder stärker sei, als sie.

Noch war er es. Er schleuderte die widerwärtigen Bestien von sich, so weit er vermochte, aber doch ohne einen Erfolg zu erzielen. Für die eine, welche er verjagte, schwammen drei andere herbei, ja, sie probierten ihre scharfen Zähne, sie bissen in sein Fleisch, krochen unter seine Kleider und verwickelten ihre flinken Füße in sein Haar.

Mühsam drang der gequälte Mann durch das Wasser vorwärts, um vielleicht an einem anderen Punkte mehr Ruhe zu finden. So oft er sich bewegte, stoben die Ratten flüchtend nach allen Seiten, stand er dagegen still, so schwammen sie wieder heran und erneuten ihre Angriffe. Es schienen ganze Armeen dieser widerwärtigen Geschöpfe in den Kellern versammelt, sie füllten das Wasser derartig, daß der Gefangene nicht selten ihre Körper mit den Händen ergreifen konnte.

Wolken von Miasmen stiegen bei jeder Bewegung aus dem schlammigen Grunde empor. Eine Art Betäubung erfaßte die Sinne des Gefangenen, er fühlte das brennende Verlangen, sich hinzulegen und die Augen zu schließen, sein Kopf schmerzte heftig, das Herzklopfen erstickte ihn fast.

Wie spät es schon sein mochte?

Zum hundertstenmale horchte er. Hätte das leise Rieseln der herabfallenden Regentropfen bis in diese Einöde dringen können, welch' eine Wohlthat wäre es gewesen! Da oben in den fensterlosen Sälen herrschte eine schreckliche Luft, Insekten aller Art quälten die Bewohner, aber dennoch waren die gefürchteten Räume im Hinblick auf den Keller des Hauses ein Paradies zu nennen. Das Geräusch des werkthätigen Lebens drang hinein, der Blick streifte die Hälfte der Stadt, es fanden sich Menschen, die ihre Hoffnungen, ihre Klagen und Gefühle gegen einander austauschten, – hier aber umkrallten Einsamkeit und Finsternis ihre Opfer mit eiskalter Faust, es rüttelte an den Kräften des Körpers und des Geistes zugleich, so in dem lähmenden Schweigen, wie abgeschlossen von der Welt, in Eiseskälte zu verharren und sich gegen unsichtbare, aber zahlreiche und erbitterte Widersacher zu verteidigen.

Langsam, Zoll um Zoll, bewegte sich der Gefangene vorwärts. Mit ausgestreckten Händen gehend, untersuchte er die Lokalität, um womöglich einen Stützpunkt zu finden, er tastete und tastete, bis endlich die Finger eine Wand berührten, eine glatte, eisige, von Moder überzogene Wand, die aber doch für den ermüdeten Körper einen Anhalt gewähren konnte, etwas, das dem brennenden Kopfe als Pfühl diente, das die Hände erfaßten und hielten. Wenn er sich fest anlehnte, war es auch den Ratten unmöglich, von hinten an ihn heranzukommen.

Langsam, ganz langsam wurde die Umdrehung vollbracht. Der Gefangene mußte alles aufbieten, um sich gegen den Schwindel zu schützen, gegen ein gänzliches Versagen aller Kräfte; seine Füße schienen zu Eis geworden, schwere Klumpen, die sich kaum bewegen ließen, er fühlte, daß die Fähigkeit, aufrecht zu stehen, nach und nach erlosch, daß es unmöglich schien, die Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren. Wirre Vorstellungen verfolgten den unglücklichen Mann, er sprach immer leise vor sich hin.

Nun war aber doch die Wand erreicht. O Glück; es befand sich in derselben sogar eine zuverlässige eiserne Krampe, die man ergreifen und sich an ihr halten konnte. Jetzt ging die Sache besser, – wenn nur nicht so unzählig viele Ratten vorhanden gewesen wären. Von allen Seiten kamen sie wieder, dreister und immer dreister, eine schwarze Heerschar, die sich nicht abschütteln, nicht vertreiben ließ, die den Gefangenen fast zur Verzweiflung trieb.

»Wenn ich nicht befreit werden soll,« dachte er, »guter Gott, wenn mein Tod beschlossen ist, dann sei barmherzig, laß mich schnell sterben!« – –

Ein leises Geräusch schien des Himmels Antwort auf das Gebet um Trost, um Hilfe. War das nicht ein Kratzen, Scharren ein emsig wiederholter, immer gleicher Klang? – Unmöglich konnten ihn die Ratten hervorgebracht haben.

Der Gefangene horchte und horchte. War das die Rettung?

*

Immer noch rieselte draußen der Regen stäubend herab. Es hing in der Luft wie graue Schleier, eine feuchte Kühle durchschauerte jeden, der seine schützenden vier Wände verließ.

Die Verbündeten frohlockten darüber. Bei schönem Wetter hätten sie eine viel spätere Stunde wählen müssen, so aber ließ sich schon um elf Uhr an das Werk gehen. Die Kinder waren zu Bette gebracht, alle Lichter ausgelöscht und an beiden Enden der Straße Wachtposten ausgestellt, – es galt, einen der Kanalzugänge zu öffnen und durch denselben in gewöhnlicher Weise hinabzusteigen. Das war an und für sich eine sehr einfache, gefahrlose Sache, aber kein Auge durfte sie beobachten, weil sonst das ganze Unternehmen verraten worden wäre.

Die Teilnehmer der nächtlichen Unternehmung hatten sämtlich nur die allernotwendigsten Kleider angelegt und trugen außerdem am Gürtel jeder eine Laterne, sowie in der Hand einen kurzen, starken Stock, den Andreas Mölling, der Schlossermeister, zum Überfluß noch mit einem spitzen, scharfen Eisenhaken versehen hatte.

»Jetzt können wir gehen,« sagte er. »Es ist alles bereit.«

Herr Behrens ergriff den Schlüssel, um die Hausthür zu öffnen. »Du bist also überzeugt, dich in den Kanälen zurecht finden zu können, Andreas?« fragte er.

Der Schlosser zog aus der Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Sieh her,« sagte er, »das ist der Plan. Ich selbst habe bei der Anlage die Oberaufsicht gehabt, habe sämtliche Roste und Verankerungen geliefert; es kann mir garnicht fehlen, ja, ich bin meiner Sache so sicher, daß es mir nicht darauf ankommt, allein zu gehen.«

»Behüte!« rief Behrens. »Wir alle bleiben bei dir, Andreas.«

Auch Lionel und Hermann wollten von keinem Zurückweichen hören und so machten sich denn die Verbündeten auf den Weg um schleunigst unter der Erde zu verschwinden und die schauerliche Expedition durch jene Welt der Tiefe anzutreten. Treue Freunde hielten Wache, dessen durften sie versichert sein.

Die Eisenplatte wurde nur lose in ihr Gefüge gelegt und dann ging es weiter. »Man kann ja fast aufrecht stehen!« rief Lionel ganz erstaunt.

»Natürlich! Es müssen ja an jedem Tage Arbeiter in die Abzugskanäle hinein. Das Mühsame bei der Sache beginnt erst viel später.«

»Laßt nur keinen Lichtschein nach außen dringen!« ermahnte Behrens.

»Das ist unmöglich, alter Junge, so beruhige dich doch vollständig. Wir befinden uns in der Mitte der Fahrstraße.«

»Nasse Füße gibt es,« meinte Lionel.

»Du wirst noch vom Kopf bis zu den Füßen durchnäßt, wenn wir erst einmal das angesammelte Wasser aus dem Keller ablaufen lassen. Sieh, hier ist die erste Straßenecke!«

Der Plan zeigte die genaueste Übereinstimmung mit der Örtlichkeit; ein Umstand, der nicht wenig dazu beitrug, die Gemüter zu beruhigen. Andreas Mölling führte mit sicherem Schritt, gebückten Ganges, aber schnell die kleine Schar dem Ziele entgegen; es kostete bloß einige Anstrengung, ja sogar Schmerzen, den Rücken beständig gekrümmt zu halten, ein großer, starker Mann wäre dabei erlegen, unsere Freunde aber ertrugen im Hinblick auf das Ziel ihres Wirkens die kleine Unbequemlichkeit, ohne zu klagen. An jeder Ecke verglich der Schlosser seinen Plan mit dem Aussehen der Umgebung, es stimmte alles; auch die Luft war wenigstens erträglich, obwohl von dumpfer Schwüle, und so kamen denn die Verbündeten, ohne einem nennenswerten Hindernis begegnet zu sein, bis an jenen Punkt, wo das Anschlußsiel der Brauerei die Hauptleitung berührte. Hier stand Andreas Mölling still.

»Wir sind am Ziel,« sagte er.

»Dieser Weg führt also in den Keller des Gefängnisses?«

»Ja. Ein Irrtum ist undenkbar.«

»Lassen Sie mich vorausgehen,« bat Hermann. »Ach, mein armer Vater, wenn wir nur wirklich bis zu ihm gelangen.«

Der Schlosser hielt ihn am Arme zurück. »Dieser Gang ist bedeutend enger als das Hauptrohr,« versetzte er. »Nur ein Mann kann kriechend hineindringen und das muß gerade ich sein.«

»Warum, Herr Mölling, warum?«

»Weil genau erwogen werden muß, wie viel Wasser wir ablaufen lassen dürfen, um nicht allesamt zu ertrinken, Junge! Oder denkst du, menschliche Kräfte könnten einen Eisenrost heben, wenn das Gewicht von fünf Fuß Wasser drauf liegt?«

Hermann seufzte. »Freilich,« murmelte er, »das ist wahr!«

»Nun siehst du wohl, Kind! Laß mich also vorauskriechen, bis ich euch übrigen ein Zeichen gebe und stemmt, wenn das Wasser kommt, eure Stöcke fest zwischen die Fugen der Steine, damit ihr einen Stützpunkt behaltet.«

»Wird der Andrang so stark werden?« fragte Lionel ganz erstaunt.

»Laß ihn dich nicht fortschwemmen, Junge! Und nun ans Werk!«

Bei diesen Worten kroch der unerschrockene Mann, die Laterne zwischen den Zähnen haltend, sein Handwerkszeug in der Rechten, mutig hinein in den licht- und luftlosen Schacht, dessen Eingang, düster wie das Grab, den Zurückbleibenden entgegengähnte. Unwillkürlich schlugen aller Herzen schneller, wurde zum inbrünstigen Gebete, was jeder der Verbündeten dachte.


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