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XVIII.

»Wasser und Brot! Weiter gibt's nichts, bis die Kerle gestanden haben!«

Der Kapitän hatte es befohlen und der Unteroffizier führte es aus. Unter Heulen und Zähneklappern saßen die vier Schmuggler im lichtlosen Verließ und schworen Stein und Bein, daß ihnen das schwärzeste Unrecht geschehe. Sie hatten mit den Blockadebrechern keinen Verkehr gehabt, sie wußten von versteckten Waren nicht das mindeste, sondern lebten nur hier in der armseligen Blockhütte, um – ja – um, – da steckte der Knoten. Es ließ sich nichts Annehmbares, Glaubhaftes finden.

»Nun?« lachte der Unteroffizier, »nun meine Herrschaften, was führte Sie denn hierher? Wollten Sie Einsiedler werden?«

»Wir dachten Holz zu fällen!« seufzte der Erste.

»Ja, ja, Holz. Wir wollten gerade beginnen.«

»Ah – und dann die Bäume auf dem Rücken über das Gebirge schleppen, nicht wahr? – Arme Seelen, wie ungerecht ist gegen euch die Welt! Na, einstweilen laßt euch dies Brot recht wohlschmecken und trinkt Wasser dazu.«

Die Thür schloß sich wieder. »Halb mürbe sind sie schon!« meldete der Unteroffizier. »Morgen pflücken wir die reife Frucht.«

Und so geschah es. »Wenn wir denn auch wirklich mit den Blockadebrechern in Verbindung gestanden hätten,« meinte vorsichtig einer der Schmuggler, »was wollte man uns dafür anhaben? Jeder sieht zu, wie er durchkommt.«

»Und wird bei dieser Gelegenheit einmal unglücklicherweise gehängt, – ja!«

Eine wahre Käsefarbe verbreitete sich über die Gesichter der Schmuggler. »Gehängt? – Mein Gott, das ist ja ganz unverständlich!«

»So denkt ein wenig darüber nach!« riet kaltblütig der Unteroffizier.

Dann ließ er während des ganzen Tages die Schmuggler allein und fand sie am nächsten Morgen in zerknirschtester Stimmung. »Wir möchten gern mit dem Herrn Kapitän ein Wort sprechen,« hieß es. »Die Sache muß ja doch zu einem Ende heraus.«

Diesem Wunsche wurde willfahrt. In der Kajütte waren sämtliche Offiziere versammelt und einer von ihnen führte das Protokoll. Die vier Gefangenen ließen durch ihren Sprecher fragen, ob ihnen, wenn sie nähere Mitteilungen machen würden, persönlich volle Straflosigkeit zugesichert sei, und als diese bewilligt wurde, gingen sie einen Schritt weiter. Wie viel Beuteanteil sollte ihnen zufallen, darauf kam es an.

»Stockprügel!« rief der Kapitän, aber das war nur im ersten Augenblick, späterhin gab er nach und versprach eine bescheidene Abfindungssumme, mit der sich die Leute zufrieden erklärten. Nun wurde das Versteck der eingeschmuggelten Waren in aller Form verraten, – oben zwischen den Gebirgskuppen lag es; kein Uneingeweihter würde jemals den Ort entdecken können.

Alle vier Männer, an Händen und Füßen gefesselt, mußten den Zug in die Felsspalten eröffnen und hinterher folgte, was auf den Schiffen irgend abkommen konnte, um die Waren an Bord zu schaffen.

Hinter den Schmugglern gingen Soldaten mit geladenen Gewehren. Es war ihnen gesagt worden, daß bei dem ersten Fluchtversuche oder dem leisesten Anzeichen eines Verrates ihr Leben durchaus verwirkt sei.

Nach einem einstündigen Marsche hatte die Schar das Felsennest erreicht, einen Schlupfwinkel, den nur der Eingeweihte überhaupt entdecken konnte und dem noch eine Reihe weiterer sich anzuschließen schien. Was auf den ersten Blick aussah wie ein grauer, rings verschlossener Steinberg, das besaß in Wirklichkeit eine Anzahl verborgener Zugänge und bildete in seinem Innern eine Art Zauberwelt, die manche wunderbare Schönheit barg.

Hier lag eine offene, von Säulen getragene Halle, dort standen einzelne Felskegel beieinander und hoch oben in schwindelnder Nähe der gewölbten Decke verband eine natürliche Brücke die weit getrennten steinernen Ufer. Prachtvolle schäumende Wasserfälle stürzten in die Tiefe, Perlenbänder, breit und gezackt, wilde Massen an anderer Stelle, tobend, donnernd, Urgewalten, denen seit dem ersten Schöpfungstage niemals ein Hindernis in den Weg gelegt worden war.

Wo sich über zugänglichem Raume ein Steindach wölbte, wo eine Kiste, ein Ballen oder Sack Platz gefunden hatte, da stapelten die Werte von Tausenden. Es war ganz stille hier oben, niemand schien sich in der Nähe zu befinden, kein Zeichen verkündete die Gegenwart fremder Personen, nur allerlei fliegendes und kriechendes Getier hatte sich eingefunden, um von den Vorräten seinen Zoll einzufordern. Ganze Schwärme von wilden Bienen untersuchten mit ihren Stacheln die Säcke, in denen Zucker verwahrt wurde, Mäuse und Ratten benagten den Speck, Ameisen krochen in unheimlichen schwarzen Scharen über jedes Kollo hinweg.

Eine gute Beute wahrhaftig! Die Fregatte sollte etwa fünfzig Menschen mehr als zu ihrer Besatzung zählten, bis zum Hafen von Charleston mit Speise und Trank versehen, dazu gehörte viel und so war der gefundene reichliche Proviant in der That ein Geschenk des Himmels. Alles sogleich an die Schiffe zu bringen, dafür reichte selbst die stattliche Schar vorhandener Träger nicht aus, einen Wachtposten konnte man in der entlegenen Einsamkeit auch nicht zurücklassen, es wurden daher die wertvollsten Gegenstände ausgewählt und mit diesen beladen zogen die Soldaten in langer Reihe wieder hinab. Morgen sollte noch eine Wanderung unternommen werden, dann war alles geborgen.

Auch Lionel trug seine Last, eine Kiste mit Thee, die er schwer auf der Schulter fühlte. Als einer der Letzten im Zuge sah er noch einmal in das Gebiet der Höhlen und Schluchten zurück, sein Blick überflog die schöne schwebende Brücke zwischen zwei Abhängen, – da, plötzlich schien es ihm, als bewege sich neben den Pfeilern ein menschlicher Schatten, als spähe jemand dem Zuge nach.

Ein Kopf kam zum Vorschein, ein Männerantlitz, dann eine vorsichtig erhobene Hand, die den Zeigefinger auf den Mund legte. Lionel fühlte, wie ein Strom von Freude durch alle seine Adern rann, – da oben stand Jack Peppers.

Ehe er grüßen, ehe er irgend ein Zeichen geben konnte, war die Erscheinung verschwunden, aber in derselben Minute tönte die Stimme der Spottdrossel laut und vernehmlich über die Umgebung dahin, – Lionel verstand sofort die Absicht des Trappers, – unter diesem Zeichen wollte er sich ihm selbst zu abendlicher Dämmerstunde nähern, um einen Augenblick mit ihm zu plaudern.

Lionels Herz wurde weit und groß. Ach, wenn es schon jetzt möglich gewesen wäre!

Aber das war ganz unmöglich. Die geheimen Botschaften, die Auskünfte und Vermittlungen von Person zu Person, die Kenntnis der vorhandenen Schleichwege und tausend anderer Einzelheiten, alles wurde von dem wandernden Volke der Trapper geliefert, es wäre daher für die Interessen des Fregattenkapitäns ein großer Gewinn gewesen, einen der rührigsten dieser zahlreichen Zunft abzufassen und als Gefangenen in Charleston einzuliefern, aber dahin durfte es unter keiner Bedingung kommen, Jack Peppers sollte unbehelligt bleiben, auch wenn er die Schmuggelei auf das lebhafteste betrieben hatte. Der treue, gute Jack! – nicht um die Welt hätte ihn Lionel in Schaden stürzen wollen.

»Nun, was haben Sie denn, junger Herr?« fragte der Unteroffizier. »Sie stolpern ja bei jedem Schritt wie einer, der nicht gehörig sehen kann.«

Lionel wechselte die Farbe, ein Gedanke schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Vielleicht kannte Martin Reuter zufällig den Trapper und würde Gelegenheit finden, ihm ein kurzes Wiedersehen mit demselben zu ermöglichen.

»Später!« flüsterte er. »Später! Ich möchte noch ein Wort unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Herr Reuter.«

Der Unteroffizier nickte. »Sie haben irgend etwas gesehen,« sagte er.

»Möglich! – aber jetzt erzähle ich nichts.«

Ein bedeutsamer Blick streifte bei diesen Worten den braven Unteroffizier und ließ ihn verstummen. Vielleicht würde ja der Mittelweg zwischen Wunsch und Pflicht sehr schmal erfunden werden.

Als der Zug bei den Schiffen anlangte, konnten natürlich die vorhandenen fünf Boote nur ganz langsam alle diese ausgesandten Soldaten und Matrosen wieder an Bord befördern; die meisten saßen neben den schweren Lasten, welche sie herbeigeschleppt hatten, matt und müde im Gras, um sich vorläufig auszuruhen, – zu diesen gehörten auch Lionel und der Unteroffizier.

Das Herz unseres Freundes schlug schneller. Er mußte ohne irgend eine sichere Bürgschaft des Gelingens das Wagnis eines mehr als halben Verrates unternehmen, das quälte ihn schon jetzt. Ob es auch schwerlich jemals den Soldaten gelingen würde, einen Mann wie den Trapper zwischen jenen verworrenen Felsschluchten aufzuspüren, so konnte doch eintretenden Falles Jack Peppers an eine Unbesonnenheit seinerseits glauben und das würde ihn außerordentlich verletzt haben. Mit brennenden Blicken sah er in das erstaunte Gesicht des Unteroffiziers. »Können Sie schweigen, Herr Reuter? – Schweigen, selbst wenn es scheinbar Ihre Pflicht wäre, recht laut zu sprechen?«

Reuter nickte, ein Schelmenlächeln umzuckte seine bärtigen Lippen. »Es war also da oben als verborgener Wächter der gepaschten Schätze jemand, den Sie kennen?« sagte er. »Ich habe es vom ersten Augenblick her geglaubt.«

»Herr Reuter! –«

Der Unteroffizier lachte behaglich. »Erschrecken Sie nicht so sehr, junger Herr! Bei mir ist das Geheimnis sicher verwahrt.«

»Aber wie kamen Sie nur auf den Gedanken, wie –«

»Lassen Sie das, Sir, erzählen Sie mir lieber, wie die Geschichte zusammenhängt. Unsere Reihe kommt bald daran.«

»Und ich kann ganz sicher sein, ganz sicher, daß –«

»Alle Wetter, ja! Sehe ich denn aus wie ein Windbeutel, der in dieser Stunde nicht mehr weiß, was er in der vorigen versprach? Ich selbst bin neugierig auf den Namen des Mannes, denn er ist ja wohl aus unserer Heimat, ich kenne ihn vielleicht persönlich.«

Lionel sah fest in das ehrliche Gesicht des Unteroffiziers. »Jack Peppers ist es, der Trapper! Er kam häufig nach Seven-Oaks.«

Martin Reuter hob die Hand. »Der hübsche Bursche mit den Lederkleidern und dem gewaltigen Hute? Ich weiß! Ich weiß! Nun, und dieser kommt heute abend an den Strand hinab, pfeift wie eine Spottdrossel und –«

»Auch das haben Sie bemerkt?«

»Es war nicht schwer, mein lieber Junge! Schätzen Sie sich glücklich, daß gerade ich und kein anderer an Ihrer Seite ging. Nun hören Sie, ich kann Ihnen sehr gut nach Einbruch der Dunkelheit ein Boot verschaffen, denn Sie sind ja kein Soldat und unterstehen daher nicht der Schiffsordnung, – aber ich thue es nicht umsonst!«

Lionel lächelte. »Was soll ich Ihnen geben?« fragte er.

»Das Versprechen, über die Verhältnisse in unserer Heimat einige Nachrichten einzuziehen. Man möchte hören, wie es diesem und jenem ergeht!«

Lionel reichte ihm die Hand. »Ich will so lange fragen, bis Jack Peppers erzählt hat, was er weiß, Herr Reuter. Ach, – wenn es nur schon Abend wäre!«

»Legen Sie sich bis dahin schlafen, das hilft über die Ungeduld am besten hinweg. So, nun sind wir an der Reihe.«

Jedes Boot brachte sechs Personen an Bord, dann folgte die Einschiffung der Vorräte, zu deren Transport andere Mannschaften befehligt wurden. Lionel konnte schlafen, aber er wagte es nicht, aus Furcht, das Signal des Trappers zu versäumen; erst als ihm der Unteroffizier versprach, ihn jedenfalls rechtzeitig zu wecken, legte er sich hin und war bald in tiefen Schlaf gefallen. Die Stunden verrannen, ohne daß er es bemerkte, alle Kaufmannsgüter waren verstaut und ein dienstliches Protokoll darüber aufgenommen, dann sank die Dämmerung des Abends herab und die Bootmannspfeifen gaben den Befehl: Ruhe im Schiff! Jeder Mann lag in seiner Koje oder Hängematte, nur Lionel und Hermann standen in der Nähe des Fallreeps, um bei günstiger Gelegenheit in das kleine, absichtlich nicht mit eingezogene Boot hinabzuklettern. Der Unteroffizier hatte unseren Freund zur rechten Zeit geweckt und nun harrten alle des Zeichens, das Jack Peppers geben mußte, ehe es der Mühe wert schien, das Land aufzusuchen.

»Ob er kommen wird?« dachte Lionel. »Ach Gott, schenke es mir! Vielleicht hat er Philipp Trevor gesehen, kann mir von diesem liebsten Freunde erzählen.«

Und er wartete ungeduldig. Hie und da erklang die Stimme eines Vogels, auch wohl die der Spottdrossel, aber es wurde völlig Nacht, bevor die Sängerin ganz in der Nähe des Ufers erschien und aus dem Gebüsch hervor ihr lustiges Lied pfiff. Wie elektrisiert erhob sich Lionel. Nun! Nun! Er konnte es nicht erwarten, die Nachrichten des Trappers zu hören.

Martin Reuter sprach eifrig mit der Schildwache; die beiden jungen Leute fanden Zeit, sich über das Fallreep zu schwingen und den kleinen Kahn loszumachen, ohne bemerkt zu werden. Wenige Ruderschläge brachten das Fahrzeug ans Ufer, wo die Spottdrossel durch das verursachte leise Geräusch in ihrem abendlichen Vortrage gestört schien; sie sang jetzt tiefer im Gebüsch, lauter, lockender.

»Er ist da! Er ist da! – Hermann, du hältst Wache, nicht wahr?«

»Gewiß! Gewiß! Aber, Lionel, Jack Peppers hat auf keinen Fall an dich eine Botschaft auszurichten, denn er konnte sich ja garnicht träumen lassen, daß du hier zu finden seiest!«

»Das weiß ich! Er kann indessen immerhin dieses oder jenes aus unserer Heimat berichten und dann auch von dem Verbleib der Indianer erzählen, er kann mir sagen, wo sich Mr. Nathanael Forster im Augenblick befindet.«

»Das ist allerdings wahr! Soll ich dich übrigens jetzt verlassen, Lionel?«

»Bleib hier, Hermann, bitte! Und wenn irgend ein Mensch käme, so gib schleunigst ein Signal, damit Jack Peppers gewarnt wird. Es gilt sein Leben, wie du weißt.«

»Ja! Ja! Sei nur ganz ruhig, ich werde nichts versäumen.«

Lionel drückte ihm die Hand und flog davon; der leise zwitschernde Ton leitete ihn mit Sicherheit bis zu einem Gebüsch, aus dessen Schatten dann eine schlanke Männergestalt hervortrat und ihm beide Hände entgegenstreckte. »Sind wir sicher?« flüsterte der Trapper.

»Ganz sicher, – Hermann hält die Wacht! O Mr. Peppers, wie freut es mich, Sie so unvermutet wiederzusehen!«

»Wahrhaftig mich auch! Als ich Sie heute morgen erkannte, hing der Verrat am seidenen Faden, – ich war im Begriffe Ihren Namen laut auszurufen, eben weil ich Sie für längst gestorben hielt. Wo in des Himmels Namen waren Sie während der letzten vier Monate?«

Lionel erzählte im Fluge das Geschehene. »Und Sie?« forschte er dann. »Mr. Peppers, waren Sie in Richmond?«

»Zu verschiedenen Malen! Die Indianer zerstreuten sich nach jener furchtbaren Schlacht in die Wälder und haben wahrscheinlich führerlos den Heimweg zu ihren Dörfern antreten müssen, – ich begleitete noch einen Teil derselben eine Strecke weit hinaus und brachte dann Mr. Nathanael Forster nach Richmond!«

»Ah! – Mr. Forster!«

»Ja, er wird Ihnen hier nicht wieder begegnen, Sir! Ich habe Grund zu glauben, daß seine Angelegenheiten schlecht stehen, ebenso die der Witwe Dunkan; alle diese Leute besitzen nur die lebendige schwarze Ware, welche ihnen bisher Zinsen trug, die aber jetzt keiner kaufen will. Auch Seven-Oaks habe ich gesehen, es liegt öde und tot, niemand bestellt die Felder, niemand wohnt in den herrschaftlichen Gebäuden.«

Lionel seufzte unwillkürlich. »Und mein Vetter?« fragte er. »Sahen Sie Philipp Trevor, Mr. Peppers?«

Der Trapper nickte. »Er betrauert Sie als tot, Sir! Dieses Entzücken, wenn ich nächster Tage hinkomme und ihm sage, daß Sie heute abend frisch und gesund vor mir standen! Ich glaube es ihm langsam berichten zu müssen, seine Gesundheit möchte einer so starken Aufregung nicht gewachsen sein!

Lionel erschrak. »Sieht mein armer Philipp so schlecht aus?« fragte er.

»Sehr schlecht. Er sagte mir, daß mit Ihrem Verluste das Leben für ihn völlig wertlos und zur drückenden Last geworden sei.«

Lionel bemühte sich, mit festem Tone zu sprechen. »Jack, haben Sie zufällig ein Blatt Papier und einen Bleistift bei sich?« fragte er.

Der Trapper gab ihm beides und Lionel schrieb im Finstern die Worte: »Philipp, ich lebe und habe dich lieb!« – Dann reichte er das Briefchen dem Trapper, welcher es in seiner Kleidung verbarg und treulich zu besorgen gelobte. »Der alte Mr. Trevor liegt immer krank,« setzte er hinzu, »es ist ein schlimmes Umgehen mit ihm, – beinahe allwöchentlich, zuweilen sogar täglich fährt er hinaus, um nach einer Reise von vier Stunden mit der Eisenbahn und noch eben so lange mit dem Mietwagen das Grab des verstorbenen Mr. Charles Trevor zu besuchen. Er geht dann um den ganzen, mit einem mannshohen Eisengitter rings umschlossenen Grabhügel herum, späht überall durch die Fugen, als suche er etwas und setzt sich dann wieder in den Wagen. Zuweilen rüttelt er auch an den Stangen, oder versucht, ob sie zu überklettern sind, – es gibt Leute, die den guten Mann einfach verrückt nennen. Daß er seit dem Tage, wo wir den Jaguar jagten, Ursache hat, sich unruhig zu fühlen, ist mir allerdings recht begreiflich.«

Lionel wandte sich ab. »Lassen wir diese schlimmen Dinge, Mr. Peppers,« sagte er. »Gott wird richten zwischen ihm und mir.«

Der Trapper nickte. »Ich gebe immer noch die Hoffnung nicht auf, dabei dereinst als Zeuge zu dienen, Sir. Seven-Oaks muß Ihnen werden, wenn nur erst der unselige Krieg beendet ist. Die Südstaaten sind völlig besiegt, man kann in ihrem Interesse nur von Herzen wünschen, daß endlich der letzte Schlag fallen möge. Frauen und Kinder in unserem armen Lande verhungern, das Elend ist unermeßlich.«

Lionels Herz schlug schneller. »Es war wohl ein harter Schlag, so viele Ware auf einmal zu verlieren, Mr. Peppers? Hoffentlich gehörte Ihnen selbst davon nichts.«

Der Trapper lächelte. »Mir? – Nicht für einen Cent, aber das würde mir auch kaum einen so großen Schmerz verursachen, – ich schieße, wenn mich hungert, ein Tier und trinke aus dem Bache. Aber alle die armen Seelen, welche von diesem Warentransporte eine Linderung ihrer Not erwarteten, um sie ist mir's ein Jammer.«

»Macht das so viel aus?« flüsterte Lionel. »Eine einzige Ladung oder zweie?«

»Bei Verhältnissen, in denen Kranke und Säuglinge darben? Wo es unmöglich ist, dem Verschmachtenden ein Stückchen Zucker oder eine Tasse Kaffee zu verschaffen? – Lionel, es ist dieser Gegenstand, über den ich so sehr gern ein vertrauliches Wort mit Ihnen gesprochen hätte!«

»Welches?« fragte aufhorchend unser Freund.

Der Trapper legte eine heiße, bebende Hand fest auf die des anderen. »Lionel,« sagte er, »nehmen Sie aus innerstem Herzen, mit voller Überzeugung Partei für den Norden?«

»Lassen Sie uns von der Politik schweigen, Jack! ich bin –«

»Nein! Nein! Sie müssen mit der Sprache herausrücken. Nehmen Sie aus wirklicher Überzeugung Partei für den Norden?«

Lionel sah ihn an. »Nun denn, ja! Ich bin im Begriff, als Freiwilliger in die Armee der Regierung zu treten. Weshalb fragen Sie mich, Jack?«

»Weil ich eine leise, eine halbe Hoffnung hegte, die aber nun schon zerronnen ist. Sie werden gegen Ihre politischen Freunde nichts unternehmen wollen.«

»Schwerlich!« antwortete mit möglichst sanftem, schonendem Tone der Knabe. »Schwerlich, Jack, aber dennoch nennen Sie mir Ihren Wunsch.«

Der Trapper seufzte. »Virginien ist Ihr Heimatland,« sagte er, »das hungernde, gefolterte Virginien, dessen Greise darben, dessen Säuglinge am Mangel zu Grunde gehen. Wollen Sie nicht für Ihre bedrängten Landsleute eine rettende That wagen? Wollen Sie nicht, so weit es an Ihnen ist, den Kranken und Gequälten helfen?«

Lionel schüttelte kaum merklich den Kopf. »Indem ich die gefangenen Franzosen befreie, Jack? Ist es nicht so?«

»Wie gut Sie raten können!« flüsterte mit fliegendem Atem der Trapper. »Ich habe einen Hauptschlüssel in der Tasche, – Lionel, das, worum ich Sie bitte, ist so wenig! Sie sollen nur wie zufällig an der Thür des Gefängnisses vorübergehen und –«

»Nein!« unterbrach unser Freund. »Nein, tausendmal Nein! Das ist unmöglich und wäre nebenbei auch ein wahnwitziges Unternehmen. Die Leute würden von der Übermacht erdrückt und ohne allen Zweck abgeschlachtet werden, weiter nichts.«

Des Trappers Augen funkelten durch die Finsternis. »Vielleicht doch nicht!« warf er ein. »Hier herum sind zwanzig entschlossene Männer versteckt, – wir haben Handgranaten, wir könnten und müßten den Sieg erringen, – es ist Pulver genug vorhanden, um zehn Schiffe in die Luft zu sprengen. Aber das alles kann nicht gemacht werden, so lange die Franzosen hinter Schloß und Riegel sitzen; wir müßten vor jedem –«

»Jack!« unterbrach mit gepreßtem Tone unser Freund, »Jack! Sie verlangen eine Unmöglichkeit. Lassen Sie uns von der Sache nicht mehr sprechen. Ich würde nie und nimmer in einen solchen Vorschlag willigen, nie – und ob auch ganz Virginien im Elend zu Grunde ginge!«

»Lionel!«

»Nie, sage ich Ihnen, Jack! Ihre Person ist mir heilig, mit meinem Leben will ich Sie verteidigen, wenn jetzt ein Angreifer nahen sollte, aber der Sache der Konföderierten stehe ich feindlich gegenüber. Können wir nicht gute Freunde bleiben, auch unter dieser Bedingung?«

Der Trapper reichte ihm die Hand. »Gewiß!« sagte er seufzend. »Gewiß! Lionel, steht Ihr Entschluß so unumstößlich fest?«

»Ganz unumstößlich, Jack. Lassen Sie uns von der Sache nicht weiter sprechen.«

»Ich dachte es!« murmelte der Trapper. »Ich dachte es, aber doch sollte das letzte versucht werden. Virginien erliegt dem Drucke, der es belastet.«

Eine Pause folgte diesen Worten, dann suchte Lionel die schmerzliche Auseinandersetzung zu beenden, indem er das Gespräch unvermerkt auf ein anderes Gebiet hinüberleitete. Er fragte nach diesem und dem, was die engere Heimat betraf und sammelte so einen ganzen Vorrat von Neuigkeiten, die später dem Unteroffizier zu gute kommen sollten. Dann endlich kam der Abschied, die beiden jungen Leute standen Hand in Hand nebeneinander.

»Wir sind und bleiben gute Freunde, nicht wahr, Jack? Sie verstehen es, den Inhalt unseres heutigen Gespräches gänzlich beiseite zu lassen?«

»Immer! Immer! – Wenn wir uns nun wiedersehen sollten, dann ist die Konföderation gesprengt und vielleicht sogar die Sklaverei für immer aufgehoben!«

»Welch ein Glück wäre das! – Jack, Sie müssen doch mit den Unterdrückten fühlen können, Sie müssen aufrichtig wünschen, daß das Elend des farbigen Volkes ein Ende nehme!«

Der Trapper wandte sich ab. »Leben Sie wohl, Mr. Lionel, der Himmel beschütze Sie! Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.«

»Adieu! Adieu!«

Noch ein letzter Händedruck, dann schieden sie und Lionel kehrte zu Hermanns Versteck zurück. »Bist du auch ungeduldig geworden?« raunte er. »Mr. Peppers läßt dich bestens grüßen. Denke nur, was er von mir verlangte!«

Und Lionel berichtete den Inhalt seines, mit dem Trapper gehabten Gespräches. »Es thut mir aber doch in der Seele weh, so bestimmt nein sagen zu müssen,« setzte er hinzu. »Der arme Jack bat flehentlich, er hat die Abweisung gewiß sehr tief empfunden.«

Hermann schüttelte den Kopf. »Aber ein solcher Verrat, Lionel! Die Sache war doch wahrhaftig ganz undenkbar.«

»Natürlich! Und wenn du gehört hättest, mit welcher Leichtigkeit er davon sprach, wieder einen neuen Kampf, neues Blutvergießen heraufzubeschwören. Diese Fanatiker eines verurteilten Unternehmens achten das Menschenleben für nichts.«

»Laß uns nur jetzt leise an Bord schleichen, Lionel. Es ist doch besser, nicht erst entdeckt zu werden!«

Das Boot brachte beide bis zum Fallreep, von wo aus sie unbemerkt an Deck gelangten. Der Unteroffizier wachte noch, er rückte auf der gemeinschaftlichen Streu nahe heran und ließ sich alles erzählen, was Lionel über die Verhältnisse in der Heimat erfahren hatte. Wie ging da allen dreien das Herz auf! Sie plauderten von diesem und dem bis an den hellen Morgen, von Leuten, die sie alle kannten, von Stätten, die ihnen teuer waren. »Man hungert in den lieben alten Häusern,« flüsterte Lionel, »die Kranken verschmachten und die Kinder sterben am Mangel. Es ist mir eiskalt durch alle Adern gelaufen bei dem, was der Trapper erzählte.«

Der Unteroffizier nickte. »Peppers verwünschte uns natürlich in allen Tonarten?« sagte er. »Wir sind in seinen Augen Diebe und Räuber.«

»Er weinte fast. Das Elend sei schrecklich, versicherte er.«

Eine Pause folgte diesen Worten. Lionel verschwieg natürlich den Vorschlag des Trappers gänzlich, aber Martin Reuter mochte die Sache auch unausgesprochen dennoch mehr als halb durchschauen.

»Gerettet hätten die paar Kisten und Säcke voll Nahrungsmittel das Land nun doch auch nicht!« sagte er nach einer Pause.

»Das war es, was mich tröstete!« rief Lionel.

Der Unteroffizier drückte ihm kräftig die Hand. »Gute Nacht jetzt, junger Herr! Was denken Sie, sollte wohl morgen da oben im Gebirge der Rest der gepaschten Waren wirklich noch aufzufinden sein?«

Lionel lächelte, obwohl es ihm weh ums Herz war. »Ich glaube es kaum!« versetzte er.

»Ich auch nicht. Und wahrhaftig, wenn es mir möglich wäre, bis an die Wolken da zwischen den dürren Felszacken Brot und Fleisch und Zucker und Wein aufzutürmen, wenn ich für alle Säuglinge Milch und für alle Kranken Thee und Suppe in Strömen über mein armes Land dahin fließen lassen könnte, – die rechte Hand gäb' ich darum.«

Lionel nickte. »Ich auch, ich auch, Mr. Reuter! Gute Nacht nun! Und reinen Mund gehalten, nicht wahr?«

»Das fragen Sie noch?« –

Es wurde still in dem niederen, engen Raume, aber doch fand sich für die letzten Stunden der Nacht kaum ein kurzer Halbschlummer, dann ging es am folgenden Morgen wieder hinauf in das Gebirge, um den Rest der dort versteckten Waren zu holen.

Zwanzig unerschrockene Männer, hatte der Trapper gesagt. Wenn nun diese Schar hinter irgend einer Ecke versteckt lag und an den gehaßten Gegnern Rache zu nehmen suchte?

Aber nein, nein, fort mit dem bloßen Gedanken daran! Jack Peppers war ein Ehrenmann, der, obwohl dem Süden und seiner Sache leidenschaftlich ergeben, doch niemals einen Akt kleinlicher, meuchelmörderischer Rache begehen würde.

Der lange Zug bewegte sich wieder wie gestern über den Moosteppich des Waldes und dann über das harte Gestein bis hinauf in die malerischen Schluchten und Windungen zwischen den Klippen, durch die das silberne Quellwasser schäumend und brausend zu Thal stürzte. Da oben strich der rote Fuchs mit Windeseile über den Plan, der Geier flog krächzend davon und die Ratten huschten in ihre Löcher. –

Alle diese Kisten und Ballen, wo waren sie geblieben?

»Fort!« raunte zufrieden nickend der Unteroffizier. »Das ist gut!«

Alles fort! Man hatte während der Nacht fleißig gearbeitet und von dem, was zu retten war, auch nicht ein Pröbchen zurückgelassen. Unsere Freunde sahen einander an, – sie empfanden die äußerliche scheinbare Täuschung wie eine wahre Wohlthat.

Anders der Offizier, welcher den Zug befehligte. Er wetterte und fluchte, daß der weite mühselige Marsch so ganz umsonst gemacht worden sei, er ließ die Umgebung nach allen Richtungen durchforschen, aber völlig vergebens: das harte Gestein hatte nicht einmal die Spuren der unerwarteten Plünderer zurückbehalten. Man mußte umkehren und dem Kapitän melden, was während der Nacht geschehen war, weiter blieb nichts übrig.

Es gab ein strenges Examen, ein Fragen und Vermuten, wie es starke Mißerfolge zu begleiten pflegt. Der Kapitän knurrte den ganzen Tag, – welch' ein ärgerlicher Fleck auf seinem Bericht an die vorgesetzten Behörden war nicht dieser Fehlschlag!

Aber der zornmütige alte Herr mußte ihn trotzdem ruhig hinnehmen, er konnte nicht einmal die gefangenen vier Genossen der Blockadebrecher gehörig durchprügeln lassen, wie das sein innigster Wunsch war, sondern mußte ihnen den versprochenen Lohn herauszahlen und sie an Land schicken, ob ihm auch das Herz dabei blutete und die Finger kribbelten.

Alle Gefäße wurden mit frischem Wasser gefüllt, die Rauchwolken über den Schornsteinen beider Schiffe verdichteten sich zusehends und gegen Abend lichtete man die Anker, um das anmutige Gestade der Insel zu verlassen und vorläufig mit der Fregatte wieder zusammenzutreffen. Es mangelte an Steinkohlen; der erste kleine Seehafen sollte daher angelaufen werden, um neue Vorräte einzunehmen.

Vorher mußte indessen ein notwendiger Tausch geschehen. Die gefangenen Franzosen erhielten den Dienst an Bord der Fregatte, während die Amerikaner den auf den französischen Schiffen übernahmen.

In den Räumen des Kriegsdampfers befanden sich außerdem so viele Soldaten, daß auch der leiseste Versuch einer Meuterei sogleich im Keime erstickt werden konnte, man ließ daher die französischen Ofsiziere, nachdem dieselben ihr Ehrenwort gegeben, nicht zu fliehen, frei umhergehen und behandelte sie ihrer Erziehung gemäß, wodurch bei dem leichtlebigen Völkchen sehr bald die augenblickliche Verstimmung zu schwinden begann. Sie waren ja keine Soldaten, ihr Kaiser führte mit den Vereinigten Staaten keinen Krieg, also weshalb sich denn eigentlich erbittern?

Dergleichen macht vor der Zeit alt und vergiftet die gegenwärtige Stunde. Lieber trinkt man Wein, spielt Karten, führt ein angenehmes Dasein ohne Nachdenken.

Die ganze Unternehmung war bis auf den letzten Fehlschlag über alles Erwarten gelungen, man verließ jetzt das Gebiet des Stromes und stach in See, um den Hafen von Charleston zu erreichen, – vorher freilich sollte die Fregatte den ersten besten an der See belegenen Ort anlaufen und Steinkohlen einnehmen, der Kapitän ermahnte daher die beiden jnugen Leute, jetzt Briefe zu schreiben, die dann bei dieser Gelegenheit auf die Post gegeben werden konnten.

Lionel vernahm in trübem Schweigen die wohlwollenden Worte. Gab es auch irgendwo auf Gottes weiter Erde eine Menschenseele, die ihm angehörte? Jemand, der ein Schreiben von ihm erhoffte?

Da war Philipp Trevor, der, den er so herzlich liebte, aber zwischen ihm selbst und diesem teuersten Freunde lag die Linie, über welche zur Stunde kein Weg in das Innere des Landes führte, die Stätte, an der ein Bruder gegen den andren kämpfte, er mußte es vorläufig noch aufgeben, nach Rimond schreiben zu wollen.

Dafür legte er ein Briefchen zu den bogenlangen, fast den Umfang eines Tagebuches erreichenden Mitteilungen, welche Hermann für seine entfernten Eltern niederschrieb. Die kurze Zeit dieser angenehmen, in jeder Beziehung vom Glücke begünstigten Seefahrt war so recht ein Ausruhen von den gewaltigen und erschütternden Anstrengungen der jüngsten Vergangenheit.

Die Schiffsoffiziere versorgten unsern Freund mit Büchern, er trieb Geschichte und Latein, seine beiden Lieblingsstudien, außerdem aber übte er gemeinschaftlich mit Hermann jeden Tag mehrere Stunden lang unter Martin Reuters Leitung den Dienst mit der Waffe, um später als Freiwilliger in die Armee eintreten zu können.

An einem heiteren Frühlingsmorgen warf dann die Fregatte in einem kleinen Hafen ihre Anker aus.

In der sonnenbeschienenen Bucht lagen in langen Reihen, verödet und verlassen, die Fahrzeuge, mit denen sonst die besser gestellten Einwohner nicht allein den Küstenhandel eifrig betrieben hatten, sondern vielfach auch die Meere bereisten und mit fremden Weltteilen Tauschgeschäfte anbahnten. Jetzt waren die Takelagen eingezogen, die Farben verblaßt und die Verdecke leer. Nur kahle Masten, oder schwarze, rauchlose Schornsteine ragten in die Luft empor.

Eine starke Abteilung Soldaten ging an Land, um den Platz kennen zu lernen, – er war von Regierungstruppen besetzt und so konnte denn die Übernahme neuer Vorräte an Fleisch und Steinkohlen ungehindert beginnen.

Etwa vier Tage waren für diese Arbeiten vorgesehen; am zweiten derselben erhielten Lionel und Hermann die Erlaubnis, ihre Briefe zur Post zu bringen und dabei die Stadt, oder besser gesagt, den kleinen Ort zu besehen. Nach langer, entbehrungsvoller Zeit gingen sie zum erstenmale wieder auf gebahnten Straßen, zwischen Häusern und Gärten dahin, aber auch hier trafen die Blicke sogleich auf traurige, herzerschütternde Spuren des Krieges. Der Ort war von der Seeseite her bombardiert und an Kirchen und Häusern zeigten sich die Verwüstungen dieser schweren Stunden. Große Löcher waren in die Mauern gerissen, zuweilen hatte ein weniger starkes Bauwerk den gehäuften Angriffen nicht widerstehen können, es war in sich zusammengesunken und wüste Trümmer bezeichneten die Stätte, an der vielleicht ein stilles, friedliches Familienglück für immer zerrissen wurde.

Schwarze, halbverbrannte Holzgitter umgaben den Platz, auf dessen Rand im Schutt schon wilde Blumen sproßten; niemand dachte an das Aufbauen, so lange die Furien des Krieges das Land durchzogen und in jeder Stunde alles Bestehende wieder zerstört werden konnte.

Der Kapitän hatte jedem seiner jungen Schützlinge eine kleine Summe Geldes eingehändigt, als Zahlung für geleistete Dienste, wie er die Sache freundlich bezeichnete, in der That aber aus väterlichem Wohlwollen für die beiden Knaben, welche sich durch ihre Liebenswürdigkeit und echte Bescheidenheit längst die Zuneigung aller Reisegenossen erworben hatten. Auf dem Streifzuge durch die fremde Stadt waren sie daher nicht ohne Mittel, das Geld klimperte in den Taschen und ermutigte zur Fröhlichkeit, die auch Toby als dritter im Bunde vollständig teilte.

Zuerst wurde der Ort besehen und was sich an frischen Früchten auftreiben ließ, gekauft. Überall standen in den Gärten schöne Obstbäume, ein Fluß lief in zwei mächtigen Armen quer durch den Ort und schöne hölzerne Brücken verbanden die getrennten Ufer. Hermann entdeckte ein kleines Wirtshaus mit deutschem Aushängeschild, da sollte das Mittagsessen eingenommen werden. Ein niederer Bau lag unter Blütenbäumen fast versteckt, Linden und Platanen schmückten seine Umgebung, grüne, schattige Lauben zogen sich durch den ganzen Garten bis zum Flusse, auf den ein steinerner Balkon hinausführte. Dahinter, im umfriedeten Hofe erhoben sich die Wirtschaftsgebäude, ein Stall mit Raum für einige Kühe und Pferde, ein Taubenschlag und ein Häuschen für die zahlreichen Hühner, welche überall scharrten und zutraulich den Fremden näher kamen, um gefüttert zu werden.

»Ein hübscher Platz!« rief Lionel. »Hier laßt uns nur einstweilen bleiben!«

»Da ist auch eine Kegelbahn, du!«

»Toby setzt auf!« rief der Neger.

»Laßt uns aber erst einmal essen. Sonderbar, ich habe gar keine Fleischer- und Bäckerläden bemerkt!«

»Ich auch nicht. Aber in so kleinen Orten weiß jeder, wo Bartel den Most holt. Hallo, Herr Wirt, lassen Sie sich doch einmal bei uns sehen!«

»Welch eine unerträgliche Hitze!« warf Hermann ein.

»Das finde ich auch! Die Luft scheint vollkommen stillzustehen, es rührt sich kein Blatt!«

Toby sah in das glitzernde, blendende Weiß empor. »Kommt vielleicht großer Donner!« sagte er. »Sturm! Regen!«

»Das wollen wir nicht hoffen! Aber geh doch einmal ins Haus, Toby, das ist hier eine sonderbare Gesellschaft, – man ruft und es kommt kein Mensch!«

Der Neger ging zu einer Seitenthür, die er öffnete, um dann den Kopf hineinzustecken; einen Augenblick später erschien er wieder bei den beiden anderen. »Gleich!« berichtete er. »Gleich!«

Aber doch verging noch geraume Zeit, bevor endlich der Herr des Hauses sich zeigte. Ein gebeugter, grauhaariger Mann, gebrochen und langsam, so schlich er herbei und nahm die Mütze ab, als seine Blicke denen der jungen Leute begegneten. »Guten Tag, Gentlemen!« sagte er, »Sie wollten mich sprechen? Ich stehe zu Diensten!«

Unsere Freunde sahen einander an. War das hier eine verzauberte Burg, in der sie sich befanden? – Menschen ohne Fleisch und Blut?

»Guten Tag, Herr Wirt!« rief Lionel. »Können wir ein Mittagsessen haben und dazu eine Flasche erträglichen Wein?«

Der alte Mann faltete die Hände. »Hier gibt es keinen Wein mehr für den Altarkelch!« sagte er. »Und Fleisch? – Fleisch? Ich habe vergessen, wie es aussieht.«

»Aber Herr des Himmels, wovon lebt ihr denn?«

Der Wirt zuckte die Achseln. »Man ißt Fische, wenn der Fang ergiebig war, sonst hungert man. An Sonntagen gibt es eine Handvoll Kartoffeln.«

Wieder trafen sich die Blicke. »Und so leben alle Leute hier im Orte?« fragte Hermann.

»Hier und an anderen Stellen. Der Seehandel ist lahm gelegt, die Landwirtschaft kann nicht mehr betrieben werden, die Einquartierung verzehrt das Letzte.«

»Aber doch gegen Bezahlung, nicht wahr?«

Ein trauriges Kopfschütteln antwortete. »Hier? – Im niedergeworfenen, aufrührerischen Lande? – Wir erhalten keinen Cent!«

Er ging über den Hof und öffnete die Thüren der Ställe. »Alles leer, wie Sie sehen! Meine Pferde hat man vor die Kanonen gespannt und meine Kühe geschlachtet. Nur das Federvieh lebt von dem Elend der übrigen Geschöpfe! – Sehen Sie her, Gentlemen! Das ist die ganze Ernte des letzten Herbstes! Menschen haben davon nicht genießen können.«

Er hatte das große Scheunenthor geöffnet und deutete mit der erhobenen Hand in den inneren Raum des Gebäudes. Hier lagerten Hunderte von Säcken mit Korn, Weizen und Buchweizen, aber – jedes kleine einzelne Körnchen halb verbrannt, geschwärzt, vom Hauche des Feuers überzogen, ungenießbar für die darbenden, unglücklichen Menschen. »Zuerst wollten auch die Vögel nicht heran,« fügte der Alte hinzu, »aber sie sind durch den Hunger bezwungen und haben sich nun gewöhnt.«

»Die Herren kommen wohl vom Bord der Fregatte, die draußen im Hafen liegt?« sagte er dann. »Es ist möglicherweise dieselbe, deren Kugeln vor Jahr und Tag unseren friedlichen kleinen Ort zum Teil zerstörten. Heute müssen wir den Gewaltherrschern unsere letzten Steinkohlen ausliefern, gleichviel, ob gern oder ungern.«

»Aber jedenfalls gegen Bezahlung!« rief Lionel wieder.

»Ja! Es wird ein Preis angesetzt, wenigstens ein sogenannter, aber wer gibt uns Kohlen wieder, wenn keine Schiffe kommen und gehen?«

Der alte Mann sprach in traurigem, hoffnungslosem Tone, er sah immer vor sich hin und hielt die Hände gefaltet. »Ein Gericht Fische ist noch da,« sagte er endlich, »auch einige Kartoffeln. Sind die Herren damit zufrieden?«

Lionel bejahte und der Wirt ging davon, um das Mahl herstellen zu lassen. Es war unseren Freunden eine Erleichterung, als sie den Alten nicht mehr sahen, Lionel sank ganz erschöpft in sich zusammen. »Das arme Land!« sagte er seufzend. »O, die Unglücklichen! Jack Peppers hat wahrhaftig nicht mit den schwärzesten Farben gemalt.«

Auch Hermann war tief erschüttert. »Zu denken, daß es in unserer Heimat ebenso aussieht!« flüsterte er kopfschüttelnd. »Wie eine ausgestorbene Stadt erscheint die ganze Umgebung.«

»Und so heiß!« fügte der Neger hinzu. »Toby sucht immer kleine schwarze Wolke und kann sie nicht finden.«

»Sei doch ruhig, du Unglücksrabe! Man braucht fürwahr heute kein Unwetter, um so recht gründlich verstimmt zu werden.«

»Kommt aber doch!« nickte der Neger.

Allmählich verschwanden aus Hof und Garten die scharrenden Hühner. Eine Henne nach der anderen hüpfte eine schmale Leiter hinauf und in die offene Thür des Stalles hinein, während der bunte, stattliche Hahn mit gebieterischem Wesen unten am Boden seine Damen zusammentrieb und kräftig flügelschlagend züchtigte, sobald eine die Absicht verriet, sich heimlich wieder fortzustehlen. Das ganze Völkchen war zu Nest gekrochen, obwohl die Sonne hoch am Himmel stand.

»Da ist die kleine Wolke!« berichtete Toby. »Wird sich noch groß, so groß wie der ganze Himmel. Alles schwarz, – schwarz!«

»Und da kommt unser Fischgericht!« fügte Hermann hinzu. »Gottlob! – Mir ist hier garnicht so recht heimlich!«

»Mir auch nicht. Wenigstens gutes Trinkwasser scheint es aber doch zu geben.«

Lionel trank mehrere Gläser voll und atmete erleichtert auf. »Ich glaube, so heiß war es, seit ich lebe, noch niemals!« rief er.

Dann wurde gegessen und bezahlt, – reichlich in anbetracht des Erhaltenen. Der Wirt lächelte zum erstenmale, er gab beiden jungen Leute die Hand. »Sie sind in einem unglücklichen Lande, Gentlemen! – Kehren Sie ihm den Rücken so schnell als möglich.«

»Das wollen wir auch, obwohl in anderem Sinne, als Sie vielleicht denken. Adieu! Adieu!«

Toby hob plötzlich warnend die Hand. »Da ist der Staub,« rief er, »dieser Nigger dachte es wohl!«

Auch der Wirt erschrak. »Staub?« wiederholte er. »Gott im Himmel, ja! O dieses neue Unglück! Was soll nun werden?«

Die Luft hatte sich mit dichten, grauen Staubmassen angefüllt, ein Wogen und Wallen ging hindurch, ein heißer, furchtbar heißer Strom schien alle diese Atome in ihrem innersten Grunde aufzuwühlen. Die Lippen der Menschen wurden in wenigen Minuten schwarz, ihre Augen brannten, überall auf der Haut entstand ein quälendes Prickeln, das sich mit jeder Bewegung, jeder Berührung nur noch verstärkte, selbst der Atem ging schwer und die Brust hob sich fast krampfhaft.

»Mein Gott!« rief Lionel, »was ist das?«

»Ein Wirbelsturm! Ach, ach! – Das neue Unglück!«

»So müssen wir uns beeilen, an Bord zu gehen! Kommt, Hermann und Toby!«

Der Neger fiel ihm plötzlich in den Arm. »Nein, Massa Lionel, nein, jetzt nicht mehr. Es ist zu spät; der Tornado bricht los, ehe eine Viertelstunde vergeht.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn doch zweimal erlebt, Toby, aber so schrecklich, wie du ihn schilderst, war er nicht.«

»In Richmond!« rief eifrig der Neger. »Stehen in Richmond großes festes Haus, alles von Stein, das eine hart am anderen, – kann Tornado nichts ausrichten! Aber hier reißt er alles um, schlägt entzwei, fegt weg! So, da geht die Sonne unter.«

»Kommen Sie! Kommen Sie!« rief ängstlich der Wirt. »Ich habe einen festen, gewölbten Keller, dahin kann uns der Wirbelsturm nicht verfolgen.«

Es war während dieser kurzen Unterredung halb und halb dunkel geworden, die Luft verlor von Minute zu Minute an Wärme, ein Brausen und Singen klang von fernher heran, verzweifelte Schreie von Menschenstimmen mischten sich hinein.

»Hilfe! Hilfe! – O Jakob Peters, nimm meine Kinder in deinen Keller! Ich sehe sie nicht mehr alle! Jesus! Jesus! wo ist das kleine Mädchen?«

»Mama! Mama!« tönte bitterlich weinend eine Kinderstimme. »O Mama, wo bist du denn geblieben?«

Lionel sprang mit drei Schritten aus dem Garten hinaus und in die Finsternis dem Schalle nach. Er fand auch sogleich das weinende Kind und legte es in die Arme der Mutter, dann kehrte er zu den übrigen zurück und sagte leise: »Herr Peters, da draußen stehen wenigstens fünfzig Menschen, die sämtlich Einlaß begehren!«

Der Wirt nickte. »Ich weiß, ich weiß! Das sind die Allerärmsten, die, welche keinen Keller bauen können! – Wie sollten sie das Leben retten ohne mich?«

»Peters! Peters!« riefen wieder angstvolle Frauenstimmen. »Ach, es kommt! Es kommt! Diesmal wird das Unwetter sehr schlimm!«

Der alte Mann ging bis zur Pforte. »Kommt einzeln heran!« sagte er. »Die Frauen und Kinder zuerst!«

Alles drängte sich vor, zitternde Greisinnen, Frauen mit kleinen Kindern, blasse, hohläugige Gesichter jeder Altersstufe. In müdegeweinten Augen schimmerten große Thränen, abgemagerte Hände waren angstvoll gefaltet. »Erst meine alten Eltern!« bat eine Tochter. »Ach, Jakob Peters, laßt sie auf einem Schemel Platz finden, sie können nicht stehen.«

»Meine Kinder! Meine Kinder! Hab' ich nicht in guten Tagen Geld bei Euch verzehrt, Euch Gäste zugeführt, Jakob Peters? Jetzt denkt daran und rettet meine unschuldigen Kleinen! Ich vergelte es Euch dereinst tausendfach!«

»Landsmann! Landsmann! Die Deutschen zuerst!«

»Die Hunde, deren Waffen uns besiegen helfen? Wer hier von den Deutschen spricht, den schlage ich nieder! – Da ist meine Frau, Peters, eine echte Amerikanerin, sie ist krank und hilflos, du wirst ihr doch in deinem Keller einen Platz geben?«

Der Wirt ließ diesen ein und schob jenen zurück. »Ganz ruhig!« sagte er. »Ganz ruhig, Lewes! Mit deinen Drohungen erreichst du bei mir gar nichts. Wo ist Frau Bennett? Ihr will ich jedenfalls helfen.«

Ein Chor von Stimmen antwortete zugleich. »Mutter Bennett ist gestern gestorben, Peters! Wißt Ihr das noch nicht?«

Der Alte wiegte den Kopf. »Wohl ihr!« sagte er. »Wohl ihr! Sie braucht nun weder den Wirbelsturm zu fürchten, noch das sonstige Elend des Lebens! – Na, Kinder, euch übrigen kann ich nicht mehr helfen, – mein Keller faßt dreißig Personen und diese Zahl ist erreicht.«

Ein Schluchzen ertönte ringsum. Die zu spät Gekommenen verschwanden in der halben Finsternis, um wenigstens den trügerischen Schutz ihrer Wohnungen aufzusuchen, der Wirt dagegen führte alle, die das Unwetter in seinem Keller abwarten wollten, zunächst in das Haus, dann zog er die jungen Leute herein und versperrte Thüren und Fenster.

»Waschen Sie Ihre Gesichter!« sagte er mit hastigem, unruhigem Tone. »Das Gericht Gottes naht! – Ich denk' immer, daß es wohl einmal der jüngste Tag sein könnte, von dem solche Vorboten ausgehen! – Da steht das Wasser und nun schnell!«

Unsere Freunde nahmen mit Dank die gebotene Wohlthat entgegen. Draußen entwickelte sich unterdessen die Katastrophe. Durch die Luft ging es wie Heulen und Donnern, der Staub verschwand, um einer größeren Helle Platz zu machen, – eine ungeheure Säule aus Wind und empörten Luftmassen, in Wirbeln gedreht, von mächtiger Ausdehnung, eine furchtbare, zerstörende Macht zog gegen die unglückliche Stadt heran. Das Wehegeschrei vieler Hunderte gellte schaurig in das todesstille Haus, dessen Räume die wenigen Begünstigten umschlossen.

»Es kommt!« rief der Wirt. »Es kommt! Um Gottes willen schnell hinab in den Keller!«

Seine Hausgenossen befanden sich schon in Sicherheit, jetzt ging er selbst mit einem Lichte voran, und ihm nach drängten alle diejenigen, denen er einen Platz versprochen hatte. Jetzt war kein einzelner Laut mehr zu unterscheiden, es brauste und donnerte, als wolle die Welt in Trümmer sinken.

Hier dieser und dort jener! Sie bekamen alle ihre zugewiesene Stätte, alle einen Holzschemel, um darauf zu sitzen und ihre mitgebrachte, besonders wertvolle Habe krampfhaft an sich zu pressen, – eine Mutter die weinende Kinderschar, eine gelähmte Alte die Bibel, – ihr letztes Geld eine andre.

Von der Decke des Kellers hing eine Öllampe an drei Ketten herab, die entzündete der Wirt und faltete dann die Hände. »Herr!« sagte seine leise, bebende Stimme, »Herr, wenn es möglich ist, so laß diesen Kelch vorübergehen!«

»Amen! Amen!« tönte es, von Schluchzen unterbrochen, rings im Kreise.

Lionel und seine beiden Begleiter hatten ihre Plätze dicht an dem einzigen, bogenförmigen und ganz schmalen Fenster, das den Hinausblick auf die offene Straße gewährte. Für den Moment sah man nichts, das Unwetter bereitete sich gerade jetzt darauf vor, seine gewaltigste Wucht gegen die unglückliche Stadt zur Geltung zu bringen.

Die schwere eiserne Thür zur Treppe wurde geschlossen und einige große Steine, welche zu diesem Zwecke im Keller lagen, davor gewälzt, dann war alles geschehen, was Menschen vermochten, um dem drohenden Unheil zu begegnen.

Während der enge, niedere Raum von heißer, die Lungen vergiftender Luft erfüllt war, sank von Minute zu Minute draußen die Temperatur bis zum Gefrierpunkt. Faustgroße Hagelstücke prasselten herab und zerschlugen alles, was sie im Falle berührten. Die Dachziegel stürzten in Scherben von den Häusern, Blüten und Früchte bedeckten zu Tausenden den Boden, in tollem Wirbeltanze wurden Schornsteine und hölzerne Einfriedigungen mit fortgerissen.

Binnen wenigen Minuten lag der Hagel handhoch. Kein Blatt hatten die Bäume behalten, kein Geländer die Brücken.

Der Wirt deutete mit bebender Hand in die Ferne hinaus. »Da zieht es heran! Seht! Seht! Wie ein lebendes, fürchterliches Wesen!«

Die Luftsäule hatte den Punkt, auf welchen unsere Freunde blickten, jetzt erreicht. Was sie berührte, das fiel in Trümmer, Bäume knickten wie Strohhalme, hier stürzte ein Haus, dort eines, – binnen Sekunden zerstoben die Bruchteile des eben noch zusammenhaltenden Baues in alle vier Winde und der Platz war leer.

Jakob Peters faltete die Hände. Jetzt hing unmittelbar über seinem Haupte die Entscheidung des Schicksals, – der geängstigte Mann atmete kaum.

Und dann kam es. Zu hören war nichts, aber der gewölbte Kellerbau dröhnte, er zitterte in seinen Grundvesten, – die Lampe fiel klirrend herab, plötzlich verbreitete sich vollständige Finsternis, die auch draußen zu herrschen schien, denn durch das kleine Fenster drang kein noch so schwacher Lichtschimmer mehr herein.

»Was war das?« rief Lionel. »Es stürzte eine schwere Masse über dem Keller zusammen.«

»Mein Haus! O ich unglücklicher Mann! Mein Haus!«

Die Frauen jammerten und kreischten durcheinander. »Wenn nun das Gewölbe einstürzen sollte! Allmächtiger Himmel, man wäre lebendig begraben!«

»Die armen Kinder, sie sind noch unschuldig, haben nicht gesündigt, weshalb sollte ihnen Gott das Strafgericht schicken?«

»Luft! Luft! Besser schnell sterben als so Zoll um Zoll!«

»Soll ich das Fenster zerschlagen?« fragte Lionel.

»Es nützt Ihnen nichts, Sir! Ein Balken oder das Stück einer Mauer liegt hart davor. Wenn nicht bald Hilfe kommt, so ersticken wir alle.«

Lionel zerschlug, indem er die Hand mit dem Taschentuche umwickelte, das Glas. Es kam ein leichter, kälterer Hauch herein, wenig, ganz wenig, es zeigte sich auch ein hellerer Streif, aber in weiter Entfernung, verschoben und unsicher. Die Trümmer des zerschellten, von der Windhose vernichteten Hauses lagen zwischen ihm und den Blicken der Eingesperrten.

Wimmern und Schluchzen erfüllte die Luft. »Die Lampe, Mr. Peters! Die Lampe! Sollte sie sich nicht wieder anzünden lassen?«

»Ich suche fortwährend und finde nichts! – Ach, da ist ausgeflossenes Öl!«

»Und hier Glassplitter! Wir müssen im Dunkeln sterben!«

»Erbarme dich, Vater im Himmel, erbarme dich!«

»Toby!« raunte Lionel in das Ohr des neben ihm stehenden Schwarzen, »Toby, wie lange pflegt ein solcher Wirbelsturm anzuhalten?«

»Gewöhnlich eine Viertelstunde Sir! Ist nun bald zerplatzt, die Windhose!«

Lionel seufzte. »Wie mag es den Schiffen ergangen sein? Vielleicht sind sie im Hafen auf Grund gesunken!«

Der Schwarze schüttelte den Kopf. »Der Anker hält sie fest. Aber stoßen zusammen Schiffe, machen viel Löcher, verlieren die Takelage und das Bugspriet.«

Lionel antwortete nicht, er fühlte etwas wie den Beginn des Erstickens. So viele Personen atmeten die eingeschlossene Luft, – hoch und höher stieg die Unmöglichkeit, in diesem schrecklichen Gefängnis noch klar zu denken oder auch nur die Augen offen zu halten.

»Peters!« sagte eine Stimme, »um Gottes willen, Peters, versuchen Sie die Thür zu öffnen, man erträgt es nicht länger.«

»Ach, um Gottes willen nicht! Wenn nun Schutt und Mauerwerk uns von oben her auf die Köpfe fallen würden!«

»Dann wäre eben alles auf einmal zu Ende! Je schneller desto besser!«

»Nein! Nein! Wir könnten ja doch noch gerettet werden! Ob denn Christenmenschen ihre Nächsten in solcher Not verlassen dürfen?«

Lionel drehte plötzlich den Kopf, er horchte. »Ich glaube Stimmen zu hören!« rief er.

»O Gott! Gott! Wenn wir ausgegraben würden!«

»Die Thür! Die Thür! Vielleicht sind ja die Schuttmassen schon weggeräumt!«

»Wo man noch nicht einmal gewiß weiß, ob Menschen in der Nähe sind!«

»Da dröhnte es wieder! Der Schutt wird bei Seite geschafft!«

»Ich bin jetzt meiner Sache sicher!« rief Lionel. »Draußen sind Leute!«

»Ach! Ach! Da kommt ein Lichtstrahl! Mehr! Mehr! Zerschlagen Sie doch die ganze Scheibe, junger Herr!«

Lionel zog das letzte Splitterwerk aus dem Rahmen. Es drang Luft und Licht in das schreckliche Gefängnis, wie Schatten sah man an fernen, schmalen Spalten menschliche Geschöpfe vorübergleiten, es rumorte über den Köpfen der Eingesperrten, man hörte Stimmen. Der Aufruhr wurde allgemein, alles schrie durcheinander, jeder drängte wild zum Fenster, zur Thür, es gab sogar einige, besonders Dreiste, die den übrigen ihre geballten Fäuste zeigten.

»Ich will nicht, daß Sie mir den Platz versperren! Gehen Sie fort!«

»Wer mir zu nahe kommt, der soll es bereuen! Weg da!«

»Die Thür auf!« schrie eine junge Frau. »Mein Kind ist bewußtlos! Ich will hinaus, ich will hinaus, niemand hat das Recht, mich gegen meinen Willen zurückzuhalten!«

Sie stieß und schlug gegen die Thür, sie rüttelte mit aller Macht an dem Drücker derselben. Die starke Eisenplatte klirrte, ein dumpfes Geräusch klang herüber, – man hörte deutlich, daß schwere Schuttmassen herabgefallen waren und jetzt die Treppe versperrten.

Ein Wutschrei gellte durch den Raum. »Das kommt nun davon! Wenn jetzt die Thür weicht, so werden wir alle erschlagen!«

Im Augenblick war die unglückliche Mutter mit dem bewußtlosen Kinde im Arm ganz in den Hintergrund des Kellers geschoben, es wurden Holzschemel geschwungen und wilde Drohworte ausgestoßen, dann mischte Lionel sich in das Toben hinein. »Herr Peters, Sie müssen bestimmte Befehle geben, deucht mich! Soll ich die Wache an der Thür übernehmen?«

siehe Bildunterschrift

In Peters' Keller während des Tornado.

Der Wirt seufzte nur tief. »Sie hält!« murmelte er. »Sie hält!«

»Ja, das weiß ich doch nicht, Herr Peters! Sehen Sie den breiten Spalt zwischen dem Schloß und dem Fußboden? Die Last der Steine drückt schwer dagegen und die Thür schlägt nach innen!«

Jakob Peters legte beide Hände vor das Gesicht, er weinte im Übermaß der innern Qual. »Mein Haus war es!« ächzte er. »Mein liebes, altes Haus!«

Lionel gab seinen beiden Genossen einen Wink, – es war die höchste Zeit, dem Verderben zu steuern. Schon wieder bohrten sich heiße Hände in den Spalt und suchten im wahnwitzigen Verlangen nach Erlösung die halberbrochene Thür gewaltsam zu öffnen. Staub drang hindurch, es rollte und kollerte, – das Schlimmste hätte geschehen können, wenn nicht die drei jungen Leute kurz entschlossen dazwischen gesprungen wären. Sie stellten sich mit dem Rücken gegen die bedrohte Eisenplatte und ließen sämtliche Angreifer toben, ohne davon Notiz zu nehmen.

Dann geschah etwas, das im Augenblick ein allgemeines starres Entsetzen hervorrief. Aus dem mittleren Teile der Wölbung fiel ein Ziegelstein in den Keller herab, allerdings ohne jemand zu treffen, aber doch als eine Art von Warnung des Schicksals, wie ein erhobener Finger, der sich ausstreckt, um auf die Gefahr hinzudeuten.

Aller Augen suchten die leere Höhlung, in aller Herzen lebte ein Gedanke. Wird das ganze Gewölbe einstürzen?

»Und wenn auch nur jeder Stein einzeln herabfiele!« sagte gleichsam als Antwort auf die allgemeine Stimmung ein schreckensbleicher Mund.

Der Keller dröhnte, es regnete Staub. Ein zweiter Stein fiel, – noch einer – –

Wie angstvoll die Herzen schlugen, wie sich einer dieser Gefolterten an den andern drängte. Ein Todesschweigen beherrschte die Versammlung.

Niemand hatte es beachtet, daß mehr und mehr Licht in den Raum hineindrang, niemand hatte gehört, daß kräftige Arme den aufgehäuften Schutt bei Seite warfen und bald genug das Fenster freilegten. »Halloh!« rief eine Stimme. »Lebt ihr noch da unten?«

Es war ein Soldat, der da draußen auf den Knieen lag und gebückt in den Keller hinabsah, – wie eine Engelsbotschaft drang seine Stimme zu den geängstigten Menschen, jeder antwortete, jeder bat und schrie, – der Mann war außer stande, irgend ein Wort zu verstehen.

»Sie leben!« berichtete er einem Vorgesetzten. »Ich glaube, daß um etwas Wasser oder Branntwein gebeten wurde.«

Flasche nach Flasche wanderte durch den engen Spalt. Die Soldaten trösteten nach Kräften, sie versicherten, daß die Rettung ganz nahe sei und daß mehr als hundert Mann den Schutt und die Balken entfernten, um bis zur Treppe vorzudringen.

Aber das Gewölbe? Das Gewölbe? – Würde es die große Last tragen können?

Wieder fiel drinnen ein Stein. »Gott im Himmel, stehe uns bei! Laß uns nicht in der zwölften Stunde zu schanden werden!«

»Betet! Betet!« ermahnte eine Stimme. »Herr, dein Wille geschehe!«

Und schluchzend mit gesenkten Stirnen wiederholten alle die Worte des heiligen Gebets.


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