Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII.

Auch unsere Freunde stiegen die Treppen hinab und mischten sich unter das Volk. Es galt zunächst, herauszufinden, ob ihr Regiment anwesend sei und wen von den Genossen des langen, beschwerlichen Weges das Schicksal heute noch als Sieger hierhergeführt habe.

Vielleicht war so manch' vertrautes Antlitz dahin für immer, vielleicht hieß es von manch' lieber Stimme ›du wirst ihren Klang nie wieder hören.‹

Straße nach Straße füllte sich Kopf an Kopf mit Soldaten, mit Pferden und Gepäckwagen, jeder Hof, jeder Thorweg war versperrt. Unruhig liefen die behördlichen Personen umher, widerstrebend wurden Häuser und Magazine geöffnet, um herauszugeben, was sie an Vorräten besaßen. In den Straßen lagerten die Truppen, bei den Überresten niedergebrannter Häuser kochten sie ihre Frühstücksmahlzeit.

Und allmählich nahm der Zuzug ein Ende. Seitab von der Stadt gingen andere Regimenter vorüber, von der Uniform der Konföderierten war nichts mehr zu entdecken; die Soldaten genossen, meist unter freiem Himmel lagernd, eine kurze Rast, ehe sie weiter zogen, dem Sturme auf Richmond entgegen.

Unsere Freunde suchten und suchten, bis endlich das Glück ihnen günstig war. Aus einer Seitenstraße hervor kam ein junger Neger in der Uniform der Trainsoldaten gesprungen, er hielt unter jedem Arme ein riesiges Brot und wollte eben dicht vor den Fünfen über den Fahrdamm gleiten, als er plötzlich mit einem lauten Aufschrei stehen blieb, alter Gewohnheit nach beide Hände gegen die Kniee schlug und dadurch die großen Brote schmählich in den Sand kollern ließ.

»Master Lionel! Master Hermann!«

»Toby! Toby! – Welch' ein Glück, daß wir uns treffen!«

Der ehrliche Bursche umarmte in seiner Herzensfreude erst einen, dann den anderen. »Da drüben steht Ralph!« rief er. »Armer Ralph, er hat Massa Lionel für tot betrauert, hat immer geweint und gesagt, einen müsse es brennen in alle Ewigkeit. Was meint er damit?«

Und dann rief er laut: »Ralph! Ralph!«

Der Neger mochte den kindischen Burschen für bedroht halten, denn er kam eiligen Schrittes herbei, – dann aber war sein Entzücken grenzenlos, unendlich rührend für alle, die es sahen. Ralph drückte die Hände des jugendlichen Genossen, er küßte den Mund, den ihm Lionel in dankbarer Liebe darbot. »Mein Junge,« sagte er mit erstickter Stimme, »o mein Herzensjunge! – und ich hielt dich für tot, ich glaubte die Freiheit meines Volkes zu teuer erkauft mit deinem Leben!«

»Guter Ralph, – wie lieb habe ich dich!«

Sie standen noch immer Hand in Hand, neugierig gemustert von den Vielen, die rechts und links vorübergingen. »Sir!« bebte es über die Lippen des Negers, »Sir, – ich wußte eben kaum selbst, was ich sprach. Es war die Freude, welche mich so sehr hinriß!«

Lionel lächelte. »Ich will immer dein Herzensjunge sein, alter Ralph, immer, gerade weil du eine schwarze Haut trägst. Und zudem, – war nicht mein Vater dein Freund, hast du mich nicht vom ersten Lebenstage her gekannt?«

Ralph nickte. »Ja, ja, Sir! Meine Hand, diese schwarze Hand hier, hat den Sarg der armen Missy Jane, Ihrer Mutter, in das Grab versenkt.«

Lionel erstickte den Seufzer, welcher seine Brust hob. »Mein guter, lieber Ralph,« sagte er mit innigem Tone, »Gottlob, daß du lebst und mir unbeschadet entgegen kommst. Nenne mich immerhin ›du‹ und ›Lionel‹, – ich wünsche es von Herzen.«

Aber der Neger schüttelte den Kopf. »Nein, junger Herr, nein, das geht nicht an; ich weiß, was sich schickt. Es kommt der Tag, an dem Sie der Gutsherr von Seven-Oaks werden, – gewiß, er kommt, oder es gäbe keine Gerechtigkeit des Schicksals mehr. Ja und dann bin ich Ihr schwarzer Kutscher, weiter nichts, wenn ich Sie auch noch so lieb habe.«

Er fuhr mit der Hand durch das wollige Haar. »Wir sind ganz allein geblieben, junger Herr! Die anderen sitzen wohl schon am Feuer unserer Kompanie und essen.«

Lionel lachte. »Gottlob!« rief er. »Der gute Tompkins empfand einen so nagenden Hunger, – sahst du nicht, wie er sofort in Tobys Brot hineinbiß?«

Ralph nickte. »Jetzt ist genug Speise vorhanden,« antwortete er. »Wir haben den Konföderierten wenigstens für drei Monate Proviant weggenommen.«

»Die letzte Nacht war wohl schlimm, Ralph?«

Der Neger schüttelte sich vor Grauen. »Entsetzlich, Sir, viel schrecklicher, als ich es Ihnen schildern könnte. Die Leichen lagen zu Bergen getürmt, Verwundete mitten darunter, es schrie und ächzte und wimmerte durcheinander. Eine schiefe Ebene war es, wo sich das vollzog, eine Thalmulde – der Weg aus dem Walde heraus –«

Ralph hielt inne, wie um Fassung zu gewinnen. »Und gerade unser Regiment,« sagte er mit leisem, erschütterndem Tone.

»Was war es damit, du?«

»Ach – gräßlich! An einem anderen Punkte drohte uns die augenblickliche Niederlage, es mußte Verstärkung dahin, Artillerie.«

»Aber – doch nicht durch jene Thalmulde?«

Ralph nickte nur. Die beiden gingen eine Strecke weit schweigend neben einander her, der Neger wie in Gedanken verloren. »Über alle die unglücklichen, halbzerschlagenen und zerschossenen Körper hinweg,« sagte er dann. »Es mußte sein, um eine zehnfach größere Anzahl zu retten, aber es war schrecklich. Eine wilde Bewegung kam in die Massen, Tote schienen sich aufzurichten, Glieder ohne Rumpf sah man gespensterhaft zucken – –«

»Ralph!«

»Es war so, Sir. Die Unglücklichen erkannten, was ihnen bevorstand. Sie suchten sich auf alle mögliche Weise zu retten.«

»Und doch – ist das Entsetzliche ausgeführt worden?«

»Ja. Mitten hindurch gingen die Geschütze. Es gab da kein Kommando, die Offiziere konnten nicht sprechen, – ach, Sir, wie gut war es, daß Sie die Sache nicht mit ansahen. Dergleichen bleibt, glaube ich, für alle Zeit dem Menschen im Gedächtnis.«

Lionel seufzte. »Und unser Regiment mußte so hart betroffen werden? – Wie traurig! – Sag' mir Ralph, ist Leutnant Morris, der damals den Zug zur Farm deines Gebieters befehligte, auch unter den Toten?«

Der Schwarze nickte. »Gerädert, in Stücke zerrissen, das arme junge Blut.«

»Großer Gott! Und der deutsche Hauptmann, der Gefreite Wölfert –«

»Alle dahin. Die Hälfte unserer Kameraden liegt begraben unter der glühenden Asche des niedergebrannten Waldes.«

Eine längere Pause folgte diesen Worten. »Und Sie, junger Herr?« fragte dann der Neger. »Wie erging es Ihnen?«

Lionel erzählte in kurzen Zügen, und während er so das Hauptsächlichste zusammenfaßte, gingen die beiden zum Lagerplatz ihres Regimentes, wo unter den Kameraden eine sehr ernste Stimmung herrschte. Die furchtbaren Erlebnisse der Nacht, die Geist und Körper erschöpfenden Anstrengungen waren mit deutlichen Zügen in alle diese bleichen Gesichter geschrieben. Versengt das Haar und der Bart, geschwärzt vom Pulverdampf die Stirn, in Fetzen zerrissen die Uniform, so saßen zu Tausenden diese tapferen, für eine Idee kämpfenden Männer um das glimmende Feuer und verzehrten gebratenen Speck mit Schwarzbrot und heißen Kaffee, ohne dabei eine Unterhaltung zu führen, ja ohne ein Scherzwort, ein Lächeln. Der Tod hatte jedem einzelnen unter ihnen zu nahe ins Auge gesehen, – der Schreck war noch nicht aus den Herzen verbannt.

Viele Soldaten lagen auch mit dem Kopf auf dem Tornister und schliefen. Die Mütze deckte das Gesicht, matt ruhten die sonnenverbrannten Hände am Boden, während zuweilen ein leise gemurmeltes Wort, ein Schreckenslaut den Lippen entfloh. Der Traumgott führte die Leute zurück zu den furchtbaren Szenen, welche sie jüngst durchlebt hatten, – noch bebte das Herz, noch fieberte in jedem Blutstropfen die Aufregung.

Andere wieder saßen und schrieben. Die Feldpost sollte gleich nach dem Frühstück abgehen; hinter dem siegreichen Heere waren ja Eisenbahnen und Telegraphen in unglaublich kurzer Frist neu gelegt worden, während also die Siegesbotschaft hinausflog in alle Welt, konnten auch die einzelnen Leute ihren Lieben in der Heimat ein Wort des Grußes senden, eine einzige Zeile vielleicht nur, aber doch alles enthaltend, was jene zu sehen, zu erfahren wünschten: ich lebe und bin unbeschädigt.

Auf mühsam gezügeltem Pferde ritten zwei Soldaten durch die Reihen und sammelten von ihren Kameraden die Briefschaften ein. Wo einer nicht zu wecken war, da ließ sich wohl annehmen, daß er auch keine Lieben besaß, um ihnen die Botschaft des Trostes zu senden, daß er allein stand und im Schlafe zu vergessen suchte, wie viel Schweres das Leben ihm schon gebracht hatte und wohl ferner noch bringen werde. Das waren die blassen Gesichter mit den umdüsterten Mienen, die festgeschlossenen Lippen und tiefliegenden Augen, – viele, viele Deutsche darunter, Leute, die im Vaterlande alles verloren hatten, durch eigene Schuld vielleicht, und die nun den jahrelangen Krieg mitmachten, weil sie vom endlichen Ausgange desselben irgend einen Vorteil, eine Sicherstellung ihres Schicksals erwarteten. Die Regierung würde Ländereien verteilen, so hieß es, – vielleicht war ja das Glück günstig, man erhielt mit der Zeit eine Farm, konnte ein neues, besseres Leben beginnen und wenn's gut ging, verjährte Schulden bezahlen.

Im Schlafe wandte sich das müde Haupt. Oft schon klangen die hellen Trompetentöne der Feldpost in die Ohren dieser einsamen Träumer, oft schon, nach manch' hartem Strauße auf blutiger Wahlstatt, – aber sie verhallten ungehört, unbeachtet. Zu wem sollte es flattern, das Blatt mit der Botschaft des Sieges? –

Andere baten flehentlich ihre begünstigteren Kameraden um ein Stückchen Papier oder einen Bleistift. Auf des einen Schultern schrieb der zweite, auf dem nächstbesten Kanonenrad ein dritter. Übervoll war schon die Posttasche und mehr und mehr Schriftstücke kamen hinzu, auch Lionel und Hermann sandten kurze Grüße nach Chicago, dann, als die Feldpost abgegangen war, meldeten sie sich bei dem Kommando des Regimentes und erhielten eine völlig neue Ausrüstung, um an der früheren Stelle in Reih' und Glied wieder einzutreten.

Nach einigen Tagen sollte von Charleston mit der Bahn ein Ersatzbataillon eintreffen, bis dahin blieb das Regiment zur Ergänzung aller verloren gegangenen Monturstücke und Waffen hier liegen, während andere, minder schwer betroffene Truppenteile schon am Abend desselben Tages aufbrechen würden, um den weiteren Vormarsch zur virginischen Grenze anzutreten.

Gegen Mittag hatte sich die Verwirrung gehoben. Alle verschlossenen Bürgerhäuser waren zwangsweise geöffnet worden und von den Soldaten in Besitz genommen. Man bewilligte der Familie einen Raum, der ihr allein überlassen blieb, alles andere wurde mit Beschlag belegt und außerdem sämtliche Vorräte in Anspruch genommen, besonders das lebende Weidevieh. Die Stadt ächzte unter dem eisernen Drucke des siegreichen Gegners.

Am nächstfolgenden Mittag kamen in langen Zügen die Verwundeten und Gefangenen der letzten Schlacht, Tausende, welche von ihren flüchtenden Genossen nicht fortgeschafft werden konnten, sondern am Wegesrande liegen blieben, unbeachtet, ungepflegt, vielleicht dem sicheren Verderben preisgegeben, wenn nicht der großmütige Sieger sich ihrer erbarmt hätte.

Ganze Abteilungen Infanterie rückten aus, um die Toten zu bestatten und die noch Lebenden aufzulesen. Viele starben während des Transportes, andere wurden in großen Zelten untergebracht, versorgt und verbunden, so gut es eben ging, Freund und Feind ohne irgend einen Unterschied.

Tausende lagen so hingestreckt, bleiche Gesichter sahen aus allen Fenstern, Leichtverwundete hinkten in jeder Straße.

An den Krankenbetten, hinter den Fahrstühlen und neben den Ermatteten stand das Volk der Schwarzen. Die dankbaren Geschöpfe vergaßen das eigene Leid, um dem fremden zu steuern, sie ertrugen geduldig alle Beschwerden, alle Entbehrungen und Plagen, um nur dem Sieger ihre innige Erkenntlichkeit zu bezeugen. In den Lazarettbaracken und den Bürgerhäusern bewegten sich schwarze Frauen, an den Lagerstätten der Fiebernden standen sie und kühlten die heißen Stirnen, mit den Unruhigen, Ängstlichen wachten sie, den Verzweifelten sprachen sie sanften Trost ins Herz.

Immer neue Massen folgten den Erstgekommenen, nur die Schwerleidenden blieben in der Stadt zurück, alle übrigen mußten die Weiterreise antreten, meistens nach rückwärts in die bereits besetzten Landesteile, zuweilen aber auch mit dem vordringenden Heere, um unter sicherer Bedeckung Quartier zu suchen, wo noch nicht alles überfüllt war.

Es gab in der Stadt keine Henne mehr und kein Ei, keine Kuh und keine Milch. Wie rasiert waren die Weiden, wie ausgeplündert die Speicher.

Für den folgenden Tag hatte das Regiment unserer Freunde Marschbefehl. Die Ersatzmannschaft war eingetroffen und so konnte es weiter gehen, neuen Kämpfen und Siegen entgegen. Andere ermattete Truppenteile blieben dann wieder zu mehrtägiger Rast als Besatzung der Stadt und zum Schutze der zahlreichen Lazarettbaracken an Stelle der Fortgehenden zurück.

Eine ganze Gasse von weißen Zelten dehnte sich weithin im Abendschein. Hie und da stand ein Wachtposten mit dem Gewehr auf der Schulter, die uniformierten Ärzte gingen ab und zu, man trug einen Toten in die Leichenkammer oder einen Genesenden in die sanfte Kühle des Abends, – stiller Friede lag auf allen diesen Zelten, in denen Schmerz und Leid eine so reiche Ernte hielten.

Auch Lionel hatte die Wache. Ganz in Gedanken versunken wanderte er auf und ab, ohne sich um das ihm zunächst stehende Zelt wirklich zu bekümmern. Zwei konföderierte Offiziere bewohnten es, das wußte er, beide ziemlich schwer verwundet und an das Bett gefesselt. Ein Krankenwärter war ihnen beigegeben, doch dieser litt selbst an einem schleichenden Fieber, weshalb er, so oft es nur anging, ein Schlummerstündchen hielt, und, anstatt nach seinen Schutzbefohlenen zu sehen, die Decke über den Kopf zog, um selbst Linderung zu finden.

Auch an diesem Abend schlief er fest. Die Leinenthüren des Zeltes waren zurückgeschlagen, rechts und links standen die beiden Betten und zuweilen drang leises Geflüster aus dem Innern des Raumes hervor. Den Offizieren waren einige Vergünstigungen eingeräumt, man hatte ihnen Bücher und Schreibmaterialien überlassen, sie wurden nur wie Kranke behandelt, nicht wie Kriegsgefangene, daher kam es, daß bei Einbruch der Nacht die Zeltwände noch offen standen und daß sogar, als Lionel zufällig aufblickte, die Hand des einen der beiden Offiziere ihm winkte.

»Kommen Sie, bitte, einen Augenblick hierher, junger Freund!«

Lionel blieb stehen. »Es ist verboten, mit den Gefangenen zu sprechen,« antwortete er zögernd.

»Ach, mein lieber Junge, es sieht's ja kein Auge! Wenn dergleichen ein Gebot der Moral wäre, so wollte ich Ihre Bedenken gelten lassen, aber so! – Bitte, treten Sie ein wenig näher, Mr. Forster.«

»Was? –«

»Ja, ja, Mr. Forster! Sie sind es ja doch, ich bin jetzt vollkommen überzeugt; Mr. Forster von Seven-Oaks! Vielleicht könnte ich für Ihr ganzes ferneres Lebensschicksal von unberechenbarem Nutzen werden, stoßen Sie also die Bekanntschaft mit mir nicht mutwillig zurück.«

Lionel sandte einen schnellen Rundblick nach allen Seiten. Was war es denn auch weiter, wenn er mit dem Gefangenen einige Worte wechselte?

»Nun?« fragte er, dem Eingange des Zeltes näher tretend. »Wer sind Sie denn eigentlich, Sir?«

»Kennen Sie mich nicht, junger Herr?«

Ein bleiches, müdes Gesicht hob sich aus den Kissen des Bettes, dunkle Augen sahen dem jungen Soldaten erwartungsvoll entgegen. »Nun?« fragte der Verwundete, »Sie kennen mich wirklich nicht?«

Lionel war sehr überrascht, sein Herz schlug plötzlich mit verdoppelter Eile. »Mr. Mason, der Notar,« rief er.

»Richtig, junger Freund! Und nun sagen Sie mir zunächst, wie es möglich ist, daß Sie hierher kommen. – Man hat wahrscheinlich die letztwilligen Verfügungen Ihres Onkels nicht anerkennen wollen, man hat –«

»Überhaupt keine gefunden, Sir!« schaltete Lionel ein. »Sie waren es, wenn ich nicht irre, der das Testament aufsetzte?«

»Ja, ich. Mr. Forster, wissen Sie auch, daß Ihnen Seven-Oaks mit allem Zubehör vermacht worden ist, daß Sie Mr. Trevors Universalerbe sind?«

Lionel zuckte die Achseln. »Gott wollte es anders, Sir! Man hat das ganze Haus durchsucht, aber kein Testament gefunden.«

»So daß Mr. Manfred Trevor für seinen minderjährigen Sohn die Hinterlassenschaft des Gutsherrn ohne Widerspruch antreten konnte?«

»Ja!«

Der Verwundete richtete sich vom Bett auf. »Higgins,« redete er seinen Gefährten an, »Higgins, ich glaube, daß wir jetzt gewonnenes Spiel haben.«

Der andere Offizier seufzte, »Aus welchem Grunde?« fragte er.

»Geben Sie nur acht, es wird Ihnen sogleich klar werden!«

Dann wandte er sich wieder zu unserem Freunde. »Man hat Sie also in die Welt hinausgestoßcn, Mr. Forster? Man hat Ihnen vielleicht gar die Thür gezeigt? Erzählen Sie mir davon ein wenig!«

Lionel berichtete in Kürze, wie es ihm seit dem jähen Tode des Gutsherrn ergangen war und Mr. Mason hörte kopfnickend zu, offenbar sehr befriedigt, zuweilen sogar vor Vergnügen schmunzelnd. »Das ist ja nett!« rief er, »das ist ja nett! Der Erbe unermeßlicher Schätze putzt als Sklave Kartoffeln und nimmt auf dem Vorplatz die Hüte und Mäntel der Besucher in Empfang. Na, – weiter im Text!«

»Ich entfloh und trat als Freiwilliger ein!« schloß Lionel. »Was ferner geschehen mag, das steht in Gottes Hand. Zunächst ist es wohl abhängig von der Entscheidung der Waffen.«

»Die bereits gefallen ist!« sagte seufzend Mr. Higgins, der andere Offizier. »Die Konföderierten sind so gut wie vernichtet.«

»Lassen wir das,« wehrte der Notar. »Weshalb soll man sich früher als ganz notwendig die gute Laune verderben?«

»Mr. Forster,« setzte er dann hinzu, »Ihre Sache steht nicht so schlecht, wie Sie möglicherweise denken.«

Lionels Blicke leuchteten plötzlich auf. »Mr. Mason!« rief er, »Sie wissen, an welchem Orte das Testament versteckt war?«

Der Notar schüttelte den Kopf. »Das allerdings nicht!« gestand er. »Aber ich besitze eine Abschrift des ganzen Dokumentes, ich kann auch und würde unter Umständen sogar mit der ganzen Schwere des amtlichen Eides für Ihre Rechte eintreten.«

Lionel ließ unwillkürlich den Kolben des Gewehres zu Boden sinken, seine Hände bebten. »Eine Abschrift?« wiederholte er. »O Sir! und Sie wollen mir nicht helfen, das was für mich bestimmt war, auch wirklich zu erreichen?«

Der Notar nickte. »Unter Umständen!« wiederholte er.

»Das heißt, Sie stellen Bedingungen?«

»Eine einzige, aber diese ist dafür auch unerläßlich. Meine ganze Kraft, mein ganzer bedeutender Einfluß gegen – – ja, was sage ich nur? – gegen einen Blick von Ihnen! Ist das nicht für Sie ein guter Handel?«

Es war, als habe Lionel urplötzlich verstanden und als stürze eben so plötzlich sein kaum erbautes Luftschloß in Trümmer. Er schüttelte den Kopf leise und traurig. »Das kann ich nicht, Sir! Es ist unmöglich.«

»Was ist unmöglich, junges Blut? Sie wissen ja noch von nichts.«

»Doch Sir! Ich kann nicht nach einer Seite sehen, während Sie – nach der anderen hin entfliehen.«

Der Notar schien ärgerlich. »Sie vergessen den Preis, welchen ich zu zahlen beabsichtige,« rief er hastig.

»O nein, Sir, aber – bitte, lassen Sie uns jetzt das Gespräch abbrechen. Ich kann Ihrem Wunsche nicht willfahren.«

»Ohne so recht darüber nachgedacht zu haben, junger Freund? – Ist dies übrigens Ihre erste Wache?«

»Ja, Sir!«

»Nun gut, dann überlegen Sie sich die Sache. Vielleicht erscheint es Ihnen doch ganz annehmbar, Seven-Oaks für ein Nichts zu erkaufen.«

Lionel schüttelte den Kopf, aber er schwieg und grüßte nur stumm, ehe er seine frühere Wanderung wieder aufnahm. Ein Stein war ihm auf den Weg gefallen, ein Stein, über den er – –

Nein, nein, – nicht stolpern. Nicht das. Aber es war schmerzlich, so die Hand des Versuchers ausgestreckt zu sehen, es war ein beinahe wildes Weh, an Seven-Oaks zu denken mit dem Bewußtsein, es nie, nie besitzen zu sollen.

Er ging auf und ab, – auf und ab – immer vorüber an der offenen Zeltthür, aber er sah nicht hinein und auch der Notar schwieg jetzt vollständig. Vielleicht wollte er seine Worte nachwirken lassen, wollte in dem jungen Herzen die Sehnsucht erwecken und dadurch die lebendige Widerstandskraft schwächen, vielleicht dachte er durch scheinbares Zurückweichen auch den Trotz, die Furcht vor schlimmen Folgen in Lionels Seele zu entflammen, jedenfalls sprach er kein Wort und auch Lionel suchte das Geschehene zu vergessen, freilich umsonst, dafür war der Eindruck zu mächtig gewesen. Seven-Oaks – immer noch stürmte all sein Blut heiß zum Herzen, sobald er des trauten Namen nur gedachte.

Im Zelt erhob sich der Wärter ächzend aus unruhigem Schlummer, die Nacht sank tiefer herab, vom Himmel glänzten tausend Sterne. Wie war das Leben so lockend schön, seine Güter so kostbar, – wie war es unendlich selig, sich als Gebieter von Seven-Oaks zu wissen! –

Aber doch nicht um den Preis des Verrates. Nein, nie, nie.

Lieber wollte er der virginischen Grenze entgegengehen auf alle Gefahr hin, lieber wollte er abermals Sklave werden, als einen Treubruch verschulden.

Hoffentlich brachte ihn die zweite Wache an einen anderen entfernteren Punkt, dann hörte er die Stimme des Notars nicht wieder und gleich einem lebhaften Traume zog die Erinnerung dessen, was er erfahren, an seiner Seele vorüber, ohne in derselben bleibende Spuren zurückzulassen.

Dann kam die Ablösung und nun konnte er sich in dem zur Wachtstube eingerichteten Schulraume auf die Bank strecken und schlafen, wenn – es ihm möglich war.

Aber da steckte der Knoten. »Ich besitze eine Abschrift!« klang es wieder und wieder vor seinem Ohre, »ich will auch unter Umständen mit der ganzen Schwere meines amtlichen Zeugnisses für Ihre Rechte eintreten!« – –

Ja, unter Umständen, das war es!

Und Lionel legte sich auf die andere Seite. Wer doch vergessen könnte!

»Was plagt dich denn?« fragten die Kameraden. »Du fällst gleich von der Bank, Forster. Komm, nimm einen Schlaftrunk!«

Lionel schüttelte den Kopf. »Ich mag nicht. Wie heiß ist es hier!«

Jetzt lachten alle. »Während uns friert!« rief einer. »Forster, hast du etwa ein Gespenst gesehen?«

»Das ist möglich!«

Und er ging hinaus, um die freie Nachtluft auf seine erhitzten Lungen einwirken zu lassen. Drüben lagen die langen Reihen von Zelten, hinter ihnen ragte der Wald, dessen grüne Tiefe jeden Weg und jede Spur verschlang. Zwei Männer konnten da wie in den Boden hinein verschwinden, – die Sache schien so einfach.

Auch hier draußen lockte schmeichelnd der Versucher, er war überall, aus jedem Gebüsch und jedem Winkel hervor klang seine Stimme. Lionel seufzte unruhig, beklommen. Wäre doch erst diese Nacht vorüber! –

Es schien eine Ewigkeit, bis die Ablösung kam. Welche Wacht würde ihm diesmal das Geschick bestimmen?

Stumm folgte er dem vorausgehenden Gefreiten. Noch weiter? Und noch weiter? Wirklich wieder bis an das letzte Zelt?

Er sollte ihn also noch nicht ausgestritten haben, den heißen Kampf zwischen der Pflicht und dem Wunsche!

Still im Halbschatten der Nacht lagen die Zelte. Gähnend, müde und frostig zog der abgelöste Soldat mit dem Gefreiten davon und Lionel war vor der beweglichen Thür aus weißem Linnen wieder allein. Nirgends zeigte sich eine Spur des Lebens, alles rings umher schlief fest, auch die Bewohner des Zeltes schienen zu ruhen, wenigstens sah Lionel auf den ersten Blick von ihnen nichts.

Die Schritte des Gefreiten und des Wachtpostens verhallten, – jetzt war unser Freund allein. Ihm schlug das Herz wie ein Hammer.

Er wollte nicht hinübersehen, aber dennoch, wie durch Zauberei bemerkte er alles. Leise, ganz leise teilte sich der leinene Vorhang, es kam eine Hand zum Vorschein, ein bleiches Gesicht.

»Mr. Forster!«

»Lassen Sie mich, Sir!«

Und er setzte seine Wanderung fort, bis ihm der nächste Posten begegnete und beide umkehrten. Langsamen Schrittes ging er zurück.

»Mr. Forster, auf ein Wort!«

Und jetzt stand der Notar vor dem Zelte. Ein zerschlissener Rock bedeckte seine Schultern, ein Strohhut ging bis tief in die Stirn hinab, er sah aus wie etwa ein dörflicher Handwerker, der umherwandert und zerbrochenes Geschirr oder stumpf gewordenes Werkzeug zusammenträgt.

Hinter ihm erschien in den Falten des Vorhanges Mr. Higgins, sein Genosse, auch in Zivilkleidern, wie er selbst.

Lionel erschrak. »Was bedeutet das?« fragte er unruhig.

»Pst! Lassen Sie den Wärter nicht erwachen, junger Herr!«

Lionel streckte die Hand aus. »Gehen Sie in das Zelt zurück, Mr. Mason, augenblicklich, oder ich schlage Lärm.«

»Still doch! – Welch' ein –«

»Gehen Sie in das Zelt zurück, Sir, oder –«

Der Notar ließ ihn nicht ausreden, aber er gehorchte in der offenbaren Absicht, kein Aufsehen zu erregen. Von drinnen wiederholte er flüsternd sein Angebot. »Sie wissen nicht, wie viele Hebel ich in Bewegung setzen kann, Sir! Will ich es, so ist Ihre Sache zwischen hier und einem Monat gewonnen.«

Lionel fühlte, wie seine Besonnenheit allmählich zu schwinden anfing. Was Mr. Mason behauptete, das war so, er kannte nur zu wohl das hohe Ansehen, in welchem der vielbeschäftigte Mann zu Hause stand, er wußte, daß ein Wort von ihm genügen würde, um Mr. Manfred Trevor in Untersuchungshaft zu bringen.

»Ich habe meinen Fahneneid geleistet, Sir!« stammelte er unruhig.

Der Advokat lächelte. »Wie kommen Sie denn überhaupt in die Uniform der Nordstaaten hinein?« fragte er. »Was in aller Welt kümmert Sie, den Besitzer von einigen hundert Niggern, das Geschick der schwarzen Kerle? – Allerdings hat Mr. Charles Trevor sämtlichen Sklaven von Seven-Oaks in seinem Testamente ausdrücklich die Freiheit geschenkt, aber diesen Ausfall können Sie leicht verschmerzen. Ich denke Ihr Vormund zu werden, junger Freund, wir beide kommen sicherlich gut mit einander aus.«

Wenn Mr. Mason, der würdige Notar und Hauptmann der konföderierten Armee beabsichtigt hätte, seine Sache selbst zu Grunde zu richten, so würde es für solchen Zweck kein wirksameres Mittel gegeben haben, als eben diese Worte. Lionel war an die Neger erinnert worden, an das Volk, zu dem auch seine Eltern gehörten, er sah im Fluge, wohin die Bestrebungen des Advokaten gingen und in welchem Sinne sich dieselben verwirklichen lassen würden.

Den Sieg der Regierungsarmee konnte Mr. Mason nicht aufhalten, aber vielleicht doch eine Abteilung des verhaßten Gegners in den Hinterhalt locken und ein neues, schreckliches Blutbad herbeiführen. Das durfte um keinen Preis geschehen, selbst nicht um den von Seven-Oaks.

siehe Bildunterschrift

Die Versuchung.

»Mr. Mason,« sagte mit festem Tone der junge Soldat, »sparen Sie Ihre Worte. Ich kann und will Ihnen zur Flucht nicht behilflich sein.«

»Sie wollen nicht, junger Herr?«

»Nein. Bei dem Namen Gottes, nein!«

Ein verzerrtes Gesicht sah ihm entgegen. »Das ist thöricht gehandelt,« zischte der Advokat. »Suchen Sie in alle Ewigkeit Ihr Recht, Mr. Forster! Ich werde Sorge tragen, daß Sie es niemals finden.«

Mit diesen Worten verschwand er. Drinnen im Zelt erklangen Flüsterworte, ein Rauschen und Bewegen, – Mr. Mason warf wohl die durch dritte Hand in seinen Besitz gelangten Zivilkleider ärgerlich wieder ab, er wetterte und fluchte in sich hinein. Lionel nahm langsam das Gewehr auf und begann abermals seine Wanderung.

Ihm schlug das Herz zum Zerspringen. War er nicht nahe daran gewesen, doch wankend zu werden? Hatte es nicht vielleicht nur noch eines einzigen zündenden Wortes bedurft, um ihn zu gewinnen? –

Ein beschämender Gedanke, eine Vorstellung, die ihn selbst jetzt noch mit heimlichem Schrecken erfüllte. Er sah im Geiste die Schlacht und all das endlose Elend, welches sie im Gefolge zu führen pflegt, er sah sich als den ersten Urheber dieser Verwüstung.

Nein, Gottlob, nein, – die Erkenntnis war ja noch früh genug gekommen.

Wie kalt auf einmal der Wind wehte. Ein Schauder lief durch Lionels Adern, er ging schneller, er trat fester auf, um sich zu erwärmen.

Nun stille du sacht,
In der Nacht, in der Nacht,
Im pochenden Herzen die Reue.

Ja, ihm pochte das Herz, – wie nahe war der Versucher seinem besseren Selbst gekommen, wie hatte er ihn fast ganz schon umgarnt gehabt.

Aber freilich, jetzt konnte Ähnliches nicht mehr geschehen. Mochte die Abschrift des Testamentes möglicherweise aus Rache vernichtet werden, mochte sie besitzen, wer wollte, – gleichviel, wenn nur das frohe, redliche Bewußtsein gerettet war. Lionel atmete jetzt freier, die Unruhe legte sich, er konnte wieder an anderes denken, war nicht immer gebieterisch von dieser einen Vorstellung im Bann gehalten. Die Stunden glitten schneller als vorher, es dämmerte bereits, als die zweite Ablösung kam.

Und nun schlief er trotz der harten Bank und der dumpfen Wachtstubenluft wie ein gesunder Mensch die ganzen vier Stunden hindurch. Als er später am Nachmittag mit Ralph und Hermann von der Sache sprach, da meinten diese, daß doch das Erlebnis ein gutes sei. »Vielleicht kann Mr. Mason gezwungen werden, die Abschrift herauszugeben,« sagte Hermann. »Dieser Major Higgins muß dir als Zeuge dienen.«

Lionel strich mit der Hand über sein Gesicht. »Das alles liegt noch in weitem Felde,« versetzte er. »Zuerst kommt die Entscheidung der Waffen, – wer weiß, ob man bis dahin lebt. In unserem armen Virginien soll ja der letzte Schlag fallen.«

»Wir sind keine vierzig Meilen von der Grenze entfernt. Vielleicht kommen wir als Soldaten in unsere Heimat zurück.«

»Das gebe Gott, aber freilich nur als Sieger!«

Hermann nickte. »Lionel, wenn du in Gefangenschaft gerietest! – Noch ist die Sklaverei nicht aufgehoben!«

Unser Freund zuckte die Achseln. »Ich will nicht die Zukunft zu enträtseln versuchen, ich will ihr entgegentreten wie ein Mann, das ist besser. Und da,« setzte er hinzu, »hätten wir den Generalmarsch!«

Die Trommeln rasselten, das nun einrückende Regiment bezog die verschiedenen Wachen, und eine Stunde später befanden sich unsere Freunde auf dem Marsche zur nächsten, von Truppen nicht besetzten kleinen Stadt. Alles konföderierte Militär hatte sich nach Virginien zurückgezogen, das Land lag offen und leer, aber ohne gebahnte Wege, ohne Eisenschienen oder Brücken, selbst das Vieh war weggetrieben und an manchen Punkten waren sogar die Brunnen verschüttet.

Mit Hunger und Mangel kämpfend, vom durchweichten Boden am Morgen aufstehend und nach zehnstündigem Marsche ein gleiches Lager wieder aufsuchend, so zogen die tapferen Streiter durch das Land und über die virginische Grenze bis zu Fort Steedman, wo sich, etwa acht Stunden von Richmond entfernt, die Schanzen der beiden feindlichen Armeen nahe gegenüber lagen.

Kaum durch hundert Yards getrennt, erhoben sich hüben und drüben die Verhaue. In ungeheurer Ausdehnung war Richmond von den Bollwerken der Unionstruppen umgeben, belagert und eingeschlossen, so daß kein Entkommen, keine Möglichkeit des Sieges mehr offen schien.

Kolossale Vorräte an Lebensmitteln und Viehfutter lagerten gesichert inmitten dieser Befestigungswerke, es waren Brunnen gegraben und Flußläufe herbeigeleitet, so daß für die Regierungstruppen auf Monate hinaus kein Mangel entstehen konnte. Mehr als hunderttausend Mann warteten des Augenblickes, wo der Sturmlauf gegen die feindlichen Wälle beginnen sollte.

Am Abend des 25. März 1865 erhielt das Regiment, zu dem unsere Freunde gehörten, die Wache in Fort Steedman, auch Lionel und Hermann standen Posten, beinahe nebeneinander, so daß sie wenigstens verstohlen in längeren oder kürzeren Pausen zusammen sprechen konnten.

Wie sehnsüchtig hingen Lionels Blicke an der Himmelsrichtung, hinter welcher er die Stadt Richmond verborgen wußte! – Und weiterhin Seven-Oaks, das geliebte!

Ob er es jemals wiedersehen würde?

Hier, an diesem Punkt der Erde hatte er glückliche Stunden verlebt. Ehe noch Schanzwerke und Verhaue aufgeworfen waren, ehe noch fanatischer Haß die Waffen erhob, dehnte sich hier zwischen Hügeln eine grüne Ebene, in deren Mitte er botanisierte, das Reitpferd tummelte oder mit den Klassenkameraden in der glücklichen Ungebundenheit der Jugend allerlei Spiele trieb. Damals beneideten ihn so viele Herzen, damals priesen andere sein günstiges Geschick, hielten ihn als Erben des reichen Gutsherrn für einen bevorzugten Sterblichen, – und heute?

Jenseits der konföderierten Befestigungswerke war er ein Sklave, das rechtlose, einer Sache gleichgeachtete Besitztum einer kränklichen, launenhaften Frau, schlimmer daran, als läge er im Sarge, und hörte und sähe von dem Leid dieser Erde nichts mehr.

Ob sie es wohl wußten, die Gefährten von einst, daß ein Tropfen des verachteten schwarzen Blutes in seinen Adern rollte?

Dann würde keiner ihn mehr kennen wollen, keiner sich des früheren vertrauten Verkehres noch erinnern mögen.

Rote Lohe schlug über sein hübsches Gesicht. Sei es drum! – Die Angehörigen der niedergetretenen, verdummten und vertierten Rasse waren doch auch zugleich seine eigenen, er wollte sie nie verleugnen, nie sich ihrer schämen.

Und auf alle Fälle lebte ja einer in Richmond, einer, dessen Herz ihm treu blieb unter allem Wechsel des Lebens, – Philipp Trevor, den er so sehr liebte, der ihm seit langen Jahren vertraut war, innig befreundet und gesellt. Mit diesem teuren Genossen hatte er jeden Gedanken geteilt, mit ihm war er von Klasse zu Klasse emporgestiegen, ihn beschützte und trug er durch die stärkere Kraft seiner Arme.

Lieber – lieber Philipp! – Wie manchen Schmetterling hatte er für den Gelähmten gerade an diesem Punkte gefangen, wie manches Wespennest ausgenommen und wie unzählige Blumen gepflückt.

Jetzt starrten Schanzen überall. Da oben auf dem Hügel waren die schönen, hohen, alten Bäume rücksichtslos gefällt worden und statt ihrer sahen die schwarzen Mündungen der Geschütze toddrohend in unzählbaren Reihen herab. Waffen klirrten auf jedem Schritt, Posten riefen einander an, Pferde wieherten, Offiziere machten die Runde, das ganze ruhelose Bild des Lagerlebens entwickelte sich neu in jedem Augenblick.

Lionel seufzte. »Schon morgen kann die Entscheidungsschlacht beginnen,« hatte er einen höheren Offizier sagen hören. »Richmond ist unser.«

Ach, wenn es so wäre! – Wenn die siegreichen Truppen einrücken würden in den lieben alten Ort – – und alle Not, aller Widerstreit hätten ein Ende! –

Langsam gehend war unser Freund bei diesem Gedanken wieder in Hermanns Nähe gelangt. Ein kalter Wind fuhr über das Fort dahin, halbes Mondlicht glänzte vom Himmel, bald in Streifen die dunkeln Höhenzüge beleuchtend, bald wie ein weicher, weißer Schein in den Tiefen liegend. Die Soldaten trugen ihre Mäntel, sie gingen fröstelnd, mit schnellen Schritten auf und ab.

»Hermann!« flüsterte Lionel, »sieh einmal hierher!«

Der andere folgte dem Rufe. »Was denn?« gab er zurück. »In jedem Augenblick kann die Runde kommen.«

»Dann hätten wir eine Meldung zu machen. Die Pforte in dem Ausfallsthor da drüben bewegte sich vor wenigen Sekunden in ihren Angeln.«

Hermann sah hinüber. »Das wechselnde Licht wird dich getäuscht haben, Lionel! Ich bemerke nichts.«

»Warte nur einen Augenblick, – ich bin meiner Sache ganz sicher.«

Sie sahen beide voll Spannung hinüber und schon nach ganz kurzer Frist wiederholte sich die Erscheinung. Das Pförtchen innerhalb des großen Thors knarrte in seinen Angeln und wurde leise geöffnet; ein Soldat in der Uniform der Konföderierten trat heraus.

Sobald er sich in dem freien Raume zwischen beiden Schanzlinien befand, hob der Mann einen Stock mit einem daran befestigten weißen Tuche, gleichsam als Zeichen, daß er keine feindliche Absicht verfolge. Ihm nach drängten andere, die sämtlich ihre Gewehre quer gelegt hatten und mit beiden Händen trugen.

Lionel und Hermann sahen einander an. Was bedeutete wohl diese seltsame, völlig unerwartete Erscheinung?

»Ob wir die Wache herausrufen müssen?«

»Ich würde lieber dem Kommandeur eine Meldung machen.«

»Dann bleib' du hier und beobachte die Kerle!«

»Jetzt sind wenigstens schon ihrer fünfzig draußen,« rief ihm Hermann nach.

»Gut, gut, – verliere sie nur nicht aus den Angen.«

Er glitt geräuschlos davon und machte in der Wachtstube seine Meldung. »Eine ganze Schar ist aus der kleinen Pforte hervorgeschlichen,« sagte er.

Der Offizier nahm die Sache sehr ruhig auf. »Überläufer!« versetzte er lächelnd. »Das ist etwas ganz Gewöhnliches.«

Die Wache trat aber doch ins Gewehr und nun wurde das Weitere einstweilen erwartet. Mehrere Minuten vergingen, bis sich die ersten Konföderierten zeigten, dann folgte Kopf an Kopf der ganze Schwarm.

»Wir kommen, weil uns hungert,« erklärten die Leute.

»Das konnten wir uns freilich denken,« war die Antwort. »Wie viele seid ihr denn der Zahl nach?«

»Etwa fünfhundert,« hieß es.

»Nun wohl, ihr werdet mit der ersten besten Gelegenheit als Kriegsgefangene nach dem Norden geschickt, – ist euch das recht? Sonst macht, daß ihr fortkommt. Hier im Lager können wir keine unnützen Mäuler füttern.«

»Ja, ach ja, wir leiden Mangel am Notwendigsten.«

Das Thor wurde geöffnet und die Soldaten ins Fort gelassen, fünfhundert Mann gegen eine wenigstens eben so starke Anzahl von Unionstruppen. Es schien, als ob die Leute in sehr gedrückter Stimmung sich befänden, als ob nur die Verzweiflung sie zu dem schmählichen Schritt der Überläuferei getrieben haben könne. Ihre Mahlzeit verzehrten sie schweigend und streckten sich dann auf das ihnen angewiesene Lager, ohne mit irgend jemand ein Gespräch anzuknüpfen oder sich um die Angelegenheiten der Gegner zu bekümmern.

Ihre Gewehre standen in der üblichen Weise gegen einander gelehnt, – tiefe, nächtliche Stille herrschte rings umher.

Lionel und Hermann sprachen wieder mit einander. »Hörst du kein besonders auffallendes Geräusch?« fragte ersterer. »Mich deucht, es ist ein Scharren und Schaben, zuweilen auch wie Hammerschläge.«

»Hier ganz in der Nähe, nicht wahr? Das habe ich selbst schon bemerkt.«

»Man wird eben in den Forts arbeiten, – aber was?«

»Da war es wieder!« raunte Hermann. »Horch, ein anderer Klang!«

»Als ob Erde geschaufelt wird, nicht wahr?«

»Sie arbeiten wahrscheinlich an den Befestigungswerken.«

»Und doch kann ihnen das nichts nützen. Wir nehmen diese Schanzen samt allen übrigen!«

»Das glaube ich auch. Gottlob, – da kommt die Ablösung.«

Sie huschten auseinander und fanden sich bald im Wachtzimmer wieder. Lionel ging leise an den Reihen der scheinbar fest schlafenden Konföderierten hinab und sah jedem Manne einzeln ins Gesicht. Kein Bekannter darunter, keiner, den er fragen konnte: ›Wie lebt Philipp Trevor?‹ – –

Nicht ein einziger. Er erstickte einen heimlichen Seufzer und setzte sich in Hermanns Nähe. Eine seltsame, ihm unbegreifliche, aber hartnäckig festhaltende Unruhe hatte sich seiner Seele bemächtigt, es war ihm, als müsse in jedem Augenblick etwas Schlimmeres, ja durchaus Schreckliches geschehen. Das Geräusch der schabenden, grabenden Werkzeuge schien immer noch in seine Ohren zu klingen.

»Kamen schon früher solche Überläufer?« fragte er einen älteren, neben ihm auf der Bank liegenden Soldaten.

Dieser gähnte. »Täglich schleichen sie sich heran,« versetzte er.

»Und immer des Hungers wegen?«

»Immer!«

»Dann kann auch die Sache nicht mehr viel länger andauern. Gott sei Dank! Es muß endlich Friede werden.«

»Das glaube ich auch,« antwortete der Mann. »Aber viel Blut und viel Jammer wird es noch kosten, – ich habe meine Eltern in Richmond, mag wahrhaftig an ihr Schicksal gar nicht denken, wenn es erst zum Sturm geht.«

»Wie heißen die Leute?« fragte Lionel. »Ich lebte hier Jahre lang.«

Der Soldat schob die Mütze in den Nacken. »Hab' Gott weiß wie lange von den alten Leuten nichts mehr gehört,« seufzte er. »Die kennst du doch nicht, Kamerad, – arme Arbeiter sind's, mein Vater ist Gärtner und wohnt bei der Kirche in den niedrigen Häusern. Fred Gilberts heißt er.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne den Namen allerdings nicht, Kamerad! Aber du wirst ja – als Sieger! – nun doch bald in die Stadt einziehen und dann ist der Jubel groß. Mich dagegen erwartet niemand, ich habe weder Eltern noch Geschwister.«

Der Soldat streckte ihm die Hand entgegen. »Das ist bei deiner Jugend sehr hart, Kamerad,« sagte er. »Aber gute Freunde wirst du doch drinnen wohl besitzen?«

Lionel atmete tiefer. »Einen Freund, Gilberts! Einen! – Das heißt, wenn er noch lebt.«

Der Soldat nickte. »Gott wird's ja geben,« sagte er gutmütig tröstend. »Und ich schätze, ein Freund sei dem Menschen gerade genug, wenn er's nur auch wirklich rechtschaffen meint!«

»Und das ist bei dem meinigen der Fall, Gilberts! – Wenn du in die Stadt kommst, während ich gefallen bin, bringst du dann meine letzten Grüße an Philipp Trevor in der Parkstraße? Willst du es thun?«

Der Soldat seufzte. »Gewiß, Forster, gewiß! Und im umgekehrten Falle gehst du zu meinen alten Eltern, nicht wahr?«

»Das verspreche ich dir hierdurch mit Hand und Mund.«

»Dank sollst du haben, Kamerad. Und nun laß' uns schlafen, es ist über Mitternacht hinaus.«

Lionel streckte sich auf eine Bank, aber er fand nicht sogleich den ersehnten Schlummer. Ein unangenehmes Gefühl der Ruhelosigkeit beherrschte seine Seele, er horchte fortwährend, ohne die Angen schließen oder die Gedanken zur Unthätigkeit zwingen zu können.

Stunden vergingen in ununterbrochener Ruhe und Stille. Endlich kam doch eine Art von Halbschlummer über Lionels Sinne, ihm träumte verworrenes Zeug, obwohl er nicht fest schlief, sondern daneben ein halbes Bewußtsein wach erhielt. Da waren die feindlichen Verhaue und hinter ihnen lag Richmond, die Stadt seiner Sehnsucht, aber auch der größten, drohendsten Gefahr, – er sah sich plötzlich in ihren Mauern, er war wieder der lebensfrohe Gymnasiast, dessen Klassenmütze keck auf einem Ohre saß und der das Dasein liebte, weil es ihm bisher sein lächelndes Antlitz gezeigt hatte, – nur sonderbar: auch andere Bilder mischten sich hinein, Schreckensszenen, Klänge, deren Ursprung geheimnisvoll blieb, ein Graben und Scharren, ein Wühlen und Werfen. –

Horch! War das nicht ein gellender Pfiff?

Er fuhr auf, jählings, wie von kalter Faust gepackt. Starr sahen die weit geöffneten Augen in eine Szene äußerster Verwirrung hinein.

Alles wirbelte durcheinander, alles schrie und schlug und stieß. »Verrat!« gellte es von den Lippen der Unionssoldaten. »Verrat!«

Was war das?

Lionel sah hinüber zu den Reihen der Konföderierten. Kein einziger lag mehr an der Stelle, welche er vorhin innegehabt, die Kugelbüchsen waren auseinander genommen und beide Parteien, Überläufer und Regieruugstruppen rangen um die Oberhand in wildem, erbittertem Kampfe. Brust an Brust die im Wachtlokal Befindlichen, Trupp gegen Trupp die draußen Stehenden.

Ein zweiter, eben so gellender, langgezogener Pfiff schrillte durch die Luft, – er antwortete wohl dem ersten.

Ein Signal also – und von drüben her, aus den feindlichen Verschanzungen.

Ach – das Scharren und Hämmern! – Nun wußte man alles.

Die Verhaue öffneten sich, unaufhaltsam drangen Massen von Konföderierten hervor. Ein plötzlicher, ungeahnter Sturmlauf begann, drei Forts zugleich wurden im Sturme angegriffen und alle dreie eben so geschwind erobert.

Ehe noch die Geschütze von der Höhe herab ihre verderblichen Wirkungen äußern konnten, war schon der Überfall zu gunsten der Konföderierten entschieden, sie hatten Fort Steedman und zwei andere befestigte Stellungen mit dem Schwert in der Faust genommen und waren Herren des Platzes.

Eine nicht zu beschreibende Verwirrung herrschte in den Reihen der Regierungssoldaten. Während sie die Feinde schlafend glaubten, während sie kaum ganz begriffen, um was sich's eigentlich handelte, auf den ersten Angriff hin, waren sie vollständig geschlagen worden.

Zwei Offiziere lagen tot an den Wällen, reihenweise kämpften Schwerverwundete mit der hereinbrechenden Vernichtung. Aber diese schienen, obwohl der Boden ihr Blut in Strömen trank, doch noch nicht die am meisten Bedauernswerten, – wenigstens mußte man sie als Kranke, Hilflose behandeln, der Gesunden aber harrte ein weit schlimmeres Schicksal.

In kleine Trupps zusammengetrieben, wurden sie genötigt, sich die Hände binden zu lassen, worauf man die lebende Kriegsbeute gewaltsam in die Ausfallsthore der Verhaue hineinjagte und diese hinter ihnen wieder verschloß.

Gefangen! – Der Gnade oder Ungnade des Feindes willenlos überliefert. Lionel schauderte, als sein geistiger Blick die Lage der Dinge überflog.

Wenn ihn in Richmond jemand erkannte? – –

Aber gleichviel. Der Schlag war gefallen und es galt, ihn zu ertragen. Schwindelnd, beinahe taumelnd sah er umher. Wo war Hermann?

Und Ralph? Und Toby? – –

Er wußte es nicht, – hatten sie sich in den drei unterlegenen, oder in einem der anderen Forts befunden?

Keiner der Gesuchten zeigte sich. Eine fahle Dämmerung hielt alles umspannt, durcheinander in wildem, unruhvollem Gewoge tobte auch hier die Verwirrung der Stunde. Truppen marschierten auf und drangen hinaus vor die Wälle, es wurde an verschiedenen Punkten Alarm geblasen und getrommelt, ein donnerndes Siegesgeschrei verschlang jeden anderen Laut.

Etwa fünfhundert Gefangene, leicht an den Händen gefesselt, blieben für den Augenblick so ziemlich unbeachtet, – das Interesse der Konföderierten hatte sich den Vorgängen draußen in der Umgebung der Verhaue wieder zugekehrt.

Es schien, als wolle sich das Blatt plötzlich wenden. Von der Höhe herab donnerten die Kanonen und warfen panisches Erschrecken in die Reihen der Konföderierten. Während diese gehofft hatten, im schnellen, unaufhaltsamen Siegesmarsche vorzudringen und ungehindert das bedeutende Lager von Lebensmitteln auszuplündern, oder doch mindestens in Brand zu setzen, während sie von großartigen Erfolgen träumten, war den Regierungstruppen von mehreren Seiten zugleich Verstärkung zugegangen, größere Truppenmassen kamen im Laufschritt herbei, die Sieger von Fort Steedman wurden umzingelt und die Ausfallthore angegriffen, so daß alle vorhandenen Kräfte notwendig waren, um hier den Angriff abzuschlagen.

Botschaften und Befehle jagten einander, Kanonen donnerten und wurden vom Kleingewehrfeuer kräftig unterstützt, der ganze Lärm einer Schlacht, Pferdegewieher, das Klirren der Waffen und der Aufschrei der Getroffenen, – alles schwirrte zusammen zum undurchdringlichen Chaos. Es war nicht mehr möglich, den einzelnen Laut zu unterscheiden.

Einen Augenblick lang trug sich Lionel mit einer berauschenden Hoffnung. Wenn die Wälle erstürmt wurden, wenn der volle, langersehnte Sieg den Regierungstruppen in die Hände fiel?

Aber das ging nicht so schnell. Er wußte, daß bedeutende Verstärkungen eintreffen mußten, ehe es zum Hauptschlage kam – und er sagte sich, daß es nach dem Geschehenen für ihn keine Aussicht mehr gab, an dem bevorstehenden Kampfe teilnehmen zu dürfen. Ein schlechtes Gefängnis harrte seiner und der Kameraden, schlechte Kost und vielleicht Mißhandlungen aller Art, – während die Waffenbrüder vor den feindlichen Befestigungswerken auf Tod und Leben kämpften, mußte er thatlos im Kerker verharren und über sich ergehen lassen, was der gewissenlose Sieger zu verhängen beschloß.

Ein trostloser Gedanke!

Ob es unmöglich war, wenigstens diesem schlimmsten Schicksal rechtzeitig durch die Flucht zu entrinnen?

Er führte langsam die von einem schwachen Seil gefesselten Hände an die Lippen und begann mit seinen kräftigen Zähnen das Band zu zernagen. Die ganze Luft war erfüllt von Pulverdampf, man konnte in nächster Nähe nichts mehr erkennen, konnte kaum atmen, kaum denken, so sehr umnebelte der dichte, blaue Duft alle Sinne.

Lionel tastete sich, langsam gehend, vorwärts. Dort schimmerte die Uniform eines Wachtpostens, – weiter rechts also!

Jetzt waren die Hände frei, – unser Freund begann zu laufen.

Vor ihm Pferdegewieher, Stimmen, Peitschenknallen, – er sah eine Reihe von Bauernwagen, die offenbar den Truppen Lebensmittel gebracht hatten; mit schneller Bewegung drängte er sich zwischen die Räder und musterte scharfen Blickes die einzelnen Führer der plumpen Gefährte.

Endlich entdeckte er einen jungen Burschen seines eigenen Alters; rasch entschlossen redete er ihn an. »Du, auf ein Wort!«

Der Bauernjunge sah ihm voll Erstaunen ins Gesicht. »Bist du nicht ein Unionssoldat?« rief er. »Wie kommst du hierher?«

Lionel hob die Hand. »Still doch, Freund! Kümmere dich um meine Uniform gar nicht. Sieh her, ich besitze eine hübsche Uhr, möchtest du die wohl haben?«

Der Bursche machte große Augen. »Du willst mich necken!« stammelte er.

»Keinesweges, ich will vielmehr einen Handel mit dir schließen, Kamerad! Wir sind etwa von gleicher Größe, nicht wahr? – Nun gut, du verbirgst mich im Stroh deines Wagens, nimmst mich mit nach Hause und gibst mir dort einen Anzug, den du nicht mehr trägst, meinetwegen Lumpen, nur Kleider, die ich einstweilen noch anziehen kann, – dafür ist dann die Uhr dein rechtmäßiges Eigentum.«

Der Bursche mochte wohl in sich einen schweren Kampf ausstreiten. »Lügst du auch nicht?« sagte er. »Gib mir das Ding gleich!«

»Wenn du mir den Anzug bringst, früher auf keinen Fall.«

Die Augen des Bauern glänzten. »Ja, wohin willst du denn überhaupt?« fragte er.

»Mit dir, mein Bester, zu deinem Hause!«

»Du bist ein Flüchtling, du willst am Ende gar irgend einen Verrat stiften.«

Lionel sah ihn an. »Darüber darfst du dich vollständig beruhigen, mein Freund. Ich beabsichtige nichts, als mich zu verstecken und womöglich mit keinem Menschen zu sprechen.«

»Nun!« rief der Bursche, »wenn das der Fall ist, so steige nur in Gottes Namen auf meinen Wagen. Stroh liegt genug darin.«

Lionel trat in das Rad und schwang sich mit einem Gefühl unbeschreiblicher Erleichterung mitten in das Stroh hinein. »Fährst du nicht bald?« fragte er den Jungen.

Dieser trieb schon seine Gäule an. »Wie die Kanonen brüllen!« sagte er. »Wer hat denn eigentlich gesiegt?«

»Das mag der Himmel wissen, mein Bester. Eins mußt du mir übrigens mitteilen, – wird dein Wagen unterwegs irgendwo untersucht?«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Nein, – weshalb?«

»Nun, weil ich ja nicht gesehen werden will. Fährst du ganz nach Richmond?«

»Nein, halben Weges vielleicht. Aber es ist ja kaum Tag; wenn du ein tüchtiger Fußgänger bist, so kannst du vor Abend dort sein, vielleicht begleitet dich auch des Nachbars langer Karl, der bringt jeden Tag Gemüse zur Stadt.«

Lionel hatte sich bis an den Hals unter dem Stroh versteckt. »Aber ich habe keine Belohnung, um sie deinem langen Karl zu geben,« versetzte er. »Die paar Cents in meiner Tasche reichen kaum hin für ein Stück Brot.«

Der Bursche nickte. »Allerlei zum essen stecke ich dir zu,« versicherte er. »Du bist wohl recht unglücklich, Kamerad, nicht wahr? Man sieht es dir an.«

Lionel lächelte. »Ich bin in sehr schwieriger Lage, da hast du recht,« seufzte er. »Gott weiß, was aus mir wird, – es hängt vom Ausfall des Krieges ab.«

Der Junge schwang seine Peitsche. »Vater sagt, daß die verdammten Sklavenbarone zertreten und vernichtet werden müssen,« schwor er. »Wir sind Deutsche, wir haben auf unserem Hofe nie andere als freie, bezahlte Neger gelitten.«

Ein neuer Hoffnungsstrahl durchzuckte das Herz unseres Freundes. »Ich danke dir, du!« rief er voll Freude. »So haltet ihr es denn ja im Grunde auch mit der Regierung und mit der Sache des schwarzen Volkes, du und dein Vater?«

Der Bursche lächelte pfiffig. »In Gedanken,« antwortete er. »Aber laut heraus sagen darf man dergleichen nicht.«

»Davor werden wir uns schon hüten! Wie heißt du denn eigentlich, mein Bester.«

»Tom Patterson!« versetzte der junge Bauer. »Das heißt natürlich: Thomas Petersen! Aber die Leute haben uns den englischen Namen so angewöhnt, daß der deutsche fast vergessen ist.«

Lionel legte die Hände unter den Kopf und ließ sich behaglich zurücksinken. Hinter ihm und seinem gutmütigen Bekannten verstummte das Getöse der Schlacht, er hatte begründete Hoffnung, durch den Beistand der deutschen Farmersleute einstweilen unentdeckt zu bleiben und so gab er sich dem Gefühle der Sicherheit hin, fest überzeugt, daß es vergeblich ist, die Rätsel der Zukunft lösen zu wollen, ehe das Schicksal selbst den Schleier hebt und erkennen läßt, was bisher nur als Vermutung bestand.

Der junge Bauer sah rückwärts. »Bist du müde, Kamerad?« fragte er.

»Sehr! Ich hatte seit gestern mittag Wache auf den Wällen.«

Der Bursche reichte ihm vom Sitzbrett eine Wolldecke. »So schlafe!« sagte er gutmütig. »Wir haben noch zwei starke Stunden zu fahren.«

Lionel dankte und hüllte sich in die Decke, so daß er aussah, wie ein Bündel Wollenstoff. Die Unterhaltung mit dem braven Tom war weniger verlockend als ein Schläfchen in dem Stroh des sanft schaukelnden Wagens, er schloß daher die Augen und schlummerte bald so fest, daß er selbst dann nicht aufwachte als das Gefährt hielt und der Gaul abgespannt wurde.

Tom erzählte flüsternd den beiden alten Leuten, seinen Eltern, von dem Fremden, den er mitgebracht hatte. Sie sahen in verzeihlicher Neugier unter die Wolldecke und nach diesem Blick faltete das Mütterchen die Hände. »Ein hübscher, junger Bursch, Vater! Dem müssen wir doch helfen, daß er den Konföderierten entgehe!«

Der Bauer sah nach allen Seiten umher. »Still, Alte! Braucht denn dergleichen hier auf dem Hofe erörtert zu werden?«

Und er schloß eigenhändig die große Pforte, welche den mit einer starken Fenz umgebenen Wirtschaftshof von der Straße trennte.


 << zurück weiter >>