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XVI.

Wochen vergingen, bevor Lionel so weit genesen war, um zum erstenmale wieder aufstehen und ein halbes Stündchen draußen vor der Hütte sitzen zu können. Auf seinem Kopfe sproßte junges, keimendes Haar, ein leichter Hauch von Farbe begann in das blasse Gesicht zurückzukehren und auch der Magen war den Versuchungen von Mutter Margarets Kochkunst schon einigermaßen zugänglich, nur der Kopf litt noch immer und mußte sehr geschont werden. Lionel schlief während der ganzen Nächte und auch den größten Teil des Tages, womit sich Mac Donald, sein Arzt, durchaus einverstanden erklärte. Zu thun gab es ja ohnehin nichts; die Zeit verging den Inselbewohnern ruhig und langsam, ohne irgend ein Ereignis zu bringen.

O'Brien, der König der ›Bummers‹ war verreist gewesen und hatte bei dieser Gelegenheit sämtliche gestohlene Wertsachen bei einem Zwischenhändler in bares Geld umgesetzt. Als er zurückkehrte, wurde das klirrende Gold geteilt, auch Toby und der Schotte erhielten, was ihnen nach den Hausgesetzen der Bande zukam, außerdem gab es auch ein großes Fest, bei dem man ein mitgebrachtes Schwein briet und die berauschenden Getränke nicht sparte. Bis zum nächsten Frühling war reichlicher Vorrat in den Schuppen aufgespeichert, – weshalb also nicht genießen, so lange es die Zeit erlaubte?

Draußen stürmte ein kalter, nasser Wind über die Landschaft und riß Blätter und Blumen mit sich fort. Lionel wohnte förmlich in einer großen grauen Wolldecke, deren Falten er bis über die Ohren heraufzog, um alle Herbstlüfte auszuschließen, er seufzte jetzt sehr häufig bei dem Gedanken an die enge Genossenschaft mit den Hyänen der Schlachtfelder, er wünschte sehnlichst, auf und davon gehen zu können, um nicht länger gestohlenes Brot zu essen und unter den Zelten der Ausgestoßenen zu leben, aber das war vorläufig unmöglich, es lagen zwischen ihm und dem nächsten bewohnten Orte mehr Meilen, als er ohne Anstrengung Schritte zu gehen vermochte, außerdem aber durfte er auch nicht in die Lage kommen, möglicherweise das Asyl der Bummers zu verraten. Sie hatten ihm selbst und dem Freunde in höchster Not Beistand geleistet, das berechtigte die wilde Schar, nun auch Gegenrücksichten zu verlangen.

Wenn der Winter vorüber war, wollten einige der geriebensten Gauner die Insel verlassen, um über den Stand der beiderseitigen Heere Erkundigungen einzuziehen und den neuen Feldzugsplan festzustellen. Hie und da war eine Nachricht von den Vorgängen der Außenwelt bis in das entlegene Versteck gedrungen und immer hatte es geheißen, daß die Unionstruppen siegten. Höher und höher stieg in Lionels Herzen die heiße Sehnsucht, selbst an dem geheiligten Kampfe mit teilzunehmen, überhaupt aus dem drückenden Bann, der ihn umgab, erlöst zu werden. Wäre wenigstens Jack Peppers einmal hierhergekommen, hätte er Nachrichten gebracht über den Verbleib des Kentuckiers, vielleicht sogar einen Brief aus Richmond, von Philipp Trevors geliebter Hand.

Aber es ließ sich ja nicht annehmen, daß der Trapper die Bummers überhaupt kannte. Wie sollte er mit den Geächteten eine Verbindung unterhalten?

Und Lionel seufzte ungeduldig. Wie langsam ging doch die Genesung!

O'Brien hatte auch einmal auf seinen Raubzügen ein Paket mit Büchern erbeutet und nur im Gedanken des späteren Verkaufes mit sich genommen: Shakespeares Werke, über die nun unsere beiden Freunde herfielen und zum Zeitvertreib einige der beliebtesten Dramen einstudierten, um sie unter dem Beistande Mac Donalds in Rollen zu lesen. Der große Schuppen bildete das Theater, ein mächtiges Feuer loderte im Hintergrunde und rings hatte sich die seltsame Zuschauerschaft im Kreise gelagert. ›Richard der Dritte‹ wurde immer am liebsten gesehen, die Geisterstimmen verursachten den Rittern von der Landstraße ein angenehmes Gruseln, das entsetzte: »Ein anderes Pferd! Verbindet meine Wunden!« – begeisterte sie zum lebhaftesten Beifall. Nur Toby war beharrlich anderer Ansicht, er flüchtete jedesmal mit Hasensprüngen zur Thür hinaus und kam erst wieder, wenn das Spiel zu Ende ging.

Ein langer Winter voll Sehnsucht und Ungeduld, ein Fragen und Seufzen ohne Antwort, Monate hindurch! – Dann war Lionel so ziemlich wieder hergestellt und mit Singen und Sausen zog der Frühlingswind über das Land. O'Brien und drei Getreue rüsteten zur Reise, sie wollten die Stellung der Armeen auskundschaften und dann einen Boten nach Hause schicken, um dem ganzen Trupp die Schleichwege, welche er zu gehen hatte, genau vorzuschreiben. Es regte sich in allen Baracken und Schuppen, eine erhöhte Thätigkeit herrschte in dem kleinen verborgenen Eiland; die Pferde wurden beschlagen, die Karren ausgebessert, die Vorräte für den Abzug zusammengepackt. Alles Geld hatten die Bummers noch in den Taschen, sie waren auf Monate hinaus versorgt, aber doch durfte jetzt nicht länger gezögert werden; man konnte wieder gut im Freien schlafen, hatte sich gehörig ausgeruht und wollte das lustige Vagabondenleben neu beginnen. Weshalb auch nicht? Die Toten empfanden ja keinen Schmerz, wenn man ihnen Uhr und Geld aus den Taschen nahm.

Nur Mac Donald schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht wieder mit, O'Brien! Diesmal nicht, – endlich mußt du es erfahren.«

Der Anführer rückte seine Kappe in den Nacken. »Du nicht, Kerl? Was ficht dich an? Bist plötzlich heilig geworden, Donald?«

Der Schotte blieb sehr gelassen. »Ich geh' nicht wieder mit, das ist eben alles. Na, und du selbst, alter O'Brien, solltest du nicht das gleiche denken? Ekelt's dich nicht an, so hinter dem Unglück des Krieges herzuziehen und von anderer Leute Jammer dich zu mästen, in ihrem Blut und ihren Wunden mit gieriger Hand zu wühlen? – Vergeb' mir's Gott, daß ich Jahre lang nichts besseres war, als ein Raubtier, das – –«

»Donald! Donald!«

»Wahr ist's!« nickte grimmig der verdorbene Mediziner. »Wahr ist's, O'Brien! Mag mir's denn gehen, wie es immer wolle, zurück in den Sumpf kann ich nicht mehr.«

Der Irländer grollte heftig. »Und wenn einer von uns krank wird,« rief er, »wenn es eine Wunde absetzt, was dann?«

Mac Donald strich mit der Hand über das Gesicht. »Ich kann dir nicht helfen, O'Brien. Mach's kurz, Alter, – die Geschichte ist zu Ende.«

Der Irländer stampfte mit dem Fuße. »Sie ist nicht zu Ende, sage ich! Willst du mir vielleicht sogar auch noch andere abtrünnig machen? Willst eine ganze Rebellion anstiften? Ich habe schon so etwas bemerkt, Donald, aber das soll dir nicht ungestraft hingehen!«

Um die Streitenden hatte sich gleich nach den ersten Worten eine Gruppe von Zuhörern gebildet, man flüsterte durcheinander und verschiedene Ansichten wurden eifrig verfochten. »Donald hat recht!« rief eine Stimme. »Es ist besser, man läßt das gefährliche Handwerk bei Zeiten fallen und sieht sich nach etwas anderem, Ehrlichem um. Ich hab's auch satt, immer so wie ein hungriger Wolf durch die Büsche zu schleichen und auf den Zufall zu lauern. Weißt du es nicht, O'Brien, wie oft die Soldaten uns gejagt und diesen oder jenen aus unseren Reihen herausgeholt und an den nächsten Baum gehängt haben?«

Der Irländer nickte. »Weiß wohl!« bestätigte er. »Aber was will das sagen? Die Soldaten werden zu Tausenden abgeschlachtet.«

»Im ehrlichen Kampfe!« rief Donald, »das ist ein ander Ding, O'Brien! – Zuerst zog man aus und nahm wie Rabe und Fuchs nur ganz schüchtern eine Mahlzeit für den hungrigen Magen, dann kam mit dem Erfolg der Mut und man raubte schon gleich Vorräte zusammen. Was ist das Ende gewesen, O'Brien, was haben manche unter uns zuletzt ganz kaltblütig gethan? – Den wehrlosen Verwundeten ihr bißchen Eigentum gewaltsam entrissen, hier und da einen Stoß versetzt, einen Stich, hie und da einen Schrei erstickt, oder –«

Das Auge des Irländers glühte blutunterlaufen. »Schweig davon!« schrie er. »Wer wird sich die Gespenster selbst herbeirufen?«

Mac Donald nickte. »Du weißt also doch, daß es Gespenster sind, mein Alter! – Sage, was du willst, das Gewerbe ist kein gutes und ich gebe es auf.«

»Wir auch!« riefen zu gleicher Zeit mehrere andere. »Man läßt sich als Soldat anwerben und stirbt dann doch eines ehrlichen Todes, nicht am Galgen, nicht zum Futter für die Bestien, die dem Gehenkten die Augen aushacken, wenn er kaum kalt geworden ist.«

O'Brien riß die Pfeife aus dem Munde und schmetterte sie in rasender Wut so heftig gegen den nächsten Baum, daß tausend Splitter flogen. »Das geht euch nicht so ungestraft hin!« schrie er. »Satansbrut, die ihr seid! Aber ich will euch schon bändigen, ihr sollt sehen, daß sich euer Anführer nicht spotten läßt! Zu mir halten doch die meisten und wer die Macht hat, hat auch das Recht!«

Dann stürmte er fort, um mit dem engeren Kreise seiner Vertrautesten zu beraten. Als erste Folge der tiefgehenden Spaltung unter den Wegelagerern wurde eine Maßregel getroffen, welche schon nach wenigen Stunden zur Ausführung gelangte, – die beiden großen Kähne wurden von O'Briens Anhängern mit vereinten Kräften auf das Ufer gezogen und in einen neben der Baracke des Anführers liegenden Schuppen gebracht, so daß nun niemand die Insel verlassen konnte. Dann sperrte der Irländer die Vorratskammern, – er schien entschlossen, die Unbotmäßigkeit seiner Leute empfindlich zu bestrafen.

Hermann und Lionel sahen mit wachsender Unruhe die Dinge ihren Weg gehen. Es war für sie beide unmöglich, länger hier auszuharren, ebensowenig aber wollten sie sich in Begleitung der Bummers auf die Reise begeben, – als einzige Hoffnung hatten beide in letzter Zeit die große Reise des Anführers betrachtet. Wenn O'Brien Erkundigungen einzog und nach Hause brachte, dann ließ sich wenigstens ein bestimmter Plan fassen.

Nun war auch diese Aussicht dahin. Der Irländer wollte gleich im Beginn der Empörung seine Macht voll und ganz zur Geltung bringen, er hatte einen Plan entworfen, dessen Ausführung er ungesäumt in die Hand nahm und dessen Erfolg kaum zweifelhaft schien.

Seine Augen funkelten wie die des Wolfes, er zerbiß eine Pfeifenspitze, die sich gerade zwischen seinen Zähnen befand, in lauter kleine Stücke. Fortwährend gingen besonders vertraute Leute bei ihm aus und ein und alle brachten geheime Botschaften, deren Empfang den erbitterten Mann meistens mit Genugthuung erfüllte. Er schmunzelte zufrieden und sparte nicht mit Belohnungen. »Nur weiter! weiter!« hieß es bei jedem derartigen Besuche.

Lionel und Hermann hatten sich zu ihm begeben, um einige Fragen zu stellen und lieber noch zur selben Stunde von ihm Abschied zu nehmen, als in diese wüsten Streitigkeiten mit hineingezogen zu werden. »Gestatte uns die Benutzung des kleinen Bootes und zweier Pferde, O'Brien,« bat Lionel. »Sobald drüben der feste Boden erreicht ist, schicken wir dir die Tiere durch den Begleiter, welchen du uns mitgibst, zurück.«

Der Irländer schüttelte den Kopf. »Das geht nicht,« sagte er. »Wohin wolltet ihr euch auch so allein und ohne Führer, ohne Lebensmittel begeben? Zwischen den Felsen verirrt ihr euch sogleich, seid den Raben zur Beute, ehe vierundzwanzig Stunden vergehen.«

Lionel zuckte die Achseln. »Wir können doch nicht für immer hier bleiben, O'Brien!« versetzte er.

»Das sollt ihr auch nicht, aber erst, wenn ich gehe, ist für euch die rechte Zeit gekommen. Wartet noch bis dahin!«

»Was hast du vor?« fragte unruhig der Knabe.

O'Brien trommelte mit den Fingern auf den Tisch, daß die Fugen krachten. »Was ich vorhabe?« wiederholte er. »Nun, euch kann ich's schon sagen. Meine Getreuen spüren aus, wer zu mir hält und wer in Mac Donalds Schlingen gefallen ist, – beinahe von allen weiß ich's schon. Die Überzahl ist mein, sämtliche Farbige und eine große Menge Irländer. Nun gut! Heute abend bescheide ich die Leute in den Schuppen, da unten bei der Quelle, – wer zu mir hält, der bleibt in meiner Nähe, die anderen scharen sich natürlich um den abtrünnigen Schotten, – dann halte ich eine Anrede, fordere sie auf mir zu gehorchen und wenn das nicht hilft, so brauche ich Gewalt!«

»Indem du sie angreifst, O'Brien?«

»Natürlich. Die Getreuen wissen, daß ihnen nach erfochtenem Siege alles zufallen soll, was jene besitzen, – sie werden sich daher nicht zweimal bitten lassen.«

Die beiden jungen Leute sahen einander an. Eine förmliche Schlacht war es, was für die nächsten Stunden der kleinen Insel bevorstand.

»Auf welche Seite stellt ihr euch denn? Doch sicherlich zu mir, da ich es bin, der euch aus den Irrgängen des Gebirges wieder auf die gebahnte Straße zurückführen wird.«

Lionel sah dem kecken Manne offen und fest ins Gesicht. »Wir danken dir viel, O'Brien,« sagte er, »du hast uns in größter Not geholfen, uns monatelang beherbergt und ernährt, aber trotz aller dieser Wohlthaten können mein Freund und ich doch an dem leider bevorstehenden Kampfe nicht teilnehmen, denn auch wir gehören zu denen, die so recht von Herzen wünschen, du mögest ein anderes, besseres Handwerk ergreifen, mögest deinen Mut und deine Thatkraft verwenden, um Nutzen zu stiften, nicht aber –«

Der zornfunkelnde Blick des Irländers ließ ihn verstummen. O'Brien ballte die Faust, seine Zähne knirschten. »Bursche!« rief er, »vergißt du, daß ich dich auf dem Fleck totschlagen könnte, daß es mich nur ein Wort kostet und dein Kopf liegt im Sand?«

Lionel nickte. »Du wirst das Wort nicht sprechen, O'Brien, dessen bin ich sicher. Vielleicht noch eher, wenn ich hier als Heuchler und Feigling vor dir stünde, aber nicht um meines ehrlichen Bescheides willen. Hermann und ich bleiben ganz neutral.«

Der Irländer war entwaffnet. »Die O'Briens sind Könige gewesen,« sagte er nach längerer Pause, »gerade solche Könige wie die, von denen du mir soviel erzählt und vorgelesen hast. Wohl! ich bin auch ein König und es geht mir gut dabei. Wenn irgendwo ein Soldat gefallen ist, so verliert seine Familie den Sohn oder Bruder, das ist der wirkliche Schmerz, den ich nicht verschulde, – aber wo die Uhr bleibt und das wenige Geld, – wer fragt darnach? Die Sieger haben es auch in den meisten Fällen darauf abgesehen, uns den Garaus zu machen, irgendwoher aus dem Gebüsch knallen plötzlich die Büchsen, und ahnungslose Leute fallen wie die Spatzen, wenn ein Schrotschuß gegen sie abgefeuert wird. Ich selbst habe einmal eine Kugel in die Schulter bekommen, aber freilich dafür auch den, der sie mir zuschickte, sogleich in die Ewigkeit hinüberbefördert. Nein, nein, und wenn sich die ganze Welt dagegen auflehnen sollte, so will ich doch das freie, fröhliche Kriegsleben nicht eher an den Nagel hängen, als bis der Friede geschlossen ist, – so wahr ich O'Brien heiße.«

Und nach dieser geharnischten Rede trank er eine halbe Flasche Whiskey auf einen einzigen langen Zug hinunter.

Lionel sah die Hoffnung, welche ihn hierhergeführt hatte, allmählich schwinden. »Gib uns das Boot!« bat er nochmals.

»Nein! unter keiner Bedingung.«

Damit war das Zwiegespräch beendet. Eine dumpfe Stille lagerte während dieses ganzen Tages auf den Bewohnern der Insel, man sah die Leute ihr Eigentum hin- und herschleppen, in Gruppen beieinanderstehen und heimlich die Fäuste ballen. Viele würden auf und davon gegangen sein, wenn nicht eben die Fahrzeuge unter Verschluß gelegen hätten.

Gegen Abend hin erhob sich ein Sturm, der die Bäume wie dünne Reiser knickte und dessen Gebrüll jeden anderen Laut verschlang. Schwarze Wolken verhüllten den Himmel, im unaufhaltsamen Wirbel wurden Zweige und ganze Stämme mit fortgerissen. Im großen Schuppen brannten mehrere Laternen, sämtliche Pferde waren zusammengekoppelt, hier und da stand ein Wachtposten mit dem Gewehr im Arm.

Mann nach Mann kamen die buntscheckigen Genossen O'Briens mit finsteren Blicken herbei, jeder einzelne entschlossen, von seinem guten Rechte nichts zu vergeben. Die Büchse lag im Arm, der Gürtel barg Messer und Dolche.

»Ich stelle mich nicht und schlage mich auch nicht!« hatte Mac Donald gesagt.

»Du bist der, welcher die anderen aufwiegelte. Gerade für dich ist die erste Kugel bestimmt, du Verräter!«

Mehr und mehr Anhänger des Irländers sammelten sich, verschwindend klein war die Zahl derer, welche O'Brien seit diesem Morgen nicht allein als Gefangene behandelte, sondern auch Hunger leiden ließ, – wie einer zu zehn Gegnern verhielten sie sich.

Finstere, entschlossene Mienen sah man hüben und drüben. Ein unheimliches Schweigen kennzeichnete die Stille vor dem Sturme.

Als die Dämmerung heinbrach, erschien O'Brien, vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet, das Gesicht gerötet, die Augen voll trotziger Wildheit. Unsere beiden Freunde sahen ihn, ohne selbst bemerkt zu werden, sie hatten sich in ein Gebüsch begeben, von wo aus der ganze Schuppen deutlich erkennbar vor ihren Blicken lag. Alle diese Gewehrläufe blitzten im Lampenschein, die drohenden Mienen verkündeten den nahen Ausbruch.

Einer derjenigen, welche sich zu dem Schotten und dessen Anschauung bekannten, ein derber, untersetzter Mann, hielt dem Anführer sogleich die geballte Faust entgegen. »Weshalb legst du eigenmächtig unsere Vorräte unter Schloß und Riegel, O'Brien?« fragte er. »Wer gibt dir das Recht, über Güter zu bestimmen, die dir nicht mehr angehören, als einem unter uns?«

Ein gereiztes Knurren antwortete ihm. »Schweig!« donnerte O'Brien.

»Das will ich nicht! Verstehst du mich? Mein Weib kann den Kindern kein Brot geben, – ich verlange die Schlüssel zur Vorratskammer!«

Der Irländer schlug auf seine Tasche, daß sie klirrte. »Verlangen kannst du viel!« schrie er. »Hier stecken die Schlüssel, – hole sie dir!«

Blitzschnell lag das Gewehr im Anschlag, der Schuß krachte, aber nur ein Spottgelächter folgte dem Schalle. In blinder Leidenschaft abgefeuert, hatte die Kugel ihr Ziel verfehlt, – O'Brien strich sich den Bart und sah höhnisch zu seinem Gegner hinüber.

»Dachtest schon, du hättest den Vogel abgeschossen, nicht wahr, Kerl? Solltest lieber auf die Kniee fallen und um Gnade bitten!«

»Vor dir? – Vor dir? – Bist du mehr als ich?«

»Ich bin der anerkannte Führer dieser Gesellschaft!«

»Lüge!« rief der andere. »Wir trafen uns eines Tages auf dem Schlachtfelde, beide bemüht, ein wenig Brot aus den Vorräten der Gefallenen hervorzusuchen, beide hungrig, wir sprachen mit einander und gingen am nächsten Morgen gemeinschaftlich auf den Fang aus, das ist alles. Aber du bist herrschsüchtig, du möchtest gern befehlen und prahlst mit allerlei Dummheiten, die man sich gefallen ließ, so lange sie unschädlich waren. Jetzt ist die Sache anders geworden, ich kenne dich nicht mehr, ich verlange Freiheit und Gerechtigkeit!«

»Wir auch!« riefen die übrigen.

»Und ich bewillige nichts, bis ihr zum Gehorsam zurückkehrt.«

Das allgemeine Murren ging jetzt über in einen Sturm, der keine einzelne Stimme mehr aufkommen ließ. O'Brien hob den Arm, er gab damit seinen Getreuen ein verabredetes Zeichen und der Kampf war eröffnet. Zischend schlugen die Kugeln in alle Wände des Schuppens, aber vorläufig ohne die Gegner zu treffen; es waren bei Zeiten einige Bretter aus den Wänden losgebrochen und ehe die Gefahr eintrat, hatte man sich gedeckt. Jetzt kam der eiserne Hagel von draußen in die Reihen O'Briens hineingeflogen.

Ein Schrei der Wut gab Antwort. »Auf sie!« heulte der Irländer. »Auf sie! – Das sind die Schufte, von denen wir seit langem betrogen wurden, die Kerle, welche euch das Beste und Wertvollste vor dem Munde wegschnappten! Diebe und Diebsgesindel!«

»Aber du bist ein Ehrenmann, nicht wahr, O'Brien?«

»Schießt! Schießt! Weshalb soll man Worte verschwenden?«

Eine Wolke von Pulverdampf hüllte jetzt die ganze Umgebung förmlich ein. Was geschehen mußte, das geschah mit grauenvoller Gewißheit, – die sich zum gemeinschaftlichen Verbrechen, zu Schuld und Sünde vereinigt hatten, waren nun im wildesten Hasse gegen einander entbrannt. Jeder verachtete den anderen, jeder suchte durch die rohe Gewalt zum Ziele zu gelangen und endlich die Botmäßigkeit abzuschütteln, welche er überhaupt von jeher nur grollend und widerstrebend ertragen hatte.

Lionel und Hermann standen gedeckt hinter mächtigen Eichen. Was wird das Ende sein? – Sie dachten es beide, aber keiner, sprach es aus.

Von O'Briens Getreuen schlich sich jetzt, nachdem alle Ordnung zerstört war, einer nach dem anderen davon, um dann, sobald er weit genug entfernt war, schnellen Laufes den Schuppen zu erreichen, in dem die beiden Kähne verwahrt wurden. Beilhiebe donnerten gegen die Thür, das Holzwerk flog in Splitter, zwanzig kräftige Arme rissen die Fahrzeuge empor.

»Schnell! Schnell! – Treibt auch die beiden Pferden zur Eile.«

Ein Wiehern und Stampfen scholl herüber, Schießen und Geschrei. O'Brien schmeichelte sich mit der süßen Hoffnung, eine Schar zuverlässiger und ergebener Anhänger zu besitzen, er prahlte, weil er seine Person von einem dichten Wall getreuer Freunde beschützt glaubte, aber die Täuschung war vollständig. Innerhalb des Häufleins, das ihm mit lauter Stimme zujubelte, innerhalb seiner Erwählten hob die Schlange des Verrates ihr Haupt.

»Daß wir Narren wären, uns knechten zu lassen! – Zerschneidet die Stränge, bringt die Pferde her, – wir entkommen früh genug und ziehen auf eigene Faust weiter!«

Auch drüben bei den Tieren wurde geschossen, dreiste Hände rissen Pferde und Esel aus den Umzäunungen, die Verwirrung war allgemein, das Gefecht in lauter Einzelkämpfe ausgeartet. Wo ein Toter am Boden lag, da übten die flinken Finger seiner Kameraden an ihm das altgewohnte Geschäft, – Uhr und Kette, Geld und Schmucksachen verschwanden wie durch Zauberei.

Man hieb und stach, man schlug und schoß im wilden Wirbel, jeder Einzelne fühlte sich tief im Herzen gegen den gesetzlosen, dem Raubtiere gleichgeachteten Widersacher zu aller möglichen Gewaltthat berechtigt, jeder Einzelne suchte seine besonderen Ziele zu erreichen, ohne Verpflichtung dem andern gegenüber.

Hundertfach kreuzten sich die Interessen, hundertfältig schallte der Lärm des Kampfes. Die Fahrzeuge waren flott gemacht, hastig drängte Mann nach Mann, sich den Platz zu sichern, Frauen und Kinder flüchteten aus der gefahrdrohenden Nähe des Gefechtes in die Boote, um Leib und Leben zu schützen, alle möglichen Gegenstände wurden an Bord gebracht, so daß die Fahrzeuge bis zur Handbreit unter dem Rand im Wasser lagen und kaum mittels der Ruder fortbewegt werden konnten. Eine Hand winkte unseren beiden jungen Freunden.

»Wollt ihr nicht mitkommen? Noch ist es Zeit!«

Hermann schien zweifelhaft. »Wir wären erst einmal von hier fort!« meinte er.

Aber Lionel schüttelte den Kopf. »Gib acht, das Boot wird in den Grund gebohrt, ehe es fünf Minuten auf dem Wasser schwimmt!«

Ein Wutschrei zerriß in diesem Augenblick die Luft. O'Brien hatte die Flüchtigen entdeckt, er schäumte vor Zorn, sein Befehl rief von den wenigen Getreuen, welche ihm noch übrig geblieben waren, die nächststehenden herbei, dann krachte eine volle Salve den beiden Booten nach und das Unvermeidliche vollzog sich schnell. Pulverdampf umhüllte mitleidig eine Szene des Entsetzens, des Todes neuen, furchtbaren Sieg. Wo die prasselnden Kugeln einschlugen, da wand sich ein Mensch im letzten Kampfe, da rissen seine Zuckungen, seine ungestümen Bewegungen die Nebenstehenden mit sich fort, – das Fahrzeug kam ins Schwanken, ein schwerer Körper fiel über Bord und dann war das Unglück geschehen. Nach Augenblicken zeigte sich die Wasserfläche leer, – nur Schaum kräuselte auf, blutigrot an den äußersten Flockenspitzen, sonst sah man weiter nichts als ein Ringen und Kämpfen da unten in den geheimnisvollen Tiefen, ein schauriges, enges Umarmen zwischen Tod und Leben, bei dem der Knochenmann den Sieg behielt.

Frohlocken vom Lande her begleitete den entsetzlichen Vorgang, Jubel und höhnisches Lachen. »Nun noch das zweite Fahrzeug! Wir werden es schon wieder haben, – die unnützen Brotesser sind wir dann los!«

Und die gleiche, entsetzliche Szene erneuerte sich. Hinab in den dunklen Schoß der Tiefe, hinab in des Todes Schattenreich, aus dem keiner wiederkehrt, um Kunde zu geben von dem, was er dort gesehen.

Ob es jetzt gerüttelt voll war, das Maß der Schuld? – Drüben lagen Leichen auf Leichen, furchtbar hatten O'Briens Kugeln aufgeräumt; er selbst, der dreiste Sünder frohlockte. »Mein sind die Pferde und mein die Zelte und Vorräte. Eine Handvoll Leute find' ich überall wieder, aber, bei Gott, ich will sie anders im Zaume halten, ich will sie knechten, daß ihnen der Übermut vergehen soll!«

Er sprach noch, da erklangen ganz in der Nähe seltsame Laute. War es nicht wie das Klirren von Gewehren, wie die schnellen, regelmäßigen Schritte marschierender Soldaten?

O'Brien hörte nichts. »Auf!« rief er. »Auf, meine Jungen! Macht den letzten Rebellen den Garaus, schlagt sie nieder, werft sie in das Wasser!«

Dann ertönte ein Befehl, begleitet von einem lauten Schreckensschrei. »Marinesoldaten! Wir sind verloren! Es muß ein Kriegsschiff in der Nähe sein!«

Jetzt trat ein höherer Offizier aus dem Gebüsch hervor und deutete auf die stattliche Zahl von Leuten, die ihn hierherbegleitet hatten. »Ergebt euch!« rief er. »Ihr seid, längst schon zu Lande und zu Wasser eifrig gesucht, jetzt vollständig umzingelt und solltet ihr irgend welchen Widerstand leisten, so meßt die Folgen solcher Unklugheit euch selbst zu!«

O'Brien lachte, er war außer sich, er sprach und handelte ohne Überlegung. »Seht den geputzten Narren!« rief er, »trägt das Kerlchen wirklich einen Bratspieß an der Seite und möchte thun, als wär's der große Mogul selber! Stopft ihm doch den vorlauten Mund, meine Jungen!«

siehe Bildunterschrift

Der Untergang der Leichenräuber.

Aber keine Hand regte sich. Die wenigen Überlebenden dieser grauenvollen Nacht blickten auf den dichten Kranz von Bajonetten, der ihnen überall entgegen starrte, sie wagten es nicht, dem Befehl ihres Anführers zu gehorchen, sondern suchten den Ausgang zu finden, aber ganz umsonst! – Die innerste Mitte der Bauminsel war umzingelt, es gab nirgends ein Entrinnen.

Zum zweitenmale wiederholte der Offizier seine Forderung. »Ergebt euch!«

O'Brien antwortete mit einem Büchsenschusse, der den Sprechenden leicht an der Schulter verwundete. Es war jetzt Blut geflossen, die Erbitterung wurde allgemein, ein Befehl schrillte über die Köpfe dahin und das Feuer hatte begonnen.

Lionel, Hermann und Toby waren bei dem ersten Erblicken der Soldaten so rasch als möglich auf die entgegengesetzte Seite der Insel hinübergeflüchtet. Was die beiden jungen Leute empfanden, das schien aus Schreck und Freude gemischt, – sie hatten allerdings die Uniformen der Regierungstruppen vor sich, und das mochte immerhin die Hauptsache sein, aber würde man ihren Behauptungen glauben, sie nicht vielmehr für die Mitschuldigen der ergriffenen Räuber halten?

»Unsere Lage ist mehr als ernst,« meinte Lionel.

»Dann laß' uns doch so schnell als möglich ein sicheres Versteck suchen!«

Lionel schüttelte den Kopf. »Bei Tagesanbruch wird ohne Zweifel die ganze Insel bis auf das letzte Gebüsch durchforscht werden. Findet man uns dann, so gilt der Fluchtversuch als Beweis unserer Schuld. Sobald das Schießen aufgehört hat, müssen wir selbst uns stellen.«

»Und Toby?« fragte Hermann.

Lionel fuhr mit der Hand durch das Haar. »Ich kann nur hoffen, daß es mir gelingen werde, für den kaum halbwegs zurechnungsfähigen Burschen Gnade zu erwirken,« sagte er. »Die Wahrheit muß gesprochen werden, schon aus dem einfachen Grunde, weil der Schwarze alles selbst ausplaudern würde. Er ist für ein Geheimnis oder gar eine angenommene Rolle viel zu einfältig.«

Sie schwiegen jetzt wieder. Drüben verstummte der Kampf, eine Anzahl Soldaten blieb an verschiedenen Punkten des zerstörten Lagers als Wachtposten zurück, die übrigen marschierten zum Strande, nicht ohne eine traurige Last auf schnell zusammengefügten Bahren mit sich zu nehmen, fünf oder sechs Tote und doppelt so viele Verwundete.

Hinter ihnen regte sich nichts. Die todbringenden Salven aus so vielen Gewehren mochten alles, was zu O'Briens Leuten gehört hatte, im wilden Wirbel erfaßt und zu Boden geschmettert haben. Vielleicht lag noch hie und da auf blutgetränktem Moos ein Verwundeter, dessen Augen offen und schmerzerfüllt zum Nachthimmel emporsahen, vielleicht kämpfte manch' Unglücklicher allein und verlassen mit dem Tode, aber der Lärm war verstummt, eine tiefe, bleierne Stille ruhte über dem Orte des kaum verhallten Waffengetöses. Blutgeruch erfüllte die Luft, zuweilen klang ein leises Wimmern, – dann schwieg alles bis auf den Wind, dessen Trompetenstöße daherfuhren und rauschend und knarrend die Waldwipfel gegen einander schlugen.

Lionel spähte durch die Zweige. Da lag O'Brien mit gespaltenem Schädel, noch in trotzig geballter Faust den Degen, in einer Stellung, die klar erkennen ließ, daß der wilde Mann kämpfend und widerstrebend gefallen war. Um ihn her bedeckten Trümmer den Boden, zerschlagene Waffen, zerstörte Baracken, zerstörtes Leben, – – grauenhaft hatten Schuß und Hieb gewütet, grauenhaft die aufgeschreckten, wildempörten Leidenschaften.

Tief erschüttert standen unsere Freunde. Ob alle, alle dahin waren? – Auch Mac Donald, der unglückliche Schotte?

Eine furchtbare, überaus furchtbare Nacht! – –

»Kommt!« flüsterte Lionel, »das Zögern hilft zu nichts. Wir wollen jetzt das Schiff anrufen und uns bei seinem Befehlshaber melden.«

Hermann blieb die Antwort schuldig. Gedrückten Herzens schlichen alle drei durch das Holz dahin, ohne zu sprechen, bis plötzlich dicht neben ihnen eine dunkle Gestalt wie aus dem Boden aufzutauchen schien.

»Mr. Lionel!« flüsterte eine Stimme.

Lautlos blieben unsere Freunde stehen, sie hielten den Atem an, keiner wagte dem Unbekannten gegenüber einen Schritt.

»Ich bin's!« flüsterte wieder die Stimme. »Mac Donald!«

Lionel atmete auf. »Sie konnten sich also in Sicherheit bringen?« fragte er. »Blieben Sie dem Kampfe ganz fern, Mr. Donald?«

Der Schotte seufzte unruhig. »Ja!« antwortete er. »Könnten Sie jahrelang mit einer Anzahl von Genossen in engster Gemeinschaft zusammenleben, mit ihnen teilen, was die wechselnden Tage an Sorge und Freude bringen und – dann auf sie schießen?«

Lionel schüttelte den Kopf. »Das war ja eben der Grund, aus welchem auch wir uns ferngehalten haben,« versetzte er. »Sie gehen jetzt an Bord des Schiffes, Mr. Donald?«

Der Schotte verneinte. »Ich kann es nicht, mein junger Freund. Hinter mir steht die Vergangenheit und klagt mich an, – ich wurde niemals Gnade finden. O'Brien und ich haben so manche Proviantkolonne geplündert, wir sind gemeinsam aus dem Gefängnis entsprungen, wir –«

»Ach, das alles ist längst dahin,« unterbrach er sich. »Es nützt zu nichts, die schlimmen Geschichten wieder an das Tageslicht zu ziehen! Genug, daß ich sage: mein Name ist den Behörden ebenso genau bekannt, wie derjenige O'Briens, – mir wäre der Strang nur allzu gewiß, ich kann mich also bei dem Befehlshaber des Schiffes nicht melden, sondern muß sehen, wie ich mich verborgen halte, bis die Anker gelichtet sind. Was aus mir wird, weiß Gott allein, – jedenfalls aber wollte ich mich ohne Abschied von Ihnen und Hermann nicht trennen, – dafür verdanke ich Ihnen zu vieles.«

Lionel drückte ihm die Hand. »Sie haben mir das Leben gerettet, Mr. Donald! Ich bin tief in Ihrer Schuld.«

Der Schotte wehrte ihm. »Ach!« seufzte er, »wenn ich Ihnen mein innerstes Herz zeigen könnte! – Ich habe Sie beide lieb, wie der altgewordene Mensch die glückliche, schuldlose Jugend liebt und in ihrer Nähe selbst wieder reiner, besser zu werden glaubt. Niedergetreten war in meiner Seele alles Gute, erstickt jede Regung, die den Menschen über das Tier erhebt, – bis Sie kamen. Ich habe Sie auf meinen Armen in den Sonnenschein getragen, Mr. Lionel, ich habe Sie behütet, wie die Mutter den Säugling – und war so glücklich, so überglücklich in dem Gefühl, einem anderen Menschen zum Segen zu gereichen, statt immer nur zum Fluche. Es ist schöner, seliger, zu geben, als zu nehmen, es bringt eine unvergängliche Freude, jemandes guter Genius zu sein!« – –

»Und später haben wir dann miteinander den Shakespeare gelesen, – da war's, als komme meine schuldlose Jugend noch einmal zu mir zurück, all die schöne Begeisterung des Sechzehnjährigen, der stolze Flug seiner Hoffnungen! Ich sah im Lichte der Vergangenheit die zertretene, entweihte Gegenwart und wandte mich mit Widerwillen ab von dem eigenen Bilde. So kam es, daß ich O'Brien den geschlossenen Pakt kündigte, – so kam, was kommen mußte. Leben Sie nun wohl, Sie beide, leben Sie wohl und Gott sei mit Ihnen! So lange mein Herz schlägt, wird es Ihrer in Liebe und Freundschaft gedenken.«

Lionel reichte ihm tief erschüttert beide Hande. »Möchten Sie Frieden finden, Mr. Donald, möchte es Ihnen am Abend Ihrer Tage noch recht wohlergehen! – – Eine Bitte habe ich in dieser Stunde an Sie!« setzte er hinzu.

Der Schotte war erstaunt. »An mich, Sir? Was in Gottes Namen hätte ein Unglücklicher wie ich dem anderen zu bewilligen?«

»Wollen Sie thun, was ich wünsche?«

»Und wenn Sie verlangen, daß ich hingehe und mich freiwillig ausliefere, – ja!«

Lionel lächelte. »Daran denke ich wahrhaftig nicht! Aber,« fügte er hinzu, indem er das Schloß seines Ledergürtels öffnete und die lange verwahrten fünfzig Dollar herausnahm, »aber ich bitte Sie, Ihnen dies Geld – ein Freund dem anderen! – anbieten zu dürfen. Sie haben mir das Leben erhalten, ich gebe dafür als Gegengeschenk, was eben in meiner Macht steht, freilich ohne dadurch der innigsten Dankbarkeit überhoben zu werden. Bitte, Mr. Donald, nehmen Sie das Geld!«

Ein Schauder rann durch alle Glieder des unglücklichen, bereuenden Mannes. »Gerade diese Summe!« murmelte er erstickten Tones, »gerade diese Summe! Ich kann es nicht, Mr. Lionel, das Geld müßte meine Hände verbrennen!«

»Weshalb? Das sind Einbildungen, Donald!«

»Nein, nein, es ist die allerschrecklichste Wirklichkeit, – Sie können nur eben nicht ahnen, was ich meine und sollen das auch nie. Aber freilich! freilich! – wenn Sie es nicht erfahren, dann bin und bleibe ich in Ihrer Erinnerung ein Besserer, als ich es verdiene und das wäre ein Raub an Ihnen – gestohlene Freundschaft. So hören Sie denn und verachten Sie mich ganz! Damals in jener Nacht, als Tod und Leben im harten Kampfe um Ihren Besitz rangen, als ich Sie sterbend glaubte, da habe ich die raubgewohnte Faust nach Ihrem Eigentum ausgestreckt, nach eben diesem Gelde, – nur ein Ohngefähr hielt mich zurück, ein –«

Lionel lächelte mit dem ganzen, gewinnenden Zauber seines hübschen Gesichtes. »Das Geld ist hier,« sagte er, »ist in meinem ungestörten Besitz gewesen und geblieben, weshalb sollten wir uns also mit allerlei Wenn und Aber die Köpfe zerbrechen? Ich weiß von der Geschichte jenes Abends nichts, mag nichts darüber hören und würde am allerwenigsten meinen Wohlthäter eines Irrtums wegen verdammen wollen, aber ich bitte Sie nochmals freundlichst, Mr. Donald, nehmen Sie das Geld mir zuliebe!«

»Obgleich ich es Ihnen eines Tags stehlen wollte, Lionel?«

»Ohne jedes ›Obgleich‹ – Donald!«

Der Schotte nahm den Ledergürtel, die Bewegung seines Inneren erstickte ihn fast. »Hätte ich selbst nur einen – einen einzigen Dollar,« murmelte er, »ich thäte es nimmer. Aber alles ist verspielt, verschleudert, dahingegeben für die Branntweinrationen derer, die nicht trinken mochten. Ich bin arm wie Hiob!«

Lionel drückte ihm die Hand. »Lassen Sie uns über das alles nicht weiter sprechen, Mr. Donald! Und jetzt – muß es geschieden sein, nicht wahr?«

»Noch einen Augenblick, Sir! Sagen Sie mir, ist Ihnen ein Landhaus irgendwo bekannt, eine Kottage mit hoher Treppe und breiter, rings das Erdgeschoß einschließcnder Veranda? – Der Bau liegt gleichsam in einem Kranze hoher, uralter Eichen!«

Lionel wechselte die Farbe. »Seven-Oaks!« sagte er halb seufzend. »Wie meinen Sie die Frage, Mr. Mac Donald?«

Der Schotte nickte zufrieden. »Vor dem Hause führt eine lange Allee bis zur Straße, nicht wahr? Am Ende derselben erhebt sich ein Springbrunnen?«

»Ja!«

»Das alles sah ich in jener bedeutsamen Stunde, Mr. Lionel. Vor dem Hause standen Sie mit noch einem anderen jungen Manne, – und eine Stimme nannte Sie den Herrn der Besitzung. Ich weiß nicht, wer es war, aber jemand sprach zu mir, ich konnte alles klar unterscheiden. Da sank meine Hand herab und der Diebstahl unterblieb.«

»Eine Vision!« warf Hermann ein. »Ein zweites Gesicht!«

»Das hatte ich manches Mal, Mr. Lionel, – und was ich sah, ist immer eingetroffen.«

Unser Freund lächelte. »So gebe der Himmel, daß es auch diesmal geschehe,« sagte er halblaut. »Aber nun leben Sie wohl, Mr. Donald, der Tag bricht an, Sie müssen ein Versteck suchen!«

»Das habe ich bereits. Mitten auf der Insel steht eine hohle Eiche!« – –

»Adieu also! Adieu!«

»Gott sei mit Ihnen! – Adieu, Mr. Hermann. Adieu, Toby!«

Der Neger schluchzte. »Ich ist viel traurig,« gestand er.

»Komm nur, komm, mein Bursche, wir verlassen dich nicht!«

Ein letzter Händedruck, ein letzter Blick vom Herzen zum Herzen und der Schotte wandte sich lautlos gleitend dem dichtesten Teile des Gehölzes zu, während die drei jungen Leute gegen den Strand hin weiter gingen.

Die ersten Sonnenstrahlen schimmerten goldig durch das Blätternetz der Baumriesen, ein grüner Moosteppich bedeckte den Boden, kühl und erfrischend wehte vom Strome herüber der Morgenwind. Bei ihren Ausflügen durch das ganze Rund der Insel hatten die jungen Leute jeden einzelnen Punkt derselben früher schon kennen gelernt, aber heute erschien ihnen die erhabene Ruhe der Natur nach den schreckensvollen Eindrücken der Nacht schöner und berückender als jemals. Ein sanft abfallender Felszug badete die letzten Klippen im Strome, graues, uraltes Gestein erhob sich zwischen lachendem Blütenschmuck und dem Grün der alles überspannenden Ranken, – ganze Flüge wilder Tauben nisteten in den Spalten, Schwalben und Singvögel mit prachtvollem Gefieder. Weiter hinaus am offenen Strande tummelte sich mit weißer Brust und blauschwarzen Flügeln die kleine Möwe, hoch im Blau schwebte der königliche Adler, bereit, in jeder Minute herabzuschießen und aus dem Wasser oder vom festen Boden die Beute heimzuschleppen in das ferne, unzugängliche Felsennest.

Hermann hob die Hand, seine Stimme klang unsicher. »Da draußen liegt das Schiff!« flüsterte er kaum verständlich.

Auch Lionel sah den stolzen Rumpf des Fahrzeugs, seine weißen, weitgebauschten Segel, – ein sonderbar beklemmendes Gefühl ging durch seine Seele. Wenn nun der Befehlshaber des schwimmenden Baues seine eigene Erzählung und diejenige seines Genossen für eine Fabel halten, wenn er das Todesurteil sprechen würde, – wer mochte es wissen?

Aber dennoch, dennoch, – konnte Gottes Gerechtigkeit so die Schuldlosen in höchster, schrecklichster Not verlassen? Er glaubte es nicht.

»Hermann,« sagte er, »noch hat uns kein Auge gesehen. Steht auch dein Entschluß ganz fest? Du sollst dich der drohenden Gefahr gegenüber nicht durch mich bestimmen lassen.«

Hermann schüttelte den Kopf. »Wo du bist, da bleiben auch wir, – nicht wahr, Toby?«

Der Neger hatte den inneren Zusammenhang des Geschehenen nicht vollständig begriffen, er wußte nur, daß irgend ein drohendes Unheil in der Luft schwebe und seufzte daher kläglich. »Toby will bei Mr. Lionel bleiben,« sagte er kleinlaut.

Lionel tröstete ihn. »Sage immer die Wahrheit,« ermahnte er. »Immer, Toby, was man dich auch fragen möge, – dann wird alles gut gehen.«

»Ja, Mr. Lionel, ja! Sind es sehr böse Menschen, die da auf dem großen Schiff? Wollen wir mit ihnen fahren?«

»Das findet sich seiner Zeit, Toby, noch wissen wir davon nichts. So! – jetzt können wir in jedem Augenblick gesehen werden.«

Der freie, unbeschützte Strand war erreicht, hell im flimmernden Lichte lagen Strom und Schiff. Mehrere Matrosen waren beschäftigt, die beiden großen Boote herabzulassen, an Deck stand eine Anzahl Soldaten in Reihe und Glied, offenbar sollte bei Tagesschein die Insel nochmals gründlich durchsucht werden. Binnen wenigen Minuten mußte das Militär landen.

»Wir sind bemerkt worden!« rang es sich aus Lionels Brust hervor. »Um des Himmels willen, sprich nur die Wahrheit, Hermann, laß uns nicht in einen falschen Verdacht geraten!«

»Gewiß, Lionel! Du siehst also unsere Lage für sehr gefährlich an!«

»Wenigstens für sehr ernst. Da kommen die Boote!«

Das Militär war eingeschifft und die kurze Strecke bis zum Ufer bald durchmessen. Im Sonnenschein funkelten die Bajonette, blitzten und schimmerten die sauberen Uniformen, – durch Lionels Seele ging zum erstenmale ein bitteres, quälendes Weh, eine ganz andere Angst, als die vor persönlichem Nachteil. Es war doch schrecklich, möglicherweise für den Genossen der Bummers gehalten zu werden.

Wenige Minuten später musterten die spähenden Blicke eines Offiziers das Kleeblatt, dessen Äußeres den allerschlimmsten Verdacht zu rechtfertigen schien. Sehr abgenutzt und zum Teil sogar zerrissen war die Kleidung, sehr verwildert das Haar und ein wenig zweifelhaft die Sauberkeit der Gesichter, – vielfach von Blutflecken gerötet die ganzen Erscheinungen. Wie Vagabonden sahen unsere Freunde aus, nicht wie die Söhne guter Familien.

»Wir bitten, den Befehlshaber des Schiffes sprechen zu dürfen,« hatte Lionel gesagt.

Ein grimmiger Unteroffiziersblick begegnete dem seinigen. »Wirst ihn schon zu sehen bekommen, junger Taugenichts! Thut wahrhaftig ganz unschuldig, ganz, als wenn er nicht wüßte, was Leichenplünderer sind, diese Kanaille!«

Lionel beherrschte sich mühsam. »Wir wenigstens waren nie solche, Sir!« gab er in ruhigem Tone zur Antwort.

Der Soldat lachte. »Erzählt das einem anderen!« rief er verächtlich.

»Gewiß, – Ihrem Vorgesetzten, sobald wir nur vor ihm stehen.«

Die Soldaten ordneten sich und marschierten ab, – ein Wink des zurückgebliebenen Unteroffiziers befahl unseren Freunden, das Boot zu besteigen und dann legten die Matrosen ihre Riemen ein. Der Weg, an dessen Ende sich vielleicht ein Galgen erhob, war jetzt betreten.

Toby hielt sich mit beiden Händen fest, sein schwarzes Gesicht war grau vor Angst. »Ich will nicht mit dem Schiff fahren,« flüsterte er. »Ich ist viel bange.«

Lionel tröstete ihn, obgleich sein eigenes Herz wie ein Hammer schlug. Jetzt legte das schlanke Fahrzeug unter dem Bug der Fregatte an, die Befehlsworte erklangen und das Deck mußte erklettert werden.

»Wen haben wir da, Unteroffizier? Pfui Teufel! Fast noch Knaben und schon so vollständig verworfen! – Dahin, Bursche!«

Ein alter, wenig freundlich blickender Offizier sah flammenden Auges zu den jungen Leuten hinüber. »Sind es Gefangene, Unteroffizier? Woher kommen sie?«

Der Soldat erstattete seinen Bericht. »Die Burschen bitten um Gehör!« setzte er dann in spöttischem Tone hinzu.

»Das soll ihnen wahrhaftig werden! Sechs brave Soldaten liegen in der Leichenkammer des Schiffes, ihrer fünfzehn unter dem Messer des Chirurgen, – das bleibt nicht ungerächt, so wahr ich lebe. Sprecht! Ihr gehörtet zu der Mordbande dieses O'Brien, nicht wahr? Ihr habt tapfer geholfen, wenn das Scheusal den verwundeten Soldaten die Glieder zerhackte oder in kalten Wintertagen den Unglücklichen die Kleider vom Leibe riß, um sie nackt und blutend im Schnee verderben zu lassen! Ihr habt die einsam stehenden Häuser mit Mord und Brand überzogen, habt Brücken eingerissen, um die gestürzten Züge auszuplündern, – ist es nicht so? Teufelsbrut, die ihr seid! Meinen eigenen Sohn würgtet ihr, meinen einzigen! Weißt du, was das heißt, Bursche? – Mit abgeschnittenen Fingern wurde er gefunden, beraubt bis zum Hemd, geschunden und zerkratzt, – das will ich O'Briens Mordgesellen eintränken! Keiner kommt lebend davon, keiner. Meine Vollmacht ist unbeschränkt und ich will sie brauchen, so wahr mir Gott helfe!«

Lionel hatte ohne einen Laut der Entgegnung die ganze Springflut dieser Zornesrede über sein Haupt dahinrauschen lassen, jetzt erst, als der erbitterte Offizier schwieg, hob er den Blick und sah äußerlich ruhig in das durchfurchte Gesicht des Greises. »Wir beide, mein Gefährte und ich, haben niemals zu den Angehörigen O'Briens gezählt,« sagte er in achtungsvollem, aber doch sehr bestimmt klingendem Tone.

Der Offizier fuchtelte mit der Hand durch die Luft, als wolle er zuschlagen. »Nicht? Nicht? Das wäre ja die Möglichkeit!« rief er. »Wer seid ihr denn? Bei den Würgern habt ihr doch jedenfalls gelebt, mit ihnen Kameradschaft gemacht, ihr Brot gegessen? Wie kam das? Heraus mit der Sprache!«

Lionel begann zu erzählen, aber der erboste alte Herr unterbrach ihn sehr bald. »Alles Lügen!« schrie er. »Dick auftragen, daß es eine blinde alte Frau mit dem Stock fühlen könnte, nicht wahr, so denkst du dich herauszuschwindeln? Gott stehe mir bei, welch' eine Frechheit besitzt der Bursche!«

»Du da!« rief er dann, »Schwarzer, komm einmal hervor! Jetzt rede oder es gibt auf der Stelle eine Tracht Prügel extra, – bist du mit bei O'Briens Mordbande gewesen?«

Toby fiel vor Furcht auf die Kniee. »Mr. Lionel!« ächzte er, »Mr. Lionel!«

»Sprich ganz und gar die Wahrheit, Toby, hörst du!«

Der arme Bursche verbarg das Gesicht in den Händen. »Dieser Nigger ist mit O'Brien durch das Land gezogen,« ächzte er.

»Aha, da haben wir es ja schon! Ihr beraubtet die Toten und Verwundeten, ihr achtetet kein göttliches oder menschliches Gesetz, nur um eure Raublust zu befriedigen! – Satansbrut, ihr habt meinem armen Jungen die Finger abgehackt, seiner goldenen Ringe wegen, – ist es nicht so?«

Der Neger heulte laut. »Toby hat nicht gehackt!« rief er.

»Dann haben es andere gethan und du wußtest es, sahst es?«

»Ja! Ja! –«

»Ah – endlich ein Geständnis! Der Schwarze ist wenigstens in Furcht zu setzen, er heult und krümmt sich, aber ihr beide stellt euch wie die beleidigte Unschuld, möchtet gern noch einem ehrlichen Manne Sand in die Augen streuen. Zum Tode seid ihr verurteilt, in einer Stunde baumelt ihr an den Zweigen der Eichen da drüben. Mein gutes Schiff will ich durch die Hinrichtung nicht besudeln, – ihr mögt von den Geiern gefressen werden, anstatt von den Fischen. Sobald die sechs toten Soldaten über Bord gesetzt sind, wartet euer der Galgen!«

Er wandte sich ab und wollte in die Kajütte gehen, aber Lionels Ausruf hielt ihn noch zurück.

»Sir, um Gottes willen! Wollen Sie uns ungehört verurteilen?«

Der alte Herr kam nochmals zurück. »Ungehört, du Schuft? Spreche ich nicht bald eine halbe Stunde lang mit denen, die meinen Sohn gemordet haben?«

»Die zwar bei den Räubern als Flüchtlinge eine Zeitlang leben mußten, aber doch nicht zu ihnen gehörten und ihr Gewissen durch keine Unthat belasteten!«

»Papperlapapp! Hat nicht der Schwarze da alles unumwunden eingestanden?«

»Für sich, aber nicht für uns! Wir – –«

»Spitzfindigkeiten! Wortklaubereien! In einer Stunde baumelt ihr! Und wenn O'Brien und Mac Donald, diese beiden Hauptschurken noch lebend aufgefunden werden, so baumeln auch sie!«

Jetzt war die Unterredung endgültig beendet. Ein Stockmeister kam und band die drei Verurteilten an den Mast, dann blieben sie allein, um mit Muße über ihre entsetzliche Lage nachzudenken.

»Ob unsere Stunde geschlagen hat?« raunte Hermann.

Lionel strich das Haar aus der Stirn. »Wenn nicht ein Wunder geschieht!« antwortete er. »Wir sind im Kriege, da geht das Recht nicht mit den Schneckenschritten des Friedens.«

»Das heißt, – man hängt uns an jene Bäume, ohne einen Beweis erbracht oder ein Eingeständnis erlangt zu haben! – Ach, meine armen Eltern!«

Eine Pause folgte diesem letzten Ausrufe. Das Schiff schaukelte an seinen Ankern mit regelmäßiger Bewegung von rechts nach links, die weißen Möwen schossen in ganzen Flügen darüber hin, malerisch hob sich in der Ferne Insel nach Insel aus dem Blau der Wellen hervor. Ein wundervoller Morgen, – sollte er wirklich für unsere drei Freunde der letzte sein?

»Wenn ich doch wenigstens meinen Eltern schreiben könnte!« flüsterte Hermann.

»Und ich an Philipp Trevor! –«

»Das muß uns doch gestattet werden! Sollen wir denn spurlos verschwinden, ohne daß irgend jemand eine Kunde unseres Todes erhält?«

»Da kommen die Soldaten zurück!«

»Ob der arme Donald gefangen worden ist?«

Und im Augenblick verdrängte die Teilnahme für den Schotten das herzbeklemmende Gefühl der Furcht um das eigne Schicksal. Sie spähten durch das Glitzern und Flimmern der Sonne hinüber zum Boote. War Donald unter den Soldaten?

»Er ist nicht da!« meinte Hermann.

»Nun Gottlob! So wird wenigstens er den Weg zu einem besseren Leben finden können. Uns hätte sein Zeugnis auf keinen Fall gerettet.«

»Das glaube ich auch nicht!«

Jetzt begann sich's im Innern des Schiffes zu regen. Schwere Schritte gingen hin und her, man trug offenbar die Toten aus der Leichenkammer an einen anderen Ort, um sie auf Bretter zu binden und ihre Füße mit vierundzwanzigpfündigen Kanonenkugeln zu beschweren, – es wurde mit gedämpfter Stimme gesprochen, hie und da erklang halblaut eine Verwünschung.

Das Boot legte an und brachte die Soldaten von der kurzen Streifpartie zurück. Das kleine Eiland barg kein lebendes Wesen mehr.

Die Gefangenen sahen einander an. Also Mac Donald hatte sich gerettet.

»Und das Wunder?« raunte Hermann. »Es bleibt aus! – –«

Lionel antwortete nicht. Es war ihm so unmöglich, zu glauben, daß Gottes Vaterliebe die Schuldlosen vergessen werde!

Ein leiser Pfeifenton klang durch die weihevolle Stille an Deck. Durch die Luken kamen in langen Zügen Matrosen und Soldaten und nahmen Stellung zu beiden Seiten der Masten, es erschien der Prediger im Ornate, das Musikkorps stimmte einen Choral an, dessen getragene Melodie sanft anschwellend und wieder sinkend über die blauen Fluten dahinklang. Abermals dröhnten die schweren Schritte, knarrend bogen sich die Treppenstufen.

Man brachte, verhüllt in Segeltuch, sechs Tote, die Opfer der letzten Nacht. Ein schauriger Zug, langsam und herzerschütternd, – ein Gedanke voll Trauer. Sechs junge, kräftige Männer, dahingerafft im blühendsten Alter, Söhne, die ihren Eltern für immer entrissen waren, teure Opfer auf dem Altare des Vaterlandes! – –

Die Flagge mit den Sternen und Streifen sank auf halbe Höhe, unter den Klängen des Trauermarsches legte man die Leichen auf ein bereit gehaltenes, von schwarzem Tuche verhülltes Gerüst. Jetzt begann der Prediger seine Rede.

Es war den beiden Gefangenen, als werde mit Fingern auf sie hingedeutet. Überall düstere, erbitterte Gesichter, überall der Ausdruck des Hasses und der Verachtung. Die schamlosen Plünderer der Leichenfelder hatten ja im Verlaufe des Bürgerkrieges alles was lebte, gegen sich entflammt, es war ihnen tausendfältig die ausgiebigste Rache geschworen.

Kein Herz fühlte Mitleid für die Jugend der beiden Knaben, kein einziger unter allen Anwesenden würde ein Wort des Erbarmens, einen Gedanken an Gnade oder Verzeihen ausgesprochen haben.

Mit einem Gebete begann der Geistliche die Feier, dann sprach er von dem bitteren Leide, das O'Briens wilde Scharen über Tausende von Familien gebracht, von den zahllosen Versuchen, sich der Räuber zu bemächtigen und ihren Freveln ein Ziel zu setzen. Immer wieder waren sie entschlüpft, immer neu hatte ihre List, ihre Keckheit alle Anstrengungen der Behörden zu schanden gemacht, bis die Stunde kam, wo sie selbst in blindem Wüten sich der Gerechtigkeit mit gebundenen Händen überlieferten. Vom Schiffe aus hörte man das Schießen auf der kleinen Insel und sandte Leute aus, um zu kundschaften. Endlich, endlich waren die Raubtiere in Menschengestalt dingfest gemacht.

»Laßt keinen einzigen mit dem Leben davonkommen, meine Jungen,« hatte der greise Befehlshaber gesagt. »Denkt an die große Zahl eurer gemordeten, verstümmelten Waffenbrüder und gebt keinen Pardon.« So war denn nun der Angriff vollständig gelungen, Gottes Strafe ereilte die Schuldigen, aber nicht ohne neue, schwere Opfer zu heischen, – diese sechs Soldaten, deren Leichen jetzt das Grab empfangen sollte.

»Unvergänglich wird ihr Andenken fortleben im Gedächtnis des dankbaren Vaterlandes! Möchte die Ruhe und der ungetrübte Friede des Himmels ihnen zu teil werden!«

Dann folgte der Segensspruch, dreimal hob und senkte sich das Sternenbanner, langsam unter den Klängen der Trauermusik wurden die Leichen über Bord gesetzt. Jetzt war der feierliche Akt beendet, ein Befehl entfernte die Soldaten, etwas wie ein eiskaltes Grauen zog durch die Seelen unserer Freunde.

War nun die letzte Stunde gekommen? – Wirklich? –

Der Befehl zur Hinrichtung mußte schon gegeben sein, zehn Soldaten bestiegen das Boot, der Stockmeister löste die Fesseln der Gefangenen. »Da hinab! – –«

Lionels Blicke suchten die des Kommandeurs. »Man will uns hinrichten, obwohl wir schuldlos sind,« sagte er mit den tiefsten Tönen seiner klangvollen Stimme, »alles Recht und alle Billigkeit wird uns gegenüber verleugnet, – so bitte ich denn wenigstens um eins. Man gewährt jedem Verurteilten eine letzte Gnade, man erfüllt ihm den Wunsch, welchen er vor seinem Tode ausspricht. Möge ein gleiches auch uns zu teil werden!«

Der Offizier mit dem weißen, gramvollen Gesicht nickte. »Sprecht!« befahl er kurz.

»Wir möchten jeder einen Brief schreiben, Sir!«

»Unteroffizier!« rief der Offizier, »bringen Sie Papier und Bleistifte.«

Es war also doch vollkommen ernst gemeint, die Hinrichtung sollte sofort stattfinden, – hätten unsere Freunde es noch nicht gewußt, so würden sie es aus diesem Befehl erkannt haben. Ihre Blicke begegneten sich, die Herzschläge schienen zu stocken.

Sterben! Nicht weil der Lebensfaden verbraucht war, weil die Natur die ihr gesteckte Grenze erreicht hatte, nein, im jähen, gewaltsamen Zerreißen, urplötzlich, auf willkürlichen Befehl dritter Personen, – ein seltsamer, schwer faßlicher Gedanke! –

Ob die ewigen Mächte Verwirklichung gestatten würden?

Ein tiefer Atemzug hob Lionels Brust. So hell der Sonnenglanz am Himmel, so blau der Strom und frühlingsschön die Erde, – konnte es geschieden sein für immer, bevor noch viele Minuten vergingen? Sollte Grabesnacht alles einhüllen, was er hoffte und ersehnte, wofür sein Herz in warmer Begeisterung erglühte?

Seine Gedanken suchten Philipp Trevors blasses, schönes Gesicht, sein Kuß berührte im Geiste die Stirn des Einzigen, den er mit aller Innigkeit des Herzens liebte. Armer Philipp! Wie tief, wie schwer würde er trauern, wenn dereinst das Geschehnis dieses Tages ihm zu Ohren kam.

Jetzt nahte der Unteroffizier, mit ausgestreckter Hand bot er jedem der beiden jungen Leute ein Blatt Papier und einen Bleistift, dann aber trat er plötzlich zurück, sein Gesicht zeigte den Ausdruck des Erstaunens.

»Herr Neubert! – Du lieber Gott, Herr Neubert!«

Wie vom Blitz getroffen fuhr Hermann auf. »Martin Reuter, Sie sind es? Wie kommen Sie hierher? Bitte, bitte, geben Sie uns doch das Zeugnis, daß wir unmöglich mit Straßenräubern Gemeinschaft gemacht haben können!«

Der Unteroffizier sah ratlos vor Schreck von einem der beiden jungen Leute zum andern. »Hilf Himmel, da ist ja Mr. Lionel Forster! Er, der die Meinigen und mich selbst vom Verderben rettete! – O, Sir! Sir! Durch welchen Irrtum kamen Sie in diese Lage?«

Der Kommandeur war gleich im Beginn des unerwarteten Gespräches näher getreten. »Unteroffizier Reuter,« sagte er, »was schwatzen Sie da?«

Der Mann nahm sogleich eine dienstliche Haltung an, aber ebenso schnell verlor er sie auch wieder, – die Bedeutung des Augenblickes riß eben alles unwiderstehlich mit sich fort. »O, Euer Ehren!« sagte er, »dieser junge Herr hier schenkte mir, als eine Bande von Schurken mein Haus verbrannt hatte, hundert Dollar, so daß ich die Mittel erhielt, um flüchten zu können und Frau und Kinder in Sicherheit zu bringen. Er ist der Pflegesohn eines der reichsten Grundbesitzer in ganz Virginien! – Wie sollte er also wohl ein Dieb und Räuber sein?«

Jetzt bestätigte eine dritte, unverdächtige Person die Worte, welche Lionel vorhin vergeblich gesprochen hatte, der Offizier wurde stutzig. »Und dieser Bursche?« fragte er, Hermanns Blicke streifend, »kennen Sie auch ihn, Reuter?«

»Ganz genau!« nickte der Unteroffizier. »Ganz genau, Euer Ehren! Ich habe ihn schon als kleinen Buben auf dem Arme getragen, wir waren zu Hause Nachbarn.«

Der alte Herr schüttelte den Kopf, er stützte die Hand schwer auf eine Kanone, neben welcher er zufällig stand. »Diese ganze Geschichte hat mich furchtbar aufgeregt,« sagte er, »ich bin krank geworden in dem Gedanken an meinen armen Sohn. Aber unter keiner Bedingung sollen schuldlose Menschen für den Frevel anderer büßen, – die Hinrichtung ist einstweilen aufgeschoben, ich will den Sachverhalt untersuchen lassen. Reuter, bringen Sie diese Burschen in das Gefängnis und kommen Sie dann zu mir in meine Kajütte, – ich halt' es nicht länger aus.«

Er ging mit langsamen Schritten in völlig gebrochener Haltung davon, während die Zurückgebliebenen einander ansahen, zuerst wortlos, dann mit ausbrechendem Jubel. Gott hatte doch ein Wunder geschehen lassen, – doch! –

»Lionel!« rief Hermann, »entsinnst du dich des Tages, wo wir auf Umwegen in den Schuppen des Baumaterialienhändlers schlichen? – Herr Reuter war damals schwer verwundet, du selbst noch im vollen Glücke, du – –«

»Sie hielten die Bibel in der Hand und lasen meiner armen Frau daraus vor, wissen Sie es nicht mehr, Sir? – Gott sei gepriesen, daß ich heute in der Lage war, Ihnen von der Wohlthat, welche Sie mir damals erzeigten, wenigstens einiges abzutragen.«

Er drückte den beiden jungen Leuten kräftig die Hände. »Nun lassen Sie Ihre Briefe nur ungeschrieben, meine Herren! Ich will Ihre Sache bei dem Kommandeur schon vertreten. Er ist wirklich ein seelenguter Mann, aber der Verlust seines einzigen Sohnes hat ihn völlig gebrochen; wenn er nur an die Leichenbrüder denkt, verliert er seinen gewöhnlichen klaren Sinn.«

Dann blieben unsere Freunde allein. Ihnen war ein enger Raum als Gefängnis angewiesen worden, tief unter Wasser, dumpfig und beschränkt, aber doch eine sichere Stätte, in die kein Ohngefähr des wechselnden Kriegsglückes mehr den Zutritt fand. Sie sahen einander an, stumm, vor Aufregung unfähig zu sprechen.

Es war also doch gekommen, das Wunder!


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