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VII.

Lionel hatte seine Arbeiten im Büreau des Friedensrichters begonnen und zur größten, aber unausgesprochenen Freude dieses gefürchteten Herrn vollendet; Mr. Dunkan rieb sich heimlich die Hände. Auf so billige Weise war noch nie ein Beamter zu einem tüchtigen und verwendbaren Schreiber gekommen! – Der junge Mensch kannte nicht allein seine Muttersprache vollkommen genau, sondern er sprach auch ein hübsches Französisch und verstand alle lateinischen Ausdrücke, ebenso konnte er, wenn einmal ein Deutscher ins Büreau kam, den Dolmetscher machen.

Mr. Dunkans kleine Schwäche war das Verlangen, Schätze zu häufen; er hatte noch nie einen brauchbaren Schreiber erlangen können, weil er sich nicht dazu verstand, ihn gehörig zu besolden, – jetzt aber schien der jahrelange Verdruß endlich gehoben und der würdige Friedensrichter triumphierte. Lionel durfte im Büreau seine gewohnten Kleider tragen, damit aber der Friede im Hause nicht allzu sehr beeinträchtigt werde, fuhr er nachmittags wieder in die Kattungewänder und putzte Silberzeug oder trug Wasser, je nachdem die kränkliche Mrs. Dunkan gebot.

Häufig schickte sie ihn auch im Sklavenanzug durch die Stadt, um Briefe oder Besorgungen in fremden Häusern abzugeben. Die Empfänger waren Leute, welche auf Seven-Oaks Zutritt gehabt hatten, ihre jüngeren Söhne die Schulkameraden dessen, der nun mit nackten Füßen vor ihnen stand, ein Sklave, von allen verachteten Menschen der verachtetste.

Hier bot ihm eine gutmütige Seele ein Trinkgeld und trieb die Schamröte glühend in Lionels schmaler gewordenes Antlitz, dort wurde er so schnell als möglich abgefertigt, weil man weder den Besuch von ehemals ganz verleugnen, noch den Sklaven im Kattunanzug als gleichberechtigten Menschen anerkennen mochte. Frau Dunkan verfolgte mit diesem planmäßigen Vorgehen die Absicht, sich an dem zu rächen, der ihren mißratenen Sohn in allen Stücken überflügelte und dessen Unwissenheit durch sein vorzügliches Benehmen ins hellste Licht setzte.

Benjamin schlenderte müßig wie immer im Hause umher, von seiner Mutter reichlich mit Näschereien versorgt, nur auf Kurzweil bedacht, für alle und alles eine unaufhörliche Plage. Die Katze und den Hund kniff er, den Hühnern riß er die Federn aus, die Sklaven peinigte er auf jede erdenkliche Weise, nur gegen Lionel verhielt er sich einigermaßen zurückhaltend; da ließ sich nichts machen, das hatte er gleich beim ersten Versuche erkannt. Wenn aber unser unglücklicher Freund auch vor direkten Beleidigungen sicher zu sein schien, so wußte er doch eben so gewiß, daß ihn ein spionierendes Auge immerwährend beobachtete. »Lionel abeitet faul! Lionel schwatzt mit den anderen Sklaven! Er hat mir Gesichter geschnitten! Er hat, glaube ich, Geld!«

So flüsterte Benjamin seine erfundenen oder übertriebenen Bemerkungen der Mutter ins Ohr und jedesmal erfolgte eine empfindliche Strafe. Lionel wurde mit gefesselten Händen an einen Pfeiler der Veranda gebunden, er bekam kein Mittagbrot oder mußte unbedeckten Hauptes in der Sonne stehen, je länger, desto ruhiger er die Folter ertrug. Kein Wort, kein Zucken verriet den Zustand seines Innern, obwohl er bereits anfing den Mut zu verlieren. Die Füße waren hoch angeschwollen, von Blasen und Insektenstichen bedeckt, der Kopf schmerzte fast immer; Lionel dachte an den Tag, wo Philipp mündig würde, wie der Versinkende zu den fernliegenden Ufern des Stromes hinübersieht, – mit dem Gefühl, daß er sterben müsse, ehe die Rettung möglich sei. Noch vier Jahre dieses entsetzlichen Lebens? – Ach, nimmer, nimmer.

Er und Hermann sahen einander häufig, aber fast jedes Mal nur aus der Entfernung. Lionel wußte, daß sich Herr Neubert im Gefängnis befand, er war auch an dem unheimlichen Bau vorübergegangen, aber ohne den Kaufmann zu sehen; alle diese öden Fensterhöhlen starrten wie schwarze Flecke in den Sonnenschein des hellen Tages hinein, dichtverschlungenes Gitterwerk lag davor, nur selten sah ein Menschenantlitz hindurch. An jedem Morgen begrüßte Hermann den unglücklichen Vater wenigstens auf Sekunden, später ging er am Hause des Friedensrichters vorbei, um auch den Freund durch seinen Anblick zu trösten. Lionel blickte von seiner Schreiberei auf, flüchtig tauchte Auge in Auge, dann war die Begegnung vorüber.

Jetzt ließ Frau Dunkan den Knaben, der um jeden Preis aus dem Hause geschafft werden sollte, den ganzen Nachmittag Holz spalten und zwar in der Hoffnung, dadurch seine Hände für die Arbeit des Schreibens untauglich zu machen. Im glühend heißen Sonnenschein mußte er das schwere Beil handhaben, während Benjamin in der Nähe auf irgend einer vorhandenen Erhöhung saß und allerlei spöttische Bemerkungen machte.

Lionel hörte ihn nicht, oder gab so gelassene Antworten, daß kein Streit entstehen konnte. Er hatte es sich anfänglich leichter gedacht, allen Umgang mit Gebildeten, alle Bücher und geistigen Anregungen zu entbehren, aber langsam bemächtigte sich seiner Seele eine verzehrende Ungeduld, eine alles beherrschende Sehnsucht nach dem Gewesenen, Verlorenen, nach dem Leben von einst, dem eine so tiefe, so schreckliche Erniedrigung gefolgt war. Mr. Dunkan verlangte fast täglich mehr Arbeiten, denen dann ohne eine Ruhepause das Holzspalten folgte, bis die Nacht herabsank und Lionel mit blutenden Händen die Schlafstelle im überfüllten Raume aufsuchte. Dann flüsterte ihm Sammy von neuen Versammlungen, neuen Hoffnungen zu, die den Negern vorgespiegelt wurden, dann hörte er die Wudu-Beschwörungen und das Ächzen der Gepeitschten. Beinahe außer sich warf er den Kopf von einer Seite zur anderen. Sollte es immer so fortdauern? –

Dann kam in einer hellen Mondnacht eine unerwartete Freude. Sammy kehrte erst gegen Morgen aus einer Versammlung zurück, leise legte er die Hand auf Lionels blasses Gesicht. »Du!« flüsterte er. »Du! wach' auf!«

Der Knabe öffnete halb schlafend in unbestimmtem Erschrecken die Augen. »Was gibt es, Sammy?« rief er.

»Pst! es brauchen's ja nicht gleich alle zu erfahren! Ein Brief für dich, – da!«

Lionel streckte mechanisch die Hand aus. »Ein Brief?« wiederholte er. »Von wem, Sammy?«

»Das weiß ich nicht. Ein Vertrauensmann hat ihn aus Richmond mitgebracht.«

Ein erstickter Freudenschrei brach über Lionels Lippen. »Aus Richmond, sagst du, Sammy? Ach, dann kommt er von Philipp Trevor! – Aber ich werde ihn vor Tagesanbruch nicht lesen können!«

Der Mulatte fingerte in seinem Gürtel. »Ich dachte mir schon, wie ungeduldig du wohl sein würdest, armer Schelm! Sieh, da ist ein Stückchen Kerze, meine Frau hat es aus den Vorräten des geizigen Krämers stibitzt. So, und hier ist ein Zündholz.«

»Ach, Sammy, wie danke ich dir! – Was wohl in dem Briefe steht? Ich kann gar nicht erwarten, es lesen zu dürfen!«

Der breitrandige Strohhut verdeckte das aufzuckende Flämmchen und nun erkannte Lionel die feine, regelmäßige Handschrift seines Freundes. »Richtig von Philipp!« jubelte er. »O, das ist ein Festtag, Sammy! Wenn ich irgend einen Gegenstand besäße, so würde ich ihn aus Dankbarkeit dir schenken.«

Der Mulatte legte mit fragendem, ungläubigem Blick die Hand auf den Arm des Knaben. »Du besitzest etwas, das ich schwer vermisse,« raunte er. »Willst du es mit mir teilen, Lionel?«

»Bei Gott, Sammy! Was meinst du übrigens?«

»Das da!«

Und der herkulische Prügelmeister des friedensrichterlichen Hauses legte scheu wie ein bestrafter Schulknabe die Fingerspitzen auf den jetzt entfalteten Brief. »Ich kann nicht lesen, Lionel.«

»Und da wolltest du, daß ich dich unterrichte, Sammy? Von Herzen gern! Du weißt nicht, welch' einen großen Trost das für mich bilden wird! Von Herzen gern, ich wiederhole es.«

»Nun aber laß mich erst lesen, was Philipp schreibt,« setzte er dann hinzu.

Der Mulatte hielt ihm das Lichtstümpfchen und so überflog unser Freund vier gedrängte Seiten, die alle nur von Liebe, von einer wandellosen Treue sprachen. Philipp wußte, daß Lionel im Hause des Friedensrichters lebte und welche Aufnahme er gefunden hatte, es waren ihm alle, auch die unbedeutendsten Einzelheiten genau bekannt. ›Harre aus, Lionel, mein Freund, mein Bruder,‹ so schloß er, ›harre aus ohne Zweifel oder Verzagen. Der Tag, an dem du frei wirst, kommt mit Sicherheit, daran halte dich. Du darfst alsdann nicht krank, nicht am Leibe oder der Seele gebrochen sein, das bedenke wohl! Du sollst vielmehr, wenn dir alle deine Rechte zurückgegeben sind, ausruhen von den Mühen der Gegenwart, sollst recht, recht glücklich sein, dafür mußt du dich schon jetzt erhalten und schonen. Ich meine auch, es könne dir nicht so schwer werden, an mich zu glauben, liebster Lionel; gerade das unwandelbare Vertrauen ist ja das Zeichen und Siegel der Freundschaft. So ertrage denn mutig, was dir auferlegt wurde und denke nicht, daß anderen mehr Glück, mehr Gelingen beschieden sei, als dir. Ach könnten wir beide tauschen! Mich brennt die Erinnerung an dich wie Feuer, mein armer Lionel, sie verzehrt mich, quält mich in jeder Stunde, darum bitte ich dich, harre aus und hilf mir den Tag erringen, an dem ich dir alles vergelten kann. Ich bekümmere mich jetzt zum ersten Male um das Geschick der Schwarzen, um die Stimmung im Lande und den großen Gedanken des gegenwärtigen Krieges, ich erfahre, daß eine ganze Anzahl ehrenwerter Männer mit Leib und Seele gegen die Fortsetzung der Sklaverei eintritt und daß sie schon jetzt bemüht ist, den Geisteszustand der Neger zu heben und zu fördern. Nächtlicherweile unterrichten diese, zum Teil hochstehenden Leute die armen Schwarzen im Lesen und Schreiben, geben für sie ihr Geld und ihre Kräfte freudig dahin, erziehen sie zu Christen und freien, den Weißen völlig gleichstehenden Staatsbürgern. Der Weg dahin ist sehr weit, aber das Ziel ein edles, erhabenes, ein solches, dessen letzte Folgen in die Ewigkeit hinüberreichen. Der Sohn eines Predigers, mein Nebenmann in der Klasse, besorgt diesen Brief in deine Hände, liebster Lionel, er ist ein eifriger Abolitionist und macht alle nächtlichen Versammlungen mit. Auf gleichem Wege erhältst du demnächst eine Summe Geldes, die dir vielleicht kleinere Erleichterungen zu schaffen vermag und die du mit Ruhe nehmen kannst, denn sie ist weiter nichts als dein Eigentum, das zur Zeit in meinem Verwahrsam liegt. Mit Bezug auf das liebe alte Seven-Oaks kann ich dir sagen, daß sich kein Käufer finden will; die unruhigen Zeiten scheinen wohl nicht geeignet, um solche Geschäfte zu stande zu bringen. Für dein Reitpferd, den braunen Ajax habe ich glücklicherweise einen Herrn gefunden, der es gut hält und nicht aus seinen Händen gibt, bis du selbst es zurückkaufst. – Und nun lebe wohl, mein geliebter Lionel! Ich werde dir häufiger schreiben und hoffe, daß du gelegentlich antwortest, oder doch wenigstens eine Botschaft sendest. Meine Briefe zerstöre jedesmal gleich; es könnte, wenn sie entdeckt werden, über eine Reihe guter Menschen das ärgste Schicksal kommen. Bitte, vergiß das nicht. Mit altgewohnter unwandelbarer Treue

dein Philipp Trevor.‹

 

Lionel hatte halblaut gelesen und Sammy stand mit lauschendem Ohr neben ihm. »Ja,« bestätigte er, »ja, du mußt den Brief verbrennen, schon meinetwegen, hörst du! Mrs. Dunkan ließe uns beide tot peitschen, wenn sie die Sache erführe. Komm, halte das Blatt an die Flamme, dann ist alles gut.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Noch nicht gleich,« bat er. »Ich möchte die lieben Worte zweimal lesen, ich möchte sie auswendig lernen. Sammy, du hast deine Frau, die abends am Brunnen ein wenig mit dir plaudert und dich tröstet, – ich habe auf der weiten Welt niemand, das bedenke wohl. Nur noch zehn Minuten laß mir den Brief.«

Und der Mulatte schirmte geduldig während dieser Frist mit seinem Hute und dem Schatten seiner breiten Schultern das verräterische Licht, dann opferte Lionel bebenden Herzens das Blatt Papier, seinen einzigen Schatz, das teuerste Gut, welches er besaß. Die stäubende schwarze Asche wurde zerstreut und zertreten, Sammy versteckte den Rest der Kerze im Gürtel und legte sich auf das harte Bett, um womöglich noch eine Stunde zu schlafen. Lionel hatte ein Gefühl, als sei ein schöner Traum zerronnen und habe der rauhen Wirklichkeit Platz machen müssen. Es wäre ein so großes Glück gewesen, Philipps Brief behalten zu können.

Jedes Wort wiederholte er sich, jede dieser Versicherungen einer Treue, welche vielleicht auf Erden seine einzige Hoffnung bildete. Ja, Philipp würde halten was er versprach, aber war es wirklich denkbar, das Elend der Sklaverei so lange zu ertragen?

Er überblickte im Mondlicht die Reihen seiner Schicksalsgenossen. Da lagen Männer mit weißen Haaren, Leute, die sechzig und mehr Jahre zählten, – sie alle waren von jeher Sklaven gewesen und hatten keinerlei Aussicht, befreit zu werden; geduldig trugen die Armen das Elend ihres Lebens, ohne zu murren, ja häufig sogar erfüllt von einer rührenden Ergebenheit für ihre Peiniger, dankbar und treu, da wo sie hätten hassen können. Lionel verbarg das Gesicht im Kopfkissen, – er wollte sich zusammennehmen, wollte nicht weniger leisten als diese armen, vertierten Geschöpfe. Ein Gedanke besonders ging wie ein zündender Funke durch seine Seele. Wo das ganze Vaterland unter den Folgen des Bürgerkrieges so entsetzlich litt, wo die besten, edelsten Männer ihre Stellung, ja sogar das Leben einsetzten, um der Sache der Menschheit zu dienen, – sollte er allein verlangen können, in Überfluß und sorgloser Knabenfreudigkeit die Tage ohne Anteil am großen, nationalen Befreiungskampfe spielend zu verbringen? Nein er wollte sich üben im Ertragen, er wollte ausharren und das, was ihm Gott auferlegte, wie ein Mann zu Ende führen.

Schon der feste Entschluß gab gleichsam neue Kräfte. Und hatte nicht Philipp so vollständig recht, wenn er sagte: Das Vertrauen ist das Siegel der Freundschaft? –

Er schlief nicht mehr, dafür war die Aufregung zu groß gewesen, aber er war ruhiger und stärker, als am Abend vorher. Den nächsten Morgen fand sich Gelegenheit, ein Blatt Papier und ein Kouvert samt Bleistift bei Seite zu bringen und im Blätterdach des Schlafraumes zu verstecken. Sammy würde seinen Bekannten aus Richmond in einigen Tagen wiedersehen und bis dahin mußte die Antwort an Philipp geschrieben sein. Wie vieler Liebe, wie vieler Dankbarkeit sollte nicht dieser Brief den Ausdruck verleihen!

Am Nachmittag beim Holzspalten sang Lionel zum erstenmale vor sich hin. Er arbeitete schneller und leichter, er freute sich auf die Nacht, in welcher Sammy seine erste Unterrichtsstunde erhalten sollte. Das war ein befreiendes, seelenerlösendes Werk, es stellte ihn in seinem eigenen Bewußtsein hoch über das, was er früher als bloß für sich lebender, bloß das Dasein in vollen Zügen genießender Sohn des reichen Mannes gewesen war.

Sein Quälgeist verließ ihn auch heute nicht. Benjamin litt außerordentlich an Langeweile, er nahm jede Gelegenheit wahr, um sich in irgend einer Weise zu belustigen, namentlich wenn dadurch ein anderer Mensch geärgert werden konnte und so faßte er denn auch jetzt auf dem unzersägten Baumstamm Posto und schlenkerte mit den Füßen in der Luft herum.

»Du, Lionel,« begann er, »jetzt hüte dich nur, mit deinem vermeintlichen Namen hervorzutreten, denn es könnte dir Peitschenhiebe zuziehen. Skaven haben überhaupt keine Familiennamen, am allerwenigsten aber darfst du dich in dieser Zeit Forster nennen, – mein Onkel Nathanael kommt zum Besuche hierher und der würde es sich natürlich sogleich verbitten.«

Lionel horchte auf, er ließ für den Augenblick die Säge ruhen. »Wer kommt hierher, Master Benjamin?«

»Mein Onkel Nathanael Forster von Parkers-Place. Er ist ein reicher Mann, der ungeheuer viel Geld besitzt und es mit vollen Händen auszugeben liebt.«

Lionels Herz schlug schneller. Es war derselbe Mann, dessen Verschwendungssucht schon seit einem Menschenalter die schöne Farm in Kentucky zu ruinieren drohte, derselbe Mann, welcher seinen Verwalter, weil ihm dieser nie genug Geld ins Haus schaffen konnte, ganz ungescheut einen Betrüger nannte und dann die Peitsche des Beleidigten zu kosten bekam. Heute stand der Sohn seines in den Tod gehetzten Sklaven ihm gegenüber, – vielleicht kam die Gelegenheit doch, über das Längstvergangene zu sprechen und das Andenken des Toten von schimpflichem Verdacht zu befreien.

Benjamin war ohne Antwort geblieben, Lionel hatte den Burschen vollständig vergessen und schrak erst auf, als ihn dieser anredete. »Weshalb sägst du eigentlich nicht weiter, he?«

»Das ist nicht Ihre Sache, Master Benjamin.«

Und nun sprach er kein Wort mehr, Benjamin mochte fragen oder Sticheleien hinwerfen, so viel er immer wollte. Der verzogene junge Mann ging endlich gelangweilt davon und suchte seine Mutter auf; hier war er ja sicher, zu jeder Zeit ein offenes Ohr zu finden.

»Du, Mama, beobachte einmal den Lionel, ich glaube, er hat Geheimnisse, verborgene Absichten oder dergleichen. Er ist, seit ich ihm sagte, daß Onkel Nathanael kommt, plötzlich ganz anders geworden, er sang sogar und antwortete mir sehr grob.«

Das blasse Gesicht der Dame färbte sich mit schnell verschwindender Röte. »Weshalb sprichst du überhaupt mit dem Menschen?« rief sie heftig. »Geh ihm aus dem Wege, Kind!«

Sein lauernder Blick streifte den ihrigen. »Du solltest ihn einmal peitschen lassen, Mama, dann würde er schon zahm werden.«

Die Dame zuckte die Achseln. »Deines Vaters Günstling?« rief sie in scharfem Tone. »Ach, Ben, hättest du doch fleißig lernen wollen, könntest du auch französich sprechen und –«

»Schreiberdienste versehen, nicht wahr, Mama? Das wolltest du doch sagen? – Ich hüte mich wahrhaftig!«

Frau Dunkan brach in Thränen aus. »Weißt du auch, daß dein Vater dich zu einem Handwerker in die Lehre geben will, Ben? Der grämliche alte Mr. Robertson, der Tischler, soll dein Meister werden, es ist beschlossene Sache und weder du noch ich können daran etwas ändern. Wenn du wieder fortläufst, so nimmt er dich in sein Haus nicht nochmals aus, du mußt dann sehen, wo du bleibst.«

Etwas wie ein heimliches Erschrecken flog über die Züge des Knaben. »Das steht doch wohl noch nicht so ganz fest, Mama!« rief er.

Frau Dunkan hielt das Taschentuch an die Augen. »Ganz fest, mein armer Ben,« wiederholte sie. »Ganz unabänderlich fest. Gerade, daß dein Vater mir's allein gesagt hat, kennzeichnet seinen bestimmten Entschluß, – er sprach ruhig und kalt.«

Der Knabe kaute an den Nägeln. »Nur Lionels wegen!« preßte er hervor.

»Das glaube auch ich, Ben, du solltest daher den Vater bitten, dir noch Privatstunden geben zu lassen, du solltest seinen Verdruß abzuschwächen suchen. Dieser hochmütige Bursche, der Lionel, versteht alles, er kann sich benehmen wie ein Gentleman und kann spielend jede noch so schwierige Büreauarbeit bewältigen, es ärgert also deinen Vater, dich mit ihm zu vergleichen.«

Benjamins ohnehin farbloses Gesicht war sehr blaß geworden. »So?« rief er, »so, Mama? Und wenn es nun dem Vater einfiele, mir diesen elenden Sklaven zum Lehrer zu bestellen? Wenn mir Lionel die lateinischen und französischen Vokabeln beibringen müßte?«

Frau Dunkan rang die Hände. »Wäre es besser, als Tischlerbursche die grüne Schürze zu tragen und in fremden Häusern allerlei niedere Arbeiten zu verrichten, vielleicht gar Tote in die Särge zu legen? – Ach, mein armes Kind!«

Benjamin reckte mit sehr bedenklicher Miene die Glieder. »Ich will in den Krieg gehen,« sagte er, »und so schnell als möglich Offizier werden.«

Dann entfernte er sich hämisch lächelnd. Seine Mutter hatte ihm eine böse Botschaft überbracht, dafür sollte sie nun auch eine bittere Pille verschlucken. Ihren Jüngsten, ihr Schoßkind als Soldat zu wissen, das wäre der armen Frau schlimmer gewesen als selbst der Tod.

Auf dem Hofe im Sonnenbrand sägte Lionel immer noch unverdrossen das Holz für die Küche, er bemerkte auch sehr wohl, daß sich Benjamin wieder einfand, um ihm auf die Finger zu sehen, aber gewann es über sich, den Burschen ganz unbeachtet zu lassen. Jetzt dunkelte bereits der Abend, die Feldarbeiter kamen nach Hause und am Schuppen läutete die große Glocke zum Nachtessen. Sammy schwang mechanisch, als sei er selbst ein lebloses Instrument, die Peitsche, dann endlich konnten sich die Schwarzen in ihre Schlafräume zurückziehen.

Abermals kam das Lichtstümpfchen zum Vorschein, eine Schiefertafel, Griffel und Bleistift. Lionel schrieb seinen Brief an Philipp, während Sammy das kleine »i«, den leichtesten Buchstaben des Alphabetes zu malen versuchte, und wahre Glockentürme von Tütteln in die Tafel grub. Schwarze, gelbe und beinahe weiße Gesichter sahen im Kreise dem beneideten Mulatten zu, hier malte ein besonders eifriger das »i« geduldig immer wieder in die leere Luft, dort kratzte ein andrer es mit einem eisernen Griffel in die Wand.

»Lionel,« flüsterte Sammy, rot vor Aufregung, »Lionel, ich kann es schon. Siehst du!«

Das »i« mit dem ungeheuern Tüttel stand auf windschiefen Beinen da, es ließ sich mit einiger Mühe als das, was es vorstellen sollte, erkennen und Sammy ging voll Stolz an das »o,« um auch dieses seinem Wissensschatze einzuverleiben.

»Wie die Buchstaben heißen, das weiß ich schon lange,« erklärte er. »In allen Negerversammlungen werden sie uns gezeigt, damit wir lernen, die Bibel zu lesen. Du kennst sie, nicht wahr, Lionel?«

»Die Bibel? Natürlich!«

Näher in den schwachen Schimmer des Lichtes drängten sich die Wollköpfe, begieriger, fragender leuchteten die Augen. »Ist wirklich die Bibel für schwarze Menschen geschrieben?« flüsterte eine Stimme. »Haben wir denselben Gott, wie die weißen Gebieter?«

Lionel fühlte sich so tief erschüttert, wie kaum jemals zuvor. »Schafft mir eine Bibel,« rief er, »und ich will sie euch an jedem Abend vorlesen.«

Eine Hand griff in das Dach, dessen Blätterlagen die willkommensten Verstecke boten und ein abgerissenes zerlumptes Exemplar des neuen Testamentes kam zum Vorschein. Die Schwarzen waren sämtlich aufgestanden, dicht gedrängt scharten sie sich um den Knaben mit dem blassen Gesicht, der bei der Erziehung und der Denkweise des gebildeten Menschen doch einer der Ihrigen war, ein rechtloser Sklave, das Eigentum dritter Personen, die ihn foltern und mit Füßen treten durften, so viel es ihnen ihr Gewissen erlaubte.

»Lies, Lionel, lies, was für die schwarzen Menschen geschrieben ist!«

Die Brust des Knaben hob sich freier, sein Auge glänzte.

Er wollte einen guten Kampf kämpfen, wollte ausharren da, wohin ihn Gottes Fügung berufen.

Zu seinem Vortrag wählte er die Bergpredigt, bis tief in die Nacht hinein erklärte er den lauschenden Negern die Lage in der sich der Heiland befunden, die Art und Weise, wie dessen Worte für alle Zukunft erhalten und allen Menschen zugänglich gemacht wurden. »Was hier geschrieben steht, ist dir gesagt, Sammy, und euch, Nero, Achilles, Pompejus, – jedem besonders, jedem zum Troste. Ihr sollt auf diese Versprechungen bauen und Gottes Stunde erwarten, wie ich es thue. Zur rechten Zeit kommt die Hilfe.«

Sie dankten ihm alle, die meisten mit Thränen. »Willst du morgen abend weiter lesen, weiter unterrichten, Lionel?«

»Sicherlich, ihr Leute, verlaßt euch darauf!«

Das Lichtstümpfchen erlosch, der Brief an Philipp wanderte in den Ledergürtel des Mulatten und Auge nach Auge schloß sich zum Schlummer, nur Lionel wachte noch immer, ohne den freundlichen Tröster, den Schlaf, sogleich finden zu können. Alle seine Gedanken umschwebten das Grab des Mannes, der ihm ein liebevoller, nachsichtiger Vater gewesen war, – armer guter Onkel Charles, jetzt erst, nun er ihn verloren hatte, erkannte der verwaiste Knabe den ganzen Wert dieses edlen, menschenfreundlichen Herzens! Auf Seven-Oaks war jedes schwarze Kind in die Schule gegangen, jeder Erwachsene hatte ein zufriedenes, menschenwürdiges Dasein geführt, während die Sklaven des Friedensrichters gleich einer Herde seelenloser Geschöpfe dahinlebten und den Tieren näher standen, als den weißen Menschen, ihren Brüdern in der großen Völkergemeinschaft der Welt.

Wenn Onkel Charles sehen könnte, was nach seinem Tode über alle diese Unglücklichen hereingebrochen war, wenn er wüßte, daß am Portal seines Hauses ein Brett hing, mit der Aufschrift: »Diese Besitzung ist unter der Hand zu verkaufen!«

Lionel grübelte und grübelte, bis ihm die Augen zufielen. Morgen kam Mr. Nathanael Forster, das gab eine neue Aufregung, neue quälende Gedanken. Ach, wer nur erst einmal ein einziges Jahr weiter gekommen wäre, wer der Gegenwart Flügel leihen könnte! –

Und mit diesem immer wiederkehrenden ungeduldigen Wunsche der leidenden Herzen schlummerte er endlich ein. Warp, die Dogge, lag neben seinem Bette, in dem andern schlief Sammy; verstohlen warf der Mond seinen weißen Schimmer durch die Lücken des Daches, dessen vielgestaltige Bewohner aus- und einschlüpften, fliegend und kriechend, je dreister, desto lautloser die ermüdeten Menschen sich dem Schlafe überließen.

Am andern Tage war Mr. Forster angelangt und hatte mehrere schwere Reisekoffer mitgebracht; er wollte einige Wochen dableiben, eine Partie Sklaven einkaufen und dann über Richmond nach Hause zurückkehren. An diesem letzteren Orte studierte sein Neffe die medizinische Wissenschaft, der hatte kürzlich sein Examen sehr gut bestanden und nun holte ihn der Onkel ab, um in seiner Gesellschaft die Freuden einer Sommerreise zu genießen.

Mr. Nathanael wurde mit lebhafter Genugthuung empfangen, besonders der Friedensrichter drückte ihm einmal über das andre die Hand. »Old Natty,« wie er ihn nannte, besaß ja einen sehr ansehnlichen Reichtum und das machte in Mr. Dunkans Augen die Leute allemal ganz unwiderstehlich angenehm, er quartierte daher den liebenswürdigen Gast in das beste, schattigste Zimmer des Hauses, den kleinen Salon zu ebener Erde, dessen Fenster auf das Gebüsch zwischen Hof und Veranda hinausgingen; ein Neger wurde ihm zur persönlichen Bedienung beigegeben und alles aufgeboten, um dem reichen Verwandten den Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten.

Frau Dunkan bat mit gefalteten Händen ihren Sohn, sich bei dem Onkel thunlichst in Gunst zu setzen. »Vielleicht nimmt er dich als Lehrling, Ben,« sagte sie seufzend. »Du könntest Farmer werden und –«

»Pferde striegeln oder Dünger fahren, – das möchtest du wohl! Onkel Nathanael ist ein reicher Mann, er soll mir einmal eine tüchtige Hand voll Geld schenken. Von dir ist ja jetzt kein Cent mehr zu erlangen, Mama!«

Frau Dunkan weinte heftig. »Ich kann dir nichts geben, Ben, dein Vater verbietet es strenge, er verlangt Abrechnung über jeden Cent! Der Mann ist auf einmal wie verändert, er nennt dich den Schandfleck seines Hauses.«

»Weil der heuchlerische Lionel ihm schmeichelt, wo er kann. Weißt du was, Mama? Onkel Nathanael sieht den Burschen immer so aufmerksam an, daß es mir jedesmal bemerkbar wird. Vielleicht will er ihn kaufen.«

Frau Dunkan schüttelte den Kopf. »Papa läßt ihn ja nicht fort, Kind! Nein, da ist nichts zu hoffen, du mußt sehen, deinem Onkel zu gefallen, dann nimmt er dich möglicherweise mit nach Kentucky. Wer weiß, was daraus Gutes und Nützliches hervorwachsen könnte. Onkel Nathanael hat keine Söhne, vielleicht adoptiert er dich.«

Benjamin wandte sich ab. Hinauszuziehen auf das platte Land, wo es keinen Konditor gab und wo man keine Puddings und Gelees speiste, das erschien ihm sehr wenig verlockend, dennoch aber erkannte er auch wieder ganz klar, daß ihm der Entschluß des Vaters den Boden unter den Füßen wegzog. Zum alten Mr. Robertson sollte er in die Lehre gegeben werden, – ach, ja wohl, er bedankte sich schön. Die knöchernen Finger des närrischen Alten fuhren den Lehrlingen bei jeder Gelegenheit um die Ohren, das wußte er aus den Erzählungen eines ehemaligen Schulkameraden, der drei Leidensjahre in Robertsons Werkstatt verbracht hatte.

Aus der Geschichte konnte nichts werden. Es war besser, auf- und davon zu gehen, ohne Abschied natürlich, dann würde die Mutter schon Himmel und Erde in Bewegung setzen, um nur erst einmal ihr Küken ins Nest zurückzubringen. Papa hatte ja Geld genug, gegen dreihundert Sklaven wenigstens und in der Stadt mehrere Häuser, – weshalb sollte man also immer arbeiten und sich plagen? Das fiel ihm wahrhaftig nicht ein.

Er ging fort, um irgendwo bei seinen Kameraden ein paar Cents zu leihen. Solch ein ganzer Tag ohne Bonbons oder Schokolade erschien ihm wie eine unerträgliche Last.

Der Friedensrichter und Mr. Nathanael Forster saßen unterdessen plaudernd bei einander und die Rede kam natürlich sehr bald auf den meuchlings gemordeten Besitzer von Seven-Oaks, Mr. Forsters Schwager. Ein Wort gab das andre und sehr bald hatte der Gast erfahren, wer der junge Sklave sei, dessen hübsches Äußere ihm vom ersten Augenblick her so seltsam bekannt vorkam. Eine rote Lohe schlug über sein Gesicht, – der Sohn des Mannes, dessen Peitschenhiebe ihn einst vor Jahren so empfindlich getroffen hatten, daß er wochenlang das Zimmer hüten mußte, ohne von irgend einem Menschen gesehen zu werden!

Er ließ diese Erinnerung weislich unberührt, aber der Groll hatte neue Wurzeln geschlagen. So lange Lionel im Büreau war, kam er nicht hinein; der ruhige, furchtlose Blick des Knaben ließ ihn glauben, daß dieser alles wisse, – am liebsten hätte er den unbequemen Wisser einer erlittenen Schmach ins Pfefferland spediert.

Lionel nahm von ihm keine Notiz. Mr. Forsters Aussehen verriet den Lebemann, die Stimme sogar den Liebhaber feiner Weinsorten; er verkehrte mit den Sklaven in sehr gebieterischer, unfreundlicher Weise und hatte, nachdem er kaum drei Tage im Hause gewesen, schon alle, die er erreichen konnte, geohrfeigt.

Lionel und er standen einander in stummer, aber vollkommen bewußter Fehde gegenüber, der eine der Todfeind des anderen, um jenes Geheimnisses willen, das beide kannten und das den Groll nicht schwinden ließ. Unser junger Freund hielt sich in vorsichtiger Entfernung, er fürchtete, durch irgend eine Voreiligkeit seiner eigenen Sache zu schaden, besonders da in den letzten Tagen wieder ganz neue unerwartete Überraschungen stattgefunden hatten. Sammy besuchte fast jede Nacht die geheimen Versammlungen und kürzlich brachte er abermals für Lionel einen Brief, zwar nicht von Philipp Trevor, aber von einem, der dem Knaben beinahe ebenso viel galt, als jener. Hermann war es, der einige ermunternde Worte schickte und von der nahen Vollendung aller Vorbereitungen zur Flucht Bericht abstattete. »Wenn nur mein Vater erst aus dem Gefängnis befreit wäre!« schrieb er. »Das ist's, was noch viele Mühe, viele Sorgen kosten wird! Kannst du es möglich machen, mein guter Lionel, so komme nach zehn Uhr abends einmal an die Pforte, welche das Besitztum des Friedensrichters von der offenen Straße trennt. Ich möchte über einen so bedeutsamen Gegenstand, wie es der gedachte ist, nicht gern schreiben, sondern lieber sprechen. Sammy und sein Hund werden dir kein Hindernis in den Weg legen.«

Lionel sah auf. Der Mulatte schaukelte an seinen Fingerspitzen den schweren Pfortenschlüssel, er lächelte bedeutsam, ohne zu sprechen.

Lionels Auge blitzte. Er und der Prügelmeister waren längst die vertrautesten Freunde geworden, er duzte sogar den gewaltigen Beherrscher der Peitsche und stand bei demselben in größter Gunst; jedesmal wenn Sammy einen neuen Buchstaben erlernt hatte, schwor er seinem geduldigen Lehrer, daß der Tag der Wiedervergeltung kommen und daß alles ausgeglichen werden würde. Einen Teil der Schuld mochte er wohl durch die Überlassung des Schlüssels heute schon abtragen wollen, wenigstens blinzelte und lächelte er immerfort und drehte das unförmliche Instrument um die Finger.

»Sammy,« flüsterte Lionel, »darf ich gehen?«

»Wenn du versprichst, wiederzukommen, – ja!«

Lionel lächelte. »Natürlich, Sammy! Und könnte ich noch in dieser Nacht frei werden für immer, so sollte es nicht geschehen, wenn ich, um das Ziel zu erreichen, einen Freund verraten müßte.«

Er bezeichnete in einer mündlichen Antwort, die der Mulatte überbrachte, den nächsten Abend als Zeitpunkt des Zusammentreffens und schlich dann, nachdem die Stunde gekommen war, mit dem Schlüssel in der Tasche hinaus zur Pforte. Ein halbes Dunkel umhüllte rings die Negerwohnungen und das Feld mit seinen Bäumen und Sträuchern, kein Mensch war zu entdecken, keine Stimme wurde gehört, – Schritt für Schritt wanderte unser Freund geräuschlos vorwärts und öffnete dann die Pforte, welche er hinter sich wieder verschloß.

Frei! Die Welt lag offen vor ihm! – Welch' ein Gefühl für den Sklaven!

Aber es durchbebte ihn nur unwillkürlich, es versuchte ihn keine Sekunde. Nur ein Ehrloser hätte den armen, vertrauenden Sammy aus Selbstsucht ins Verderben stürzen können.

Ein Schatten löste sich von der gegenüberliegenden Seite der Straße, eine schlanke Knabengestalt kam in Sprüngen geflogen. »Lionel! Mein armer Lionel!«

»Hermann! – Hast du mich wirklich auch jetzt noch lieb, trotzdem daß du weißt, daß in meinen Adern ein Tropfen des verachteten Negerblutes fließt?«

Der Sohn des Gefangenen lächelte durch Thränen. »Lionel, das fragst du nicht im Ernst!« sagte er mit bebender Stimme.

Sie umarmten und küßten einander, die beiden Unglücklichen, denen alles geraubt war, seit sie sich zuletzt auf Seven-Oaks die Hände drückten. Eine Pause verging, ehe die Unterhaltung recht in Fluß kam; wenn die Herzen übervoll sind, so pflegt es an zusammenhängenden Worten zu fehlen, erst nach dem anfänglich überwältigenden Eindruck wurden beide ruhiger und nun bat Hermann den Freund, ihn zum Gefängnis zu begleiten. »Mein armer Vater erwartet mich,« sagte er, »ich möchte ihm den einzig gebliebenen Trost nicht rauben!«

»Kommst du denn zu ihm?« fragte Lionel.

»Ach nein, aber ich gehe in jeder Nacht unter dem Fenster vorüber, – wir haben uns eine förmliche Briefpost eingerichtet. Vater kennt den Fluchtplan und erwartet nur die Benachrichtigung, wann er ausgeführt werden kann. Das Schiff liegt jetzt, beinahe ganz geladen, in der umbuschten und verborgenen Bucht eines Flußarmes, den die Gärten mehrerer deutscher Gesinnungsgenossen begrenzen; sobald Vater frei ist, erhältst du einen Wink und wir reisen ab.«

Lionel erstickte einen Seufzer. »Wie komme ich ohne Sammys Schlüssel aus der Pforte?« stammelte er ganz verwirrt.

»Unter den Freunden ist ein Schlossermeister, der an dem betreffenden Abend das Schloß öffnen wird! – Deinetwegen beruhige dich nur vollständig; wenn es eben so leicht wäre, meinen Vater aus dem Gefängnis zu erlösen, als dich aus dem Privatgebiet des würdigen Friedensrichters, dann wäre die Sache ein Kinderspiel.«

Lionel atmete tiefer. »Und wie wollt ihr das Befreiungswerk ausführen?« fragte er. »Habt ihr schon einen Plan?«

Hermann nickte. »Einen sehr gewagten noch dazu, aber es bleibt eben keine Wahl. Wir bedürfen deiner zur Ausführung desselben ganz unbedingt.«

Lionel war sehr erstaunt. »Meiner?« fragte er.

»Ja, das heißt, wenn du den Mut fühlst, auf Tod und Leben für meines armen Vaters Befreiung einzutreten.«

Lionel reichte ihm plötzlich die Hand. »Da hast du mein Wort!« sagte er. »Wollt ihr das Gefängnis stürmen?«

»Wir wollen durch die Abzugskanäle hineingelangen.«

»Hermann!«

»Wie ich dir sage, Lionel! Die Kanäle sind ja breit und hoch genug, um einem kriechenden Mann den Durchgang zu gewähren.«

»Aber schauerlich!« meinte unser Freund.

»Das freilich, – ich habe ja auch unser Unternehmen ein Wagnis genannt, Lionel! Solltest du wohl bereit sein, mit noch zwei anderen Verbündeten und mir selbst in die Kanäle hinabzusteigen, – straßenweit, mitten in der Nacht! – um meinen armen Vater zu retten?«

Lionel nickte lebhaft. »Ganz gewiß, du darfst mit vollkommener Sicherheit auf mich zählen, Hermann. Wie aber, wenn die Befreiung gelungen wäre und dann am Ausgange des Kanales eine unvermutete Entdeckung stattfände? – Es könnten Leute vorübergehen.«

Hermann schüttelte den Kopf. »Das ist alles vorgesehen,« antwortete er. »Mit uns in die Tiefe gehen Herr Behrens und der Schlossermeister, von dem ich dir sagte, während zwei andere Verbündete in der Nähe der verschlossenen Kanalroste Wache halten. Ist kein Verrat zu fürchten, so lassen sie uns schleunigst an die Oberfläche gelangen, während im entgegengesetzten Falle ein Warnungssignal verabredet worden ist. Sind wir erst einmal so weit, dann kann es uns nicht fehlen.«

Sie waren während dieser Unterhaltung bis in den Schatten des Gefängnisses gelangt und nun winkte Hermann mit der Rechten, um den Freund zum Schweigen aufzufordern. Erst mußte sich zeigen, ob auch kein Verräter in der Nähe sei, kein lebendes Wesen, das möglicherweise später Zeugnis ablegen könne.

Sie schlichen durch das Halbdunkel der Sommernacht geräuschlos vorwärts und untersuchten alle Thorfahrten, alle Hecken und Kellerzugänge der Umgebung, – Gottlob! es war niemand anwesend.

Dann hielt Hermann die Hände an den Mund und das Prusten und Fauchen eines gereizten Katers klang täuschend ähnlich durch die Nacht; nur eine halbe Minute hindurch, aber doch lange genug, um in allen Räumen des Gefängnisses gehört zu werden. In der ersten Etage erschien hinter den Eisengittern ein wachsbleiches, vom Bart dicht umrahmtes Männerantlitz, eine Hand sandte Grüße auf die Straße hinab und schob dann durch die verbogenen, unregelmäßigen Stäbe ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das sich an einer dünnen Schnur langsam flatternd hinabsenkte, um unten von Hermanns Händen begierig erfaßt und in Sicherheit gebracht zu werden. Sekunden vergingen, dann enthielt die Schlinge einen Brief, der hinaufwanderte, eine tüchtige Schnitte Fleisch mit Brot und ein plattes Likörfläschchen, – noch ein leichtes, kaum wahrnehmbares Zeichen und der Gefangene holte mit kräftigen Zügen seinen Schatz zu sich empor, während Hermann und Lionel auf die andere Straßenseite hinüberschlüpften, um noch einmal zu sehen und gesehen zu werden. Wieder fauchte der Kater, das hieß »Gute Nacht!« – dann verschwanden die schmiegsamen Knabengestalten wie Schatten an der nächsten Ecke.

»So mache ich's in jeder Nacht!« raunte Hermann. »Vater bekommt einen langen Brief, an dem die Mutter, wir Kinder und die deutschen Freunde gemeinschaftlich schreiben, ein Blatt Papier zur Antwort und an Lebensmitteln, was wir erlangen können. Gott sei gelobt, es ist noch jedesmal glücklich ausgeführt, mich hat kein Auge gesehen.«

»Steht denn nirgends ein Wachtposten?« fragte Lionel.

»Die blasse Furcht der Umwohnenden versieht hinlänglich Wächterdienste. Wer den Namen des Vigilanzkomitees nur nennen hört, der macht schon kehrt und sucht sich in Sicherheit zu bringen.«

»Aber nun laß' uns von der geplanten Befreiung sprechen,« setzte er dann rasch hinzu. »Auf dich können wir zählen, Lionel?«

»Wenn ihr nicht verlangt, daß ich Sammy ins Unglück stürze, ja.«

Hermann nickte. »Das habe ich dir bereits auseinandergesetzt,« fügte er hinzu. »Du kommst an dem Abend, welchen ich dir bezeichnen werde, in unser Haus und sobald die Straßen menschenleer sind, öffnen wir den nächsten Zugang zu den Kanälen. Ihrer zehn Verbündete helfen uns, das mühselige Werk auszuführen, indem sie Wache halten und ganz besonders durch Zeichen von oben her den Weg zum Gefängnis andeuten. Ohne diesen Beistand würden wir uns in den vielen Ecken und Winkeln der Straßen allzuleicht verirren, denn es darf ja durchaus kein Licht gebrannt werden.«

»Ich verstehe,« nickte Lionel. »Auf mich könnt ihr mit Sicherheit bauen.«

»Das lohne dir Gott!« bebte es über Hermanns Lippen. »Sieh, wir brauchen dich ganz notwendig, denn unter allen unseren Freunden sind nur zwei, Herr Behrens und der Schlossermeister, die nicht für den Weg durch die engen Zugänge zu breit und auch für die ganze anstrengende Unternehmung noch geschmeidig genug wären. Von unserer Wohnung bis zum Gefängnis sind mindestens tausend Schritte zu durchmessen.«

»Schön, – und wenn wir das Ziel erreicht haben, was dann?«

»Das will ich dir sagen. Die alte Brauerei liegt auf einem bedeutend erhöhten Punkte, nicht wahr? Ihre Keller haben also mit den Kanälen etwa das gleiche Niveau; von den Eisschachten geht ein breiter gewölbter Gang bis zu den städtischen Abzugssielen, – dahinein müssen wir dringen. Mein Vater wird zur betreffenden Stunde im untersten Keller sein, das ist das Gefängnis des Gefängnisses, – es stehen fünf Fuß Wasser darin.«

»Und dahinein sperrt man die unglücklichen Opfer?«

»Als Strafe für Vergehen gegen die Hausordnung, ja.«

Lionel drückte kräftig seine Hand. »Verlasse dich auf mich, Hermann, – was ich vermag, um deinem Vater zu helfen, das soll wahrhaftig geschehen.«

Sie waren jetzt bei der Gartenpforte wieder angelangt und trennten sich, nachdem Lionel noch von Philipp Trevors Brief erzählt hatte. »Mir ist der frühere Mut einigermaßen zurückgekommen,« sagte er. »Erst im Unglück erkennt man seine wahren Freunde und lernt die Güter des Lebens wirklich schätzen. Auf Wiedersehn, Hermann!«

»Gute Nacht! Gute Nacht!«

Die große Pforte schloß sich und Lionel gelangte ungefährdet bis in seine Hütte. Der Mulatte wachte noch, er nahm mit einem Seufzer der Erleichterung seinen großen Schlüssel wieder in Empfang. »Du bist ein ehrlicher Mensch,« sagte er. »Nicht jeder wäre wiedergekommen.«

»Hast du gezweifelt, Sammy?«

»Nein, nein, das nicht gerade. Aber – selbst ausgepeitscht werden und selbst auf dem Felde Baumwolle pflücken, das möchte ich doch lieber nicht.«

Lionel reichte ihm die Hand. »Meinetwegen sollst du es ganz gewiß nicht, Sammy!«

Der Mulatte rückte ihm näher. »Du,« flüsterte er, »in der nächsten Nacht kommt wieder jemand aus Richmond, um hier in einer Versammlung zu sprechen.«

»Bist du denn selbst auch unterwegs gewesen, Sammy?«

»Gewiß. Man will doch hören, wie die Dinge stehen.«

»Aber ich hatte ja den Schlüssel!«

Der Gelbe lächelte. »Es sind wenigstens noch ihrer zwanzig vorhanden, aber davon weiß Mr. Dunkan kein Wort. Ich bin nur verpflichtet, den mir anvertrauten immer am Gürtel zu tragen. Er ist gestempelt, wie du wohl gesehen haben wirst.«

»So! So! – Was man nicht alles erfährt. Also morgen kommt jemand aus Richmond?«

»Ja, ein Geistlicher. Er wird für die Schwarzen eine Bibelstunde halten, vielleicht auch deinen versprochenen Brief mitbringen. Sollte nicht Geld dabei sein, Lionel?«

»Von dem ich dir sicherlich geben werde, Sammy! Willst du mich nicht in die Versammlung mitnehmen?«

Der Mulatte schüttelte den Kopf. »Das wäre zu gefährlich,« meinte er. »Die Misses will morgen, dem reichen Gaste zu Ehren, eine Gesellschaft geben, die halbe Stadt ist eingeladen, – da könntest du möglicherweise gebraucht werden.«

Lionel wechselte die Farbe. »Weshalb glaubst du das Sammy?«

»Cassy sagte mir's, sie weinte bitterlich, die arme Seele. ›Mein schöner, feiner junger Herr soll morgen den Leuten die Hüte aus der Hand nehmen, vielleicht ihre Stiefel abstäuben oder ihnen den Wagenschlag öffnen. Armer Lionel, das wird ihn furchtbar kränken!‹«

Unser Freund wandte sich ab. »Auch das geht vorüber,« antwortete er. »Frau Dunkan will mich denen, die früher als Gäste nach Seven-Oaks kamen, jetzt im Zustande der tiefsten Erniedrigung zeigen, es soll ihr aber doch nicht gelingen, irgend eine unliebsame Szene herbeizuführen.«

Er dachte an die nahe bevorstehende Flucht, an das entsetzliche Los, welches Hermanns Vater betroffen hatte, und blieb ruhig bei der Aussicht, einmal den Freunden des verstorbenen Mr. Charles Trevor gegenüber den Bedienten spielen zu müssen. »Vielleicht geben sie mir sogar Trinkgelder,« dachte er, »dann kann ich Sammy ein Geschenk machen.«

Seine Gedanken beschäftigten sich mit Philipps Brief. Welch' ein Jubel würde es doch sein, diesen teuren Freund wiederzusehen! Er hatte von sich selbst neulich fast gar nichts geschrieben, von seinem Vater keine Silbe. Gewiß sprachen die beiden mit einander nur das unerläßlichste, während die Herzen für immer getrennt waren. Ob wohl Mr. Manfred Trevor ein anderes, als nur dies Schicksal wirklich verdiente?

Er hütete sich, diese dunklen Pfade weiter zu verfolgen. Sammy schlief bereits und auch er schloß die Augen, – wenigstens hatte doch das dumpfe unerträgliche Einerlei des ersten Anfangs jetzt aufgehört, es gab zwischen ihm selbst und der Außenwelt wieder lebendige Beziehungen, das genügte schon, um ihn geistig im Gleichgewicht zu halten.

Der andere Morgen brachte die gewohnte Arbeit im Büreau und dann gab es vollauf in der Küche zu thun. Lionel mußte Flaschen aus dem Keller holen und abstäuben, Messer schleifen, Früchte pflücken und Gläser putzen; als die ersten Equipagen vorfuhren, wurde er im frischgewaschenen Kattunanzug hingeschickt, um den Tritt herabzulassen.

Diese oder jene ältere Dame streichelte mitleidig sein blasses Gesicht. Auf Seven-Oaks war er der beneidete Erbe, – hier ein Sklave, dessen nackte Füße im Sand der Straße standen. »Armes Kind,« hörte er die halblauten Stimmen, »wahrlich, das ist ein hartes Los!«

Es kamen Offiziere, die häufig Onkel Charles auf Jagdzügen begleitet hatten, Beamte und Professoren, – Lionel nahm ihnen Hüte und Überröcke ab, er bürstete denen, welche zu Fuß gingen, die Kleider. Einer unter allen legte seine Hand auf die Achsel des bedauernswerten Knaben, – der Prediger der Stadtkirche. »Vor den Augen Gottes gibt es keine Freie noch Sklaven, mein Sohn!« sagte er gütig, »Ihm sind alle Sterblichen gleich!«

Und Lionel dankte ruhig; er hatte die erste gewaltige Bitterkeit des Schmerzes überwunden, oder wenigstens doch bis auf einen kleinen Rest glücklich besiegt. Es gab nur noch einen Gedanken, der ihn rebellisch machte. Wenn Mr. Nathanael Forster irgend einen persönlichen Dienst von ihm verlangte, dann wollte er sich widersetzen. Diesem Manne einen Gegenstand zu reichen, oder gar seinen Bedienten zu spielen, – nein, das wäre unmöglich gewesen.

Vorläufig schien nichts dergleichen zu drohen. Die Gäste bewegten sich durch Haus und Garten, im Parlour und in den beiden Empfangssälen, sie musizierten, lachten und plauderten, sie sprachen vom Kriege und labten sich an den gebotenen Delikatessen, aber niemand beachtete den Sklaven, der thunlichst im verborgenen blieb und so viel als möglich überall die schwarze Hausdienerschaft vorschob. Mr. Nathanael Forster war von den vornehmsten Besuchern derartig umlagert, daß ihm gar keine Zeit blieb, sich irgendwie einem anderen Interesse zuzuwenden.

Was den liebenswürdigen Benjamin betrifft, so versorgte er sich an diesem Abend mit allen möglichen Leckerbissen auf das ausgiebigste, er trank hier ein Glas Sekt und aß dort eine Pastete, bis sein blasses Gesicht wie Karfunkel erglänzte und das immer rege Verlangen nach Bosheiten aller Art auf den Höhepunkt stieg. Onkel Nathanael schien niemals, wenn er sich an ihn heranmachte und deutliche Winke fallen ließ, für seinen Herrn Neffen irgend welches Gehör zu haben, – sollte man ihm nicht dafür einmal von Rechts wegen eine kleine Strafe zukommen lassen?

Und Ben trank einstweilen, um sich die Sache besser zu überlegen, in einem stillen Winkel den Rest einer Flasche, welche er vom Büffett hatte verschwinden lassen. In der einen Hand hielt er ein riesiges Stück Torte, und brachte so unter dem Doppeleinfluß wohlthuender Wirkungen seine Entschlüsse zu einer Höhe, die ungeahnte Erfolge zeitigen sollte. Vorläufig schlief er jetzt ein wenig; es war elf Uhr vorüber, das Abendessen beendet und die allgemeine Fröhlichkeit auf den Gipfelpunkt gestiegen. Später würde sich das weitere finden.

Lionel trug indessen mit Hilfe der Hausdienerschaft das Tischgerät in die Küche. In den Sälen war ein Orchester errichtet, man tanzte und bedurfte im Augenblick der Sklaven fast garnicht, er konnte also dem brennenden Verlangen, einmal nach dem Oberaufseher zu forschen, gerade in diesem Augenblick nachgeben. Sammy wollte um zwölf Uhr zu Hause sein und so durfte er darauf rechnen, ihn jetzt gegen halb eins sicherlich zu treffen.

»Cassy,« bat er seine alte Freundin, »willst du mich, wenn ich gerufen werden sollte, aus meiner Hütte herbeiholen? Ich möchte mich einen Augenblick fortstehlen.«

Die Alte streichelte ihn und tätschelte seine Hände. »Massa Lionel ist müde,« raunte sie. »Ich weiß schon! Ich weiß schon! Junges Blut will Schlaf haben. Mutter Cassy holt mit ihren alten Füßen den guten Massa Lionel herbei, wenn Misses ruft.«

»Danke, Alte, danke! Ich komme auch gleich wieder.«

Er schlich sich über den Hof zu den Negerhütten und traf hier den Mulatten, der mit mehreren andern gerade jetzt nach Hause gekommen war. Sammy hielt einen Brief und ein vielfach gesiegeltes leinenes Päckchen hoch empor. »Der Geistliche hat mir's für dich gegeben, Lionel,« sagte er. »Es ist schwer, – du bist wahrhaftig ein glücklicher Mensch.«

Lionel lächelte. »Dies Glück sollst du sogleich teilen, Sammy! Gib mir nur erst einmal den Brief, er ist mir wichtiger als alles andre zusammen.«

Das Licht, – ein neues Stückchen aus dem Vorrat des Krämers – wurde wieder entzündet und Lionel las, was ihm sein Freund mitteilte. »Zwei Monate von deinen vier Prüfungsjahren sind verstrichen,« schrieb Philipp. »Das ist schon eine Errungenschaft, schon etwas, das wir hinter uns gebracht haben. Horche dem Ticken der Uhr, mein armer Lionel! Es ist eine bestimmt begrenzte Anzahl von Schlägen, welche sie bringen darf, bis der Morgen meines einundzwanzigsten Geburtstages hereinbricht, eine bestimmt begrenzte Anzahl, die jeder einzelne dieser leisen Laute verringert und die keine Macht der Erde jemals ausdehnen könnte, – das vergiß nicht, daran halte dich immerdar.

Und drängen Nebel noch so dicht
Sich vor den Blick der Sonne,
Sie wecket doch mit ihrem Licht
Einmal die Welt zur Wonne!

»Ja, Lionel, zur Wonne! Wenn wir beide bei einander leben, als Brüder, als unzertrennliche Freunde, dann ist vergessen, was dahinten liegt. Und vielleicht kommt ja das Hauptsächlichste noch bedeutend früher! Der Norden fängt an, den Sieg zu gewinnen, die Gegner der entwürdigenden Sklaverei heben kühner das Haupt! – Gott gebe ihren Waffen den dauernden Erfolg, dir erhalte er die Geduld, welche auf seine Hilfe baut und im Leiden den festen Mut des guten Gewissens bewahrt. Dies wenige Geld verwende zu deiner Annehmlichkeit, um dich körperlich zu stärken oder dir kleine Erholungen zu verschaffen, grüble auch nicht, woher ich es nehme, sondern überlasse das mir, den du hoffentlich als gewissenhaft und redlich kennst. In jedem Monat wird dir ferner, wenn es Gottes Wille ist, dieser Theil deiner Renten aus den Einkünften von Seven-Oaks durch befreundete Hände pünktlich zugestellt werden, – meine Briefe natürlich viel häufiger. Und nun: Gott befohlen, liebster Lionel!

»Mit Gruß und Handschlag dein brüderlich treu ergebener
Philipp.«

Nachschrift: »Alles verbrennen, so lieb dir mein Leben ist, Lionel! Und noch eins, eine bange Frage. Gewinnst du es über dich, ihm nicht zu fluchen? – Erlasse mir den Namen, du siehst in mein Herz und verstehst mich ganz.«

 

Lionels Augen standen voll Thränen. Armer Philipp! Sein zart empfindendes Gewissen härmte sich für den Schuldigen, er bat bebenden Herzens um Frieden, auch wo er das begangene Verbrechen so vollständig verurteilte.

Sammys leise Stimme weckte unsern Freund aus seiner Versunkenheit. »Du hast noch immer das Geld nicht gezählt, Lionel!«

Rechts und links drängten sich die schwarzen Gesichter. Geld! Welch ein Gedanke des Glückes! – Die armen Schelme besaßen bei dem harten Gebieter nie einen Cent, sie hielten den, dem das schwere Päckchen gehören sollte, für unermeßlich reich.

Lionel nahm die Hüllen ab und das blitzende Gold lag offen in seiner Hand. Hundert Dollar! – er wußte es schon aus dem Briefe. »Da, Sammy, das ist dein Anteil, fünfundzwanzig rote Stücke! Und nun kommt her, ihr andern, – jeder eins! Aber das Geheimnis muß euch heilig sein, ihr dürft von der Sache keinem Menschen erzählen!«

Wie sie jubelten, die armen Geschöpfe, wie sie den Knaben umdrängten und sich bemühten, seine Hände zu küssen. Von ihnen sollte niemand etwas erfahren, nein, nein, er konnte ihrer Verschwiegenheit vollkommen vertrauen.

Ein Messer wollte der eine kaufen, einen Sonntagshut der andre und eine Flasche Wein der dritte. Sein alter Vater war so kraftlos, er konnte nichts mehr beißen, nichts vertragen, – nun sollte er einmal eine Stärkung haben.

Lionel legte in diese Hand verstohlen noch einen Dollar, dann wandte er sich zu dem völlig wortlos dasitzenden Mulatten. »Nun, Sammy, du bist ja ganz verstummt! Was fehlt dir denn so plötzlich?«

Der Gelbe sah auf. »Ich bin so glücklich, Herr, ich –«

Lionel lächelte. »Weshalb nennst du mich denn ›Herr‹? Sammy?«

»Weil du wirklich ein solcher bist! Siehst du, die Freude ist gar zu groß! Ach, ich könnte tanzen, – tanzen, daß die Wände beben!«

Jetzt lachte Lionel laut heraus. »Was willst du dir denn für das Geld so außerordentlich Beglückendes kaufen, Sammy?«

Der Mulatte schüttelte den Kopf. »Ich will nichts kaufen, du! Aber daß ich dir's nur gestehe, der Krämer drüben an der Ecke hat sich mit meiner Frau ganz und gar erzürnt, er sagt, seit sie verheiratet ist, taugt sie nichts mehr, und nun möchte er sie gern vermieten, denn zum Verkaufe sind ihm die Sklaven augenblicklich nicht hoch genug im Preise. Für zwanzig Dollar per Monat will er meine Frau hergeben.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht so recht, Sammy! – Du kannst sie ja doch unmöglich von ihm mieten!«

»Ich? Nein, sicherlich nicht, wohl aber sie selbst. Er vermietet meine Frau, indem er sie ihrem Schicksal überläßt und für die bewilligte Freiheit zwanzig Dollar monatlich bezahlt nimmt.«

»Sammy!«

»Ganz gewiß, du! Dergleichen Fälle sind sehr häufig. Wo dir schwarze Handwerker begegnen, da wurden sie von ihren Gebietern an sich selbst vermietet, das heißt, sie zahlen Pacht für ihre Freiheit. So will es auch meine Frau machen; als geschickte Köchin kann sie sechzig und mehr Dollar in einem Monat verdienen. Freilich,« setzte er dann seufzend hinzu, »ihr Eigentümer wird sie sehr bald im Preise hinauftreiben, aber für den Augenblick sind doch die Mittel da, um erst einmal loszukommen. Etwas läßt sich bei vernünftiger Wirtschaft immer zurücklegen, das wächst und wächst, bis es genügt, um einen guten Preis zu bieten – erst kauft sich meine Frau los, dann folge ich nach.«

Lionel war im Augenblick ganz sprachlos. Die Schwarzen wurden an sich selbst vermietet! Um arbeiten und sparen zu dürfen, mußten Gottes farbige Kinder den Weißen erst einen beliebig angesetzten, hohen Preis zahlen! – –

Wie sorglos hatte er dahin gelebt, ohne von derartigem auch nur eine oberflächliche Kenntnis zu erlangen. Ihm graute vor der Schuld, die seit Generationen gehäuft worden war und der nun die Abrechnung bevorstand. »Sammy,« sagte er, »wenn du mir jemals aus deinen Versammlungen wieder Geld mit nach Hause bringst, oder wenn ich auf irgend eine andre Weise in den Besitz desselben gelange, so soll dir mein Beistand gewiß sein!«

Der Mulatte bückte sich über seine Hand und küßte sie, ehe er es verhindern konnte. »Dein Sklave wollte ich wohl zu jeder Stunde werden, Lionel,« rief er. »Du könntest gewiß keinen armen Nigger schlecht behandeln!«

Lionel reichte ihm die Hand. »Gewiß nicht, Sammy! Gott gebe, daß ich je in die Lage käme, dir das zu beweisen! – Und nun gib her, ich muß den Brief opfern.«

Das Blatt, dessen Inhalt er sich zu eigen gemacht hatte, wurde über die Flamme gehalten und dann die Asche in alle vier Winde zerstäubt. Mit Sammys Hilfe verschaffte sich Lionel aus einem breiten Streifen Baumwollenstoffes eine Art von Gürtel, in den das Geld hineingeknotet wurde, und den er dann unter seinen Kleidern um den Leib band. Die alte Cassy hatte noch nicht gerufen, es war also Zeit genug vorhanden, um diese dringende Angelegenheit vorläufig in Ordnung zu bringen, denn es gab für die fünfzig Dollar, welche noch in Lionels Besitz geblieben waren, kein andres Versteck, als das an seinem Körper. Vor aller Augen das verführerische Gold im Dache zu bergen, wäre kaum ratsam und wohl auch den armen ungebildeten Schwarzen gegenüber nicht recht gewesen, – sie hätten unmöglich der Versuchung widerstehen können.

Lionel befühlte sich von allen Seiten. »Ist nichts zu sehen, Sammy?«

»Garnichts,« bestätigte der Mulatte.

»Nun, dann begib dich nur in dein Bett, ich muß wohl bis zum Schluß der Gesellschaft ausharren. Gute Nacht, Sammy!«

Der Profoß ließ die Dollars in den Händen rasseln. »Zu Bette gehen?« sagte er lächelnd. »Jetzt? – Nein, ich will meiner Frau ein Zeichen geben und sie noch einen Augenblick herauslocken. Die Arme, sie soll sich mit mir freuen.«

Lionel nickte nur, dann ging er dem Hause zu, das Herz voll eines stillen, unendlich beglückenden Empfindens. Die letzten fünfzig Dollar mußte er notwendig behalten, um nicht, wenn die Flucht gelang, der Familie Neubert zur Last zu fallen, sonst würde er auch dieses Geld noch unter die armen Schwarzen verteilt haben. Auch im tiefsten menschlichen Elend gab es noch Augenblicke des reinsten Glückes, das hatte er heute erfahren.

Vom Hause herüber drang das Geräusch einer Rede. Irgend jemand unterhielt durch eine Deklamation die Gesellschaft, alle Fenster standen weit offen, hie und da unterbrach ein fröhliches Lachen die Stille der späten Stunde.

Lionel ging langsam; er wurde nicht vermißt, das zeigte sich deutlich.

In der Absicht, durch die Küche den Flur und die Gesellschaftsräume zu erreichen, schlenderte er unter den Fenstern der Seitenmauer dahin und war nicht wenig erstaunt, als plötzlich aus einem derselben eine dunkle Gestalt auf den Kiesweg hinaussprang. Der unerwartet Erschienene fiel ihm gerade vor die Füße, ein Lichtstrahl von der entgegengesetzten Seite traf in diesem Augenblick sein geisterhaft blasses Gesicht und Lionel erkannte den Sohn des Friedensrichters. »Master Ben!« rief er, »was thun Sie denn hier?«

Statt aller Antwort schrie Benjamin, als stecke er am Spieße. »Diebe! Diebe!« gellte es von seinen Lippen.


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