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XX.

Ralph hatte unter der großen Schar der zum Train gehörigen Negerdiener ohne Schwierigkeiten seinen Platz gefunden. Die Armee rückte unaufhaltsam vor, wohin ihre Scharen kamen zunächst alle Eisenbahn- und Telegraphenlinien zerstörend, durch jeden Stromübergang, der abgerissenen Brücken wegen, aufgehalten und endlich in unmittelbarer Nähe des Feindes.

Jetzt flog die Kavallerie voraus, um zu kundschaften, das Gros der Armee bewegte sich in fester Schlachtordnung, die Ambulanzen blieben nahe bei den Regimentern und dicht hinter ihnen folgten Wagen mit Lebensmitteln.

Der Zusammenstoß wurde in jeder Stunde erwartet. Mehrere Male war schon die Landstraße durch Verhaue von gefällten Bäumen versperrt gewesen, man hatte einzelne Spione aufgegriffen und an die nächsten Stämme gehängt, von zwei Seiten kam bedeutender Zuzug und auf den Karten bezeichneten die Offiziere einstimmig den Punkt, an welchem das Treffen aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgen mußte.

Ein schwarzes Regiment befand sich jetzt auch im Zuge, gutgeschulte, kräftige Gestalten, von weißen Offizieren befehligt, anspruchslos und gehorsam wie treue Hunde. Die Neger begingen keinerlei Ausschreitungen, sie verhielten sich völlig still und waren es zufrieden, einen Schritt hinter den Weißen zu stehen, denen sie den Vorrang willig überließen.

Am Abend eines windigen, verhältnismäßig kühlen Tages kam ein Kundschafter in das Lager und berichtete, daß hinter schnell errichteten Schanzen mehrere Regimenter von Konföderierten bereit lägen, den Kampf mit den Unionstruppen aufzunehmen. An dem befestigten Orte führte kein Weg vorüber, man mußte hindurch, oder umkehren.

Während dieser, fast unter den Geschützen des Feindes verbrachten Nacht schliefen wohl nur sehr wenige Soldaten. Man sah sie bei den flackernden Lichtern der Lagerfeuer Briefe schreiben, sah sie in Gruppen zusammensitzen und dies und das ordnen. Vielleicht war ja morgen um dieselbe Zeit längst das Leben entflohen, – es that gut, sich darauf vorzubereiten.

Grüße wurden aufgetragen, letzte Botschaften an geliebte Wesen, letzte Verfügungen in Bezug auf äußerliche Güter. »Das soll der haben und das die! – Wer weiß, ob wir einander je auf Erden wiedersehen.«

Auch unsere Freunde hatten Briefe geschrieben und ausgetauscht, selbst die Schwarzen trafen ihre Vorbereitungen für den folgenden Tag. Neben den Zelten hockten die dunklen Gestalten und sammelten sich gruppenweise um einige wenige aus ihren Reihen, die es verstanden, die Buchstaben des Alphabetes so leidlich zusammenzustellen. Ein derartig Begünstigter hielt in der Hand das heilige Buch und deutete mit dem Zeigefinger auf jedes Wort, das er las.

Hatte wirklich der Gott der weißen Menschen in seiner Verheißung allen denen, die an ihn glaubten und seinen Willen befolgten, das ewige Leben als Lohn verheißen? Sollte es im Himmel und auf Erden denen gelingen, die gehorsam waren bis an das Ende?

Die Neger horchten mit gefalteten Händen. Langsam, schwerfällig kamen von den Lippen des Vorlesers die einzelnen Worte.

»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.«

»Seid fröhlich und gewiß, daß es euch im Himmel wird belohnt werden.«

»Ich aber sage euch, liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thuet wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und lässet regnen über Gerechte und Ungerechte.«

Alle wollten sie mit eigenen Augen hineinsehen in das heilige Buch. Stand es wirklich so da, wie sie es eben vernommen hatten?

Und auch für schwarze Menschen? für arme, verachtete Neger?

Das war es, was sie nicht glauben konnten.

Einer ihrer Offiziere nahm die Bibel dem Vorleser aus der Hand und blätterte darin, dann las er laut mit erhobener Stimme: »Kommt zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!«

»Alle, Kinder! Habt ihr das verstanden? – Alle! Ihr und ich, jedes Wesen, das da lebt. Und nun lest weiter; auch für euch ist das heilige Buch geschrieben worden, auch für euch ist Jesus Christus gestorben, um zu leben und zu regieren in Ewigkeit.«

Er gab das Buch dem Vorleser zurück, tiefe Stille folgte seinen Worten. Die Neger scharten sich dichter zusammen, auch an anderen Punkten wurde gelesen und selbst nach erfolgtem Zapfenstreich doch wenig geschlafen.

Früh mit dem ersten Tagesschein sollte der Aufbruch stattfinden. Es war unnötig, das lautere Geräusch zu vermeiden, da beide Heeresmassen von ihrer gegenseitigen Stellung genaue Kenntnis besaßen und an einen Ausfall von seiten der im Fort Eingeschlossenen überhaupt nicht gedacht werden konnte. Die Trommeln riefen zum Antreten, dann setzte das Musikkorps ein und die frommen Klänge eines Chorals tönten durch das Dämmergrau der Sonnenaufgangsstunde.

In Reih und Glied standen die Mannschaften und »an die Rippen pochte das Männerherz.« Wie so unbeschreiblich mächtig und bezwingend ist die Herrschaft der Musik! – Es war, als werde vom Sterben den todgeweihten Leuten gesprochen, von Abschied und seliger Auferstehung. Jeder einzelne machte in dieser Stunde seinen Frieden mit dem, der vielleicht bis jetzt als Feind und Widersacher ihm gegenübergestanden, jeder einzelne bat aus Herzensgrund: »Vater, vergib mir meine Sünden.«

Nach dem Chorale kam die Predigt, eine kurze Ansprache, in der die Treue des Soldaten gegen sein Land, die schöne, heilige Mission gerade dieses Krieges besonders hervorgehoben wurden. Wer an den Seiten der aufmarschierten Regimenter stand, der sah Männer, welche in zehn Schlachten erprobt waren, schwanken wie Halme im Wind.

Zwei Prediger reichten das Abendmahl. »Nehmet hin und trinket! Das ist mein Blut, für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden.«

Ungezählte drängten sich herzu, um des Sakramentes teilhaftig zu werden, auch Lionel und Hermann. Wie ein Gruß aus besserer Welt umspielten die Sonnenstrahlen alle diese gesenkten Köpfe, leise kühlte der Wind die heißen Stirnen.

Und dann trat das Leben in seine Rechte. Der Marsch, von dem so viele niemals zurückkehren sollten, wurde jetzt begonnen. Kein Gesang ertönte, keine Pfeife kam zum Vorschein, kein geflüstertes Scherzwort durchlief die Reihen; mit festen Schritten, in unübersehbarem Zuge ging es durch den Eichenwald dahin, dem verschanzten Landstädtchen entgegen.

Ob die Konföderierten glaubten, den Siegesmarsch einer großen Armee durch eine Handvoll Leute aufhalten zu können? Ob sie in wahnwitzigem Trotze sich selbst oder andere zu täuschen gedachten?

Da ragten schon die Türme und Fabrikschornsteine der Stadt über die Waldränder hervor. Eine dichte Reihe von Pallisaden, Brustwehren, Verhauen und Schanzen umgab die ganze äußere Linie des Ortes, breite Gräben lagen dazwischen und hinter allen diesen Hemmnissen erhob sich das bombenfeste Gewölbe, in dessen Innerem die Verteidiger so lange Schutz fanden, bis etwa die Belagerer in die Stadt gedrungen waren und durch den Einzelkampf, Mann gegen Mann, zum Siege gelangten.

Nahe vor den ersten, starken Verhauen standen die Unionstruppen, hinter jedem Baume, jedem Busche oder erhöhtem Punkte ein Soldat, halb versteckt, um von den feindlichen Kugeln desto weniger leicht getroffen zu werden, bereit, auf das erste Kommando hin gegen die Dornenwälle vorzurücken und sie im Sturme zu nehmen.

Dann fuhren die Kanonen auf, in langer Reihe die Schanzen bedrohend, wie schwarze Riesenschlangen, deren Körper in Windungen den Feind umzingelten, ungeduldig die Minute erwartend, in der er unter ihrer schrecklichen Umarmung das Leben aushauchen mußte.

Noch war drinnen alles still, kein Laut verriet, daß haßerfüllte, zum äußersten entschlossene Menschen hinter diesen Schanzen verborgen lagen, erst die erste Salve aus ehernem Schlunde rief plötzlich einen Wutschrei und eine Antwort von gleicher Art hervor. Betäubender Donner erfüllte die Luft, Pulverdampf hinderte am Sehen, am Atmen, hie und da war ein Mann getroffen worden und färbte mit seinem Blute das Gras, – ein erstes Opfer des Tages, der furchtbare Einzelheiten, erschütternde Szenen des Schmerzes und des Jammers zu sehen bestimmt war.

Lücke nach Lücke rissen die schweren Geschütze in den vorderen, aus Dornen, Sand und Pfählen geflochtenen Verhau, große Strecken wurden bloßgelegt, andere so zerstört, daß sie keinen Widerstand zu leisten vermochten. Hinter der ersten Brustwehr erschien die zweite, Trümmer und Schutt füllten in Massen die Räume, Wolken von Staub wirbelten auf und legten sich wie graue Schleier zwischen beide kämpfende Parteien.

Noch war von den Konföderierten kein Mann gesehen, weit weniger denn getroffen worden, das reizte den Zorn derjenigen, deren Brüder blutend am Boden lagen, auf das äußerste, sie stürzten, als der Befehl zum Stürmen gegegeben wurde, mit betäubendem Hurrarufen vorwärts, schwarze und weiße, freiwillige und reguläre Soldaten, alle beseelt von dem gleichen Eifer, in möglichst kurzer Zeit die Schanzen zu nehmen und sich in der besiegten Stadt von den Anstrengungen des Kampfes zu erholen.

Die Entfernung zwischen den Festungswerken und dem Walde betrug etwa zweihundert Schritte, welche von den erbitterten Soldaten und Offizieren in vollem Laufe zurückgelegt wurden.

Die Verhaue mit dem Beil oder der bloßen Faust zu nehmen, sich außerhalb des Bereiches feindlicher Kugeln zu stellen, das war die Absicht dieses Ausfalles, aber was geschah anstatt dessen?

Gräßliches, – Dinge, deren Schilderung das Blut in den Adern erstarren läßt.

Unter den Tritten der Soldaten schien die Erde Feuer zu sprühen, der Grasboden zerbarst, lohende Flammen schlugen empor und schwere Eisensplitter wirbelten hoch in die Luft, alles zerreißend, was sie trafen, in Atome zermalmend die unglücklichen Menschen, deren Schritte das versteckte Leitungsrohr berührten und die Flamme der Pulverkammer nahe brachten.

Hier ein Kopf ohne Rumpf, hier ein verstümmelter Körper, – Hände, Füße, alle Greuel der Verwüstung, alles, was Entsetzen erregt und die Sinne gefangen nimmt.

Sekundenlang stockten die braven Soldaten. Das furchtbare Getöse verwirrte den Mutigsten, der Anblick des Schlachtfeldes ließ unwillkürlich den Fuß stocken. Blut bedeckte alles rings umher, es hieß auf die zuckenden Körper der Kameraden treten, wollte man auch nur einen einzigen Schritt vorwärts gehen.

Aber dieser Eindruck dauerte nur kurz. »Nicht zurücksehen!« lautete das Kommando. »Vorwärts, Kinder! Vorwärts!«

Ein Wutschrei durchbebte die Reihen. Wo zehn tapfere Männer gefallen waren, da stürzten sich Hunderte in die Bresche, – der erste Verhau wurde im Fluge genommen, zwischen Flammensäulen und dem Regen hochaufsplitternder Eisenkörper rissen die unerschrockenen Kämpfer mit blutenden Fäusten das Gefüge von Dornen und Balken auseinander, bis der zweite Verschanzungsring bloßgelegt war.

Über die Köpfe flogen die Kugeln in den Wald und in die Reihen der Unionstruppen, mit wildem, erbittertem Eifer wurde auf beiden Seiten gekämpft. –

»Vorwärts, Kinder, vorwärts! Sie können sich ja nicht halten!«

»Holt die Rebellenfahne von den Wällen, meine Jungen!«

Wieder donnerten die Geschütze, wieder fielen die Verschanzungen. Hinein in den vordersten breiten Graben! Hurra für den Norden!

»Hurra! Hurra!«

Und wenn auch dort Minen lägen? Wenn abermals so gräßliche Opfer gefordert würden?

Gleichviel! Gleichviel! Den Überlebenden zum Gewinn fallen die Tapferen auf blutgetränkter Wahlstatt!

Aber diesmal war das Geschick günstiger. Es lagen in dem Graben keine Sprenggeschosse, die Bestürmung konnte ihren ungestörten Fortgang nehmen.

Salve nach Salve und Sieg nach Sieg, – die Schanzen der Konföderierten waren bloßgelegt. Sie mußten jetzt den Einzelkampf aufnehmen, ihre Stellung als unhaltbar verloren geben.

Die Regimenter nahmen Stellung und der Sturm begann. Seitwärts von den bombenfesten Kasematten drangen unaufhaltsam die Soldaten in die Schanzen, alles vor sich zu Boden werfend, was ihnen widerstand, siegreich, einem Strome vergleichbar, der im wilden Fluge mit sich fortreißt, was Abgelebtes, Veraltetes ihm die Bahn sperren möchte, dessen Wogen über das Ufer schlagen und Dämme und Schleusen wegspülen.

Auf den Wällen zeigte sich keines Menschen Antlitz, aber die Parlamentärsflagge erschien an hohem Stocke und bat stumm, doch sehr verständlich um Gehör. Im gleichen Augenblick schwiegen alle Geschütze, jeder Mann blieb in der Stellung, welche er vorher innegehabt, jeder Blick wachte und spähte, aber keine Hand wurde mehr erhoben, keine Waffe klirrte.

Es erschienen zwei Offiziere, welche dem Befehlshaber der Regierungstruppen die Übergabe der Stellung bedingungsweise anboten. Freier Abzug für alle Militärpersonen hieß das erste, und Schonung alles Privateigentums das zweite.

Blaß wie Leichen standen die konföderierten Offiziere vor den verhaßten Siegern, umsonst waren sie bemüht, ihren Gesichtern Ruhe, ihren Stimmen Festigkeit zu verleihen. Freier Abzug! Das war alles, was sie dachten.

Aber der feindliche General schüttelte den Kopf, er wollte sich die gute Gelegenheit begreiflicherweise nicht entschlüpfen lassen. »Sagen Sie Ihrem Herrn Kommandeur, daß alle Soldaten meine Gefangenen sind und daß ich sämtliche öffentliche Gebäude, insbesondere Waffenfabriken und Arsenale zerstören lassen werde. Friedlichen Bürgern soll kein Leides geschehen. Ich erwarte Ihre Antwort, meine Herren!«

»Sie wird Eurer Exzellenz aus den Schlünden unserer Kanonen zu teil werden.«

Der General verneigte sich ruhig. »Für die nächstfolgende halbe Stunde mögen die Waffen schweigen,« sagte er. »Nach dieser Frist betrachte ich meine Vorschläge als abgelehnt.«

Die beiden Offiziere gingen, und für den Augenblick beherrschte tiefes Schweigen den Schauplatz so starker Erregungen. Die Truppen standen Gewehr bei Fuß in Schlachtordnung, über geschwärzte Gesichter fuhr das Taschentuch, mit flüsternder Stimme sprachen die Soldaten von den vielen, welche der Tod aus ihren Reihen entführt hatte.

Dieser dahin und dort jener. Brave Kameraden, treue Freunde, – und nun lagen sie tot und kalt, zerrissen von den Eisensplittern der Mine, zertreten von den Füßen derer, welche über ihre zuckenden Körper hinweg den Sieg erstritten.

Auch die Schwarzen waren im Feuer gewesen. Ihre Leichen mischten sich mit denen der Weißen, zuweilen zeigten diese schrecklichen Gruppen lebloser Gestalten, daß in ihrer Mitte noch hie und da ein Unglücklicher mit dem Tode rang, – ein schwaches Ächzen oder Wimmern tönte hervor, matt bewegte sich eine Hand, ein Kopf.

Und keiner war, der helfen konnte. Die Sonne schien heiß auf schwärende, brennende Wunden, Insekten krochen darüber hin, unerträgliches, unsagbares Leid folterte die Opfer des verhängnisschweren Tages.

»Wasser! Wasser!« tönte es von den Lippen Sterbender. »Um Jesu willen, gebt einen – einen Tropfen Wasser!«

Aber sie besaßen nichts, die Kameraden. Sie konnten nur beten und, glühenden Mitleides voll, die ewigen Mächte um Erbarmen anflehen.

Lionel ertrug kaum den schrecklichen Anblick. Hermann und er standen ganz getrennt, weit von einander, sie hatten, als die Waffenruhe begann, nur einen flüchtigen Blick tauschen können und dann nichts mehr, – jetzt türmten sich zwischen ihnen die Trümmerstätten, die Berge von Leichen, das Auge war vom Auge vollständig getrennt.

Ob Ralph und Toby lebten? Gott mochte es wissen. Mehr als nur einmal hatten die Kugeln auch in die Reihen der Gepäckwagen hineingeschlagen.

Drinnen im belagerten Städtchen erklang eine Kirchenglocke. Am seidenen Faden hing über den Köpfen der Bewohner das Verhängnis, – sie flüchteten zum Altare, sie beteten wohl aus angsterfülltem Herzen: »Herr, wenn es möglich ist, laß diesen Kelch vorübergehen!«

Minute reihte sich an Minute. Ihrer zwanzig waren schon verstrichen, – wieder erschienen die beiden Parlamentäre. »Freien Abzug für das Militär, im übrigen bedingungslose, vollständige Unterwerfung.«

Der General zuckte die Achseln. »Ich verlange nunmehr die Auslieferung aller Farbigen, ich will eine von Weißen völlig verlassene Stadt vorfinden. Die Einwohner dürfen ihr Hab und Gut mitnehmen, alle Lebensmittel dagegen müssen sie ausliefern.«

»Also neue demütigende Forderungen! – Barmherziger Himmel, was wird aus den Bürgern der unglücklichen Stadt?«

Der General sah statt aller Antwort nach der Uhr. »Noch sechs Minuten!«

»Und keine Gnade? – Keine?«

»Es ist der Krieg, dessen Folgen diese Stadt trägt, wie eben jeder andere von ihm betroffene Ort auch.«

Und abermals war die Audienz beendet. Noch drei Minuten! Was würde geschehen, wenn sie verstrichen waren?

Drinnen klang das fromme Läuten, es beschwichtigte vielleicht in den Herzen der unruhvollen Menschen die innere gewaltige Angst, es ermahnte sie, auszuharren und den Nacken zu beugen unter das Joch, das auf den Kindern Adams liegt, von der Wiege bis zum Grabe in der Erde, die unser aller Mutter ist, es bewog den Kommandeur des eingeschlossenen, umzingelten Heeres, lieber nachzugeben, als unschuldiges Blut in Strömen zu vergießen und schließlich doch überwunden zu werden.

Weit öffneten sich die Thore der Stadt, unter verhaltenem, bitterem Grimm erfolgte die Übergabe des Ortes. Alles Militär mußte die Waffen ausliefern; mit Sack und Pack, mit Gepäck und Pferden wurden die Bataillone hinter die Linie der Regierungsarmee zurückgeschoben, um von der Seeküste aus als Gefangene nach den festen Plätzen eingeschifft zu werden.

Stunden vergingen, bevor dieser wichtigste Teil der ganzen Angelegenheit erledigt war, dadurch blieb den hartbetroffenen Bürgern Zeit, wenigstens ihre Pferde vor die vorhandenen Wagen zu spannen und mit sich zu nehmen in die Verbannung, was ihnen lieb und teuer genug schien, um es den Fäusten der Sieger zu entreißen. Einzelne starke Wachen von Regierungssoldaten standen dabei, jeder Transport wurde genau untersucht, jede Karawane schluchzender Menschen visitiert, und nach Lebensmitteln ausgespäht. Kein Schinken, kein Huhn konnten die Armen verbergen, – der Sieger brauchte alles für den Hunger seiner Truppen.

Einzelne Männer ballten die Fäuste. »Und was sollen unsere Kinder essen, was die hilflosen Frauen und Greise?«

Die Soldaten antworteten nicht. Das Land war ja reich und noch unberührt. Mochte es seine Schatzkammern den Notleidenden aufthun.

Sehr verschieden gestaltete sich das Betragen der Schwarzen. Wer bisher einen grausamen oder ungerechten Herrn gehabt hatte, der vollführte jetzt auf der Straße einen Freudentanz und sah hohnlachend zu, wie der gedemütigte Gebieter selbst Hand ans Werk legte, um Dinge zu thun, deren Ausführung er sonst nur befahl oder etwa durch Peitschenhiebe erzwang. Der Gehorsam des geknechteten Afrikaners hatte aufgehört, aber an vielen, vielen Punkten war die schöne, echt menschliche Treue des Herzens voll erhalten.

Man sah Neger, die auf ihren Rücken schwere Bündel trugen, auf dem Arm ein kleines Kind und in der anderen Hand irgend einen Gegenstand, den die Frau vom Hause besonders schätzte, eine Uhr, eine Lampe oder ein Bild, – wieder andere stützten liebevoll einen Blinden, während schwarze Frauen die Herrinnen trösteten und ihnen versprachen, im Elend treulich auszuharren und vor keinem Leide, keiner Entsagung zurückzuschrecken, bis bessere Tage wiederkehren möchten, allen zum Heil.

Der Zwiespalt des Lebens drängte sich an diesem Tage in jegliche Beziehung selbst der Untergeordnetsten und Ärmsten hinein. Umringt von jüngeren Genossen stand dort wohl der schwarze Mann und lieh sein Ohr den lockenden, versuchlichen Stimmen. »Komm jetzt mit uns, so lange die Stunde günstig ist! Wir werden frei, wir und unsere Kinder! Wer weiß, ob jemals die Gelegenheit wiederkehrt!«

Und auf der andern Seite stand das Weib. »Ich gehe nicht! Die Herrin braucht mich, nun sie im Unglück ist, – ich gehe nicht! O Mann, Mann, wer hat uns ernährt und gekleidet, wer hat uns gepflegt, wenn wir krank waren, wer hat unsere Kinder in die Schule geschickt und uns beschützt gegen unsere Widersacher? – Nein, nein, wir dürfen auf keinen Fall die Herrschaft im Stiche lassen.«

Und hier siegte die sanftere Überredung, dort der Trotz. Es fielen böse Worte, Drohungen, Verwünschungen, es flossen heiße Thränen. Die ganze kleine Stadt befand sich im Aufruhr, jegliches Band der Ordnung und Gewohnheit war zerrissen, jedes Gesetz aufgehoben.

Zum Thore hinaus zogen bekümmerte Menschen, um mit ihren Habseligkeiten in den Wäldern eine Zuflucht zu suchen, während am entgegengesetzten Ende der Stadt die Sieger mit flatternden Fahnen Besitz ergriffen. Als die Regimenter einrückten, lagen Straßen und Plätze in tiefer Todesstille; jedes Fenster war verhüllt, jede Thür verschlossen, nur einige Katzen und Hunde liefen herrenlos umher, während in den Ställen die Haustiere brüllten und blökten, weil keine Hand ihnen Futter streute.

Auch das schwarze Regiment rückte ein in die eroberte Feste, aber selbst als die Soldaten auseinander gingen, geschah von seiten der Neger kein Übergriff, kein Akt irgend welcher Rache, sie bezogen die ihnen zugewiesenen Quartiere, ohne sich an dem Eigentum ihrer früheren Peiniger zu vergreifen, sie ließen unberührt, was nicht zu ihrem Gebrauche bestimmt war, und nahmen sich der verlassenen Haustiere an, wo es notwendig wurde.

Aus keinem Fabrikschornstein drang der Rauch hervor, im Laden des Uhrmachers stockte das Pendel, im Gewölbe des Goldschmiedes der Hammer; niemand verkaufte Waren auf der Straße, niemand arbeitete in den Werkstätten, dennoch aber, trotz dieser scheinbaren Ruhe, war die Stadt nicht ganz entvölkert. Lichtscheues Gesindel hatte seine finsteren Behausungen nach außen geschlossen, sich selbst aber darin versteckt gehalten und als nun der Abend des ereignisreichen Tages hereinbrach, da öffneten sich die Pforten dieser Höhlen und ein unheimlicher Schwarm der Verworfensten entstieg denselben.

»Brot!« hieß es. »Gebt uns Brot!«

Einzelne Wachtposten wurden angefallen, es entstanden Scharmützel und endlich ließ der General alle Häuser durchsuchen, um den ganzen schlimmen Bodensatz der verbannten Bevölkerung von seinen Soldaten mit blanker Waffe aus der Stadt jagen zu lassen. In einzelne Gebäude war bereits ein Feuerbrand hineingeschleudert worden, Pulverfäden liefen durch die Straßen und rot und glühend schimmerte der Nachthimmel. Hier löschten die Soldaten ein verlassenes Haus, dort drangen sie ein in eine Waffenfabrik oder Gießerei und trugen den Vorrat an Kriegsmaterial auf die Straße hinaus, um dann später das Gewölbe anzuzünden. Von allen öffentlichen Gebäuden wurden Fahnen und Wappen entfernt, die Schanzen dem Boden gleich gemacht.

Eine Besatzung konnte der General nicht zurücklassen, sein Weg führte ihn unaufhaltsam vorwärts, daher mußte alles, was sich etwa die Konföderierten bei einer neuen Besitzergreifung zu nutze machen konnten, gleich zum Opfer fallen, die Kasernen, die Verschanzungen, die Proviantmagazine und Arsenale.

Schwarze Schutthaufen bezeichneten auch hier den Weg, welchen die Kriegsfurie genommen hatte. Wie ausgestorben lag hinter den abziehenden Truppen die Stadt, verödet, verwüstet, ihres Lebensnervs auf lange Zeit hinaus beraubt. Sämtliche Leichen, Freund und Feind, waren im Walde bestattet, dann marschierten die Bataillone weiter, immer gerüstet auf eine Begegnung mit den Konföderierten, immer umgeben von einer Wolke von Kundschaftern, die über alles Bericht erstatteten, was vor oder hinter der Schlachtlinie geschah.

Durch riesige Föhrenwälder zog sich der Marsch, durch Sümpfe und über Flüsse, bis endlich auch in dem früher so reichen Lande die Lebensmittel anfingen knapp zu werden. Gemüsefelder und reiche Obstplantagen waren der Verwüstung anheimgefallen, die Herden früh genug weggetrieben oder geschlachtet, die lagernden Vorräte aufgezehrt, es galt daher an jedem Tage, neuen Proviant einzuheimsen und schärfer als jemals vorher die Wohnstätten rings in der Umgebung zu brandschatzen.

Nicht mehr in kleineren Trupps von etwa fünfzig Mann zogen die Soldaten aus, um Lebensmittel zu erlangen, sondern ihrer hundert nahmen den Marsch auf ein einzelnes Gehöft und kehrten dann sogleich, mit sämtlicher Beute beladen, zum Gros des vorüberziehenden Heeres zurück, bisweilen auch leer, wenn Küche und Keller des Landwirtes nichts mehr hergaben, was noch irgend eines Menschen Hunger hätte stillen können. An so manchem Herde saß im grauen Gewande die Sorge und blickte hohläugig den Kommenden entgegen, – selbst diejenigen, welche hier daheim waren, hatten für sich keinen Bissen Brot mehr, wie sollten also die Fremdlinge gesättigt werden können, die Todfeinde, deren Erscheinen das Land in so bitteres Elend stürzte?

An derartigen Tagen gab es für die Soldaten nur vorjährige Hülsenfrüchte, in Wasser halb gar gekocht, vielleicht noch dazu ohne Salz, aber sie ertrugen alle Unbequemlichkeiten ohne Murren, sie arbeiteten an Brücken und Pontons, während ihnen das Wasser bis unter die Arme stieg, und schliefen in den feuchten Sümpfen wie im weichsten Bette.

Vom Generalkommando kamen täglich Kuriere, Eisenbahnen und Telegraphenlinien wurden hinter dem Rücken der siegreichen Armee wieder hergestellt und, als die Hauptsache, auch eine regelmäßige Briefbeförderung über Charleston ins Werk gesetzt. Eines regnerischen, unfreundlichen Tages brachten mehrere berittene Boten einen ganzen Transport von Schriftstücken, die dann bei der nächsten Rast zur Verteilung gelangten.

Feiner, stäubender Tropfenfall rieselte von den Häuptern der Föhren, grauer Himmel wölbte sich über durchnäßter, grauer Landschaft, selbst die Wachtfeuer konnten nicht brennen und an den Schultern der Soldaten klebten die nassen Kleider wie Nessusgewänder. Alles schwieg, – an solchem Tage tönt kein Lied, kein Scherzwort, die Leute sind erbost und schimpfen in Gedanken, aber äußerlich ist das Lager in Schweigen gehüllt.

Da ging der Kompaniefeldwebel durch die Reihen, zwischen den Fingern einen ganzen Stapel von Briefen. Die Mannschaften lagerten unter den Bäumen, essend oder halb schlafend, sie hatten die kurze Rast eben erst begonnen, aber dennoch erhoben sich alle. Furcht und Hoffnung kämpften in jeder Brust; so manches bärtige Gesicht war blaß geworden, so manches Auge glühte vor heimlicher Unruhe.

Briefe aus der fernen Heimat, – du Zauberwort! Das Herz setzt seine Schläge aus, der Atem stockt, nur ein, ein einziger Gedanke lebt in der Seele: »Wird an mir der Augenblick des Glückes vorübergehen? Gerade an mir?«

»Lionel!« flüsterte Hermann. »Es sind Briefe da!«

Unser Freund nickte. »Möchte dir der Himmel eine Antwort schenken, Hermann!«

»Und dir! Und dir! Hörst du auch genau zu, Lionel? Du weißt, daß sie nicht in New York geblieben, sondern nach Chicago gegangen sind, glaubst du, daß der Zeit nach von dort schon eine Botschaft hier sein könnte?«

»Sicherlich!« nickte Lionel. »Jetzt nähert sich der Feldwebel! – Ruhig, Hermann, zu viele Augen beobachten uns.«

»Laß es doch alle sehen, alle! – O Gott, wenn ich – –«

»Musketier Neubert! – Ein pfundschwerer Brief, wahrhaftig!«

Es war ein Jubelschrei, mit dem Hermann die Sendung empfing. Röte und Blässe wechselten in seinem Gesicht, er hielt im ersten Augenblick das Schriftstück mit beiden Händen fest, als wolle er es nur haben, aber nicht lesen, dann suchte er ein möglichst geschütztes Plätzchen und betrachtete voll Entzücken die schönen regelmäßigen Federzüge seines Vaters. Ein Brief, in dem nur Gutes stehen konnte, das sah man schon von außen.

Lionel stützte den Kopf in die Hand, er fühlte, ohne es zu wollen, die Einsamkeit seines Lebens gerade in dieser Stunde mit Zentnerschwere. Ihm schlug in Nähe und Ferne kein treues, zärtliches Herz, er stand ganz – ganz allein.

Aber außer ihm auch noch andre. So mancher Kamerad sah trüben Blickes in der Hand des Feldwebels das immer kleiner werdende Paket, – kam an ihn die Reihe nicht mehr?

Und dann waren sämtliche Briefe verteilt. Blasse Gesichter neigten sich tief herab auf die schweratmende Brust, wahrhaft unheimlich erschien die Stille rings umher.

Hermann und Lionel lasen, der letztere die freundlichen Worte, welche ihm alle Glieder der Familie zukommen ließen, ersterer voll unendlichen Glückes die langen Briefe seiner Teuersten, derer, welche er liebte und von denen er auf das wärmste wiedergeliebt wurde. Sie schilderten ihm die entsetzliche Angst jener Stunde, in welcher die Indianer den Bahnzug angriffen, die Verzweiflung um sein eignes ungewisses Schicksal, dann die glückliche Ankunft bei den Verwandten in Chicago und die Freude, als endlich nach so langer, schmerzvoller Trennung ein Brief eintraf. Ihnen ging es gut, der Vater verdiente hübsches Geld und die Kinder befanden sich wohl, nichts fehlte, als nur der Sohn und Bruder, den die Kriegsgefahren umtobten und der so viele Meilen weit entfernt war. »Wir beten alle, daß du glücklich zu uns zurückkehren mögest,« hieß es am Schlusse dieser zehn Seiten langen Mitteilung, »du und Lionel, den wir ganz wie einen teuren Angehörigen betrachten. Papa hat ihm selbst geschrieben und genau auseinandergesetzt, welche Aussichten seiner hier in Chicago warten.«

Das letztere verhielt sich wirklich so. Herr Neubert hatte für sein Geschäft einen unerwartet günstigen Boden gefunden, er ging wieder als Pedlar mit dem Kasten auf dem Rücken durch das Land und wußte, daß auch außer ihm noch einige jüngere Kräfte ganz gut bei diesem Betrieb fortkommen konnten. »Machen Sie sich also keine Sorgen, mein lieber Lionel,« schrieb der brave Mann, »Ihre Zukunft soll sich unter Gottes Beistand schon gut und richtig gestalten. Möchten Sie lieber nicht Kaufmann werden, sondern Ihre Studien wieder aufnehmen und später zur Universität gehen, so kann auch das stattfinden. Ich lege in diesem Falle mein bißchen Geld bei Ihnen an und bin ganz sicher, daß es gute Zinsen tragen werde. Halten Sie nur den Kopf oben, Lionel. Wer wagt, der gewinnt! Ich bin als blutjunger Mensch, arm wie eine Kirchenmaus von Deutschland nach Amerika gekommen und habe es mit Gottes Hilfe doch dahin gebracht, ein glücklicher Mensch zu sein und täglich allen Verpflichtungen gegen die Meinigen gerecht werden zu können. Wollten Sie Geringeres fordern oder leisten? – Der Himmel lasse Sie und Hermann nur erst einmal glücklich aus dem Feldzuge heimgekehrt sein, dann findet sich alles übrige von selbst. Ihr väterlicher Freund Ferdinand Neubert.«

Lionel las immer wieder die ruhigen, gütigen Worte. Wie wohl that es ihm, doch in der weiten Ferne so treue, ergebene Herzen zu wissen! Er und Hermann plauderten halblaut miteinander, sie weckten alte Erinnerungen und knüpften im Gedenken künftiger Tage an das Vergangene die Hoffnung auf neues, schönes Glück. Stunden vergingen im Fluge, dann kam der Aufbruch und mit ihm die Absendung solcher Streifkorps, welche um jeden Preis von den Farmen der Umgebung Lebensmittel für das Regiment herbeischaffen sollten. Es ging das Gerücht, daß bedeutende Massen von konföderierten Parteigängern den Regierungstruppen gerade in dieser Gegend auflauerten und den Guerillakrieg beginnen wollten, man schickte daher nur größere Abteilungen aus und wählte selbst hierzu mit Vorliebe diejenigen, welche sich freiwillig meldeten.

Auch heute wurde so verfahren, Schwarze und Weiße in buntem Gemisch rückten aus, um Lebensmittel zu erlangen, ihrer fünfhundert, alle vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet und entschlossen, womöglich einige Rinder oder wenigstens Schafe zu erbeuten. Es hatte an Fleisch in den letzten Tagen sehr stark gefehlt, so daß neue Zufuhr dringend nötig erschien, besonders im Hinblick auf die zahlreichen Kranken, welche in den Gepäckwagen so mühselig durch die pfadlosen Wälder mitgeführt wurden.

Hermann und Lionel hatten sich für die Expedition als Freiwillige gemeldet, ebenso Ralph und Toby, außerdem eine Anzahl junger Leute aus den besten Familien der Nordstaaten, flotte Burschen, denen der ungetrübteste Jugendmut aus den Augen lachte, die sich sehnten, einmal einen tüchtigen Strauß zu bestehen und als Sieger die Beute des Tages davonzutragen.

Das Armeekorps brach auf und ging in Schlachtordnung vorwärts, während die Furiere seitab nach den einzelnen Plantagen ausspähten.

Erst nach Verlauf zweier Stunden war der triefende, halbdunkle Föhrenwald passiert und an seinen Rändern zeigte sich eine öde, aller Schönheiten entbehrende Landschaft. Auf einem Hügel stand die halbverkohlte Ruine einer Windmühle, aus deren Trümmern noch eine Rauchwolke in die regennasse Luft emporstieg.

»Hier sind Bummers gewesen!« meinte jemand.

»Die also höchstwahrscheinlich für uns keinen Brocken übrig gelassen haben!«

»Das müssen wir doch auf alle Fälle erst untersuchen.«

Der Befehl, die Richtung zur Mühle einzuschlagen, wurde gegeben und die Abteilung marschierte über den aufgeweichten Boden vorwärts. Hinter den halbzerstörten Wirtschaftsgebäuden schlich träge ein Bach durch das Land, dann folgte eine sumpfige Wiese und ein undurchdringlich scheinendes Gebüsch von Kiefern und verkrüppelten Eichen. Die Bäume waren zehn bis zwanzig Fuß hoch, ein dichtes Blätterdach überwölbte einen nassen Boden, dem wahrscheinlich nie irgend ein Nutzen abzugewinnen gewesen war, denn man hatte nicht versucht, der Sonne Zutritt zu verschaffen, sondern das krüppelhafte Buschwerk ungehindert eine ganze, größere Strecke überwuchern lassen, bis es am Rande des Horizontes den Blicken entschwand.

Kein Mensch war zu sehen, wohl aber zeigten sich, als die Soldaten näher kamen, auf dem vorderen Hofe des Anwesens die Kadaver zweier großer Bluthunde, welche wahrscheinlich den anrückenden Bummers entgegengehetzt worden waren und zur Abwehr dann die tödlichen Kugeln empfingen. In der Mühle konnte sich niemand befinden, es blieben also nur noch die Nebengebäude und auch diese wurden gründlich durchforscht. Alles leer. Alles ausgeplündert.

»Dies ist ein Stall für wenigstens hundert Rinder,« rief der kommandierende Offizier. »Aber wo sind die Tiere geblieben?«

»Geraubt, in Sicherheit gebracht, fort!«

Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Das glaube ich nicht. Die Mühle raucht noch, die beiden Bluthunde sind offenbar erst vor wenigen Stunden erschossen worden, – wenn man aber eine so große Anzahl von Rindern ganz kürzlich ausgetrieben hätte, dann müßten sich die Spuren dieses Weges zeigen.«

»Vielleicht hat der Stall noch eine zweite Ausgangsthür!«

Sogleich begaben sich mehrere Soldaten hinein und untersuchten die Wände. Richtig! Ganz im Hintergrunde befand sich eine unter Ackergeräten verborgene Thür, die nicht aufging, weil von draußen ein Blockwagen vorgeschoben worden war. Als man denselben entfernte, zeigte sich's, daß der Stallbesen ganz vor kurzem in kräftigen Zügen diese Stelle berührt haben mußte und zwar führte die Spur bis an eine plumpe Holzbrücke aus geteerten Bohlen, die beide Ufer des Baches miteinander verband.

»Dahinüber sind also die Rinder fortgetrieben worden!«

»Und jedenfalls von diesen Bummers. Wer weiß, wohin sich nach der entgegengesetzten Richtung das Dickicht öffnet!«

Eine Pause folgte diesen Worten, dann berieten die Offiziere. War es rätlich, sich in das Gebüsch hineinzuwagen?

»Kann jemand angeben, wie viele Rinder etwa hinter einander die Brücke passiert haben?« fragte der Führer der Expedition.

Zwei Soldaten gingen auf die sumpfige Wiese hinüber und untersuchten den Boden, Pelzjäger aus den westlichen Unionsstaaten, denen keine noch so geringfügige Kleinigkeit entging. Beide erklärten einstimmig, daß ein bedeutender Transport stattgefunden haben müsse und daß die Begleiter desselben mit nackten Füßen wanderten. Bummers also höchstwahrscheinlich, fahrendes Gesindel.

»Ihnen nach!« gebot der Führer. »Mit diesen Burschen müssen wir endlich einmal gründlich aufräumen, außerdem aber bedarf das Regiment auch unbedingt der Fleischzufuhr, also vorwärts, meine Jungen!«

Die beiden Pelzjäger setzten sich an die Spitze des Zuges und der neue Marsch wurde angetreten. Einmal über die Wiese hinausgelangt, sah jedes Auge, daß hier eine starke Anzahl lebender Geschöpfe des Weges gekommen sein mußte, denn die Zweige der Eichen waren geknickt und das hohe Gras gänzlich niedergetreten. Man erkannte auch, daß die Rinder hie und da ein Maul voll abgerupft hatten.

Dann kam eine Lagerstelle. Die Pelzjäger untersuchten den Boden und sprachen ihre Ansicht dahin aus, daß wahrscheinlich sumpfige Strecken folgen würden. Überall blühte das Vergißmeinnicht, zuweilen fand sich auch eine Art Wassergras mit weichen, federartigen Blüten und bald nachher Spuren von Schilf.

Links hinüber zeigten sich die Fährten des Transportes. Es war gewaltsam Bahn gebrochen worden, jetzt schon ohne alle Rücksicht auf fremde Blicke; man hatte ganze Reihen junger Kiefernstämme entfernt, um schneller vorwärts gelangen zu können, ganze Gebüsche durchbrochen. Eine eilige Flucht mußte hier stattgefunden haben.

»Dort steigt Rauch auf!« berichtete einer der Pelzjäger.

Jemand erkletterte eine schwankende Eiche und bestätigte die Entdeckung. Nicht weit vor der Spitze des Zuges stieg eine Rauchwolke in die Luft empor, wahrscheinlich rasteten also die Bummers und brieten wohl gar schon einen der geraubten Ochsen am Spieß, um ihn als erste Beute sogleich zu verzehren.

»Vorsichtig!« ertönte das Kommando. »Kundschafter voraus!«

Die Pelzjäger gingen voran, immer leise schleichend, dem Orte, von wo der Rauch aufstieg, gerade entgegen, – die Abteilung Soldaten folgte in geschlossenem Gliede, bereit, sich dem ersten Begegnen mit den Bummers sofort zu stellen und womöglich der ganzen Bande den Garaus zu machen.

»Keinen Pardon!« hatte der Führer der Expedition gesagt. »Keinen Pardon! Das Gesindel plündert Freund und Feind, es hat keine Schonung zu erwarten.«

Die Kundschafter krochen durch das Unterholz; jetzt verharrten alle Soldaten in voller Ruhe, sie standen lautlos, um erst zu hören, was jene berichten würden.

Einer der Jäger kam nach ziemlich langer Pause wieder zum Vorschein, er legte den Finger auf die Lippen. »Konföderierte!« flüsterte er. »Es sind keine Bummers.«

Die Offiziere sammelten sich im Kreise um den Unglücksboten. »Guerillabanden also? – Und diese plündern jetzt ihre eigenen Gesinnungsgenossen?«

»Wie viele mögen es sein, Kundschafter?«

»Einige hundert Männer gewiß. Ich sah sie mit eigenen Augen. Alle wohl bewaffnet.«

»Dann werden wir es ja mit ihnen aufnehmen können. Vorwärts, Kinder!«

In diesem Augenblick geschah etwas völlig Unerwartetes. Hinter dem Rücken der Soldaten krachten Büchsenschüsse, ein Hagel von Kugeln schlug in die umstehenden Bäume oder weiter hinaus in die leere Luft, es wurden aber auch mehrere Männer getroffen und erhielten auf der Stelle die Todeswunde. Das Blut spritzte umher, Schmerzensschreie und Kommandoworte vermischten sich mit einander, – ehe Minuten vergingen, fielen auch von vorn her Schüsse, eine zweite Schar Konföderierter erhob sich gegen die kleine Anzahl Regierungssoldaten und richtete auf die nun völlig Umzingelten ein wahrhaft mörderisches Feuer.

»Sucht Deckung!« erscholl das Kommando.

Binnen Sekunden hatte sich jede Ordnung aufgelöst, die dünnen Stämme der Eichen und Kiefern gaben keinen hinreichenden Schutz gegen den Kugelhagel, der von allen Seiten zugleich auf die Soldaten hereinprasselte, sie wichen, von den Bajonetten rückwärts gedrängt, nach rechts und links aus der Bahn.

Mehr als tausend Konföderierte, in allen offenen Feldschlachten glänzend besiegt, führerlos, soldlos, nur auf Raub und Plünderung angewiesen, mehr als tausend zerlumpte Gestalten erhoben sich aus den Verstecken der Dickichte, um über den gemeinsamen Feind aus dem sichern Hinterhalte herzufallen.

Das war kein wirkliches Gefecht, sondern ein Morden. Die Konföderierten hatten absichtlich bei dem Herannahen der Unionstruppen die Mühle ausgeraubt und dann durch die Hinwegführung der Rinder die kleine Schar in den Hinterhalt gelockt, – jetzt war an keine Gegenwehr mehr zu denken; was noch flüchten konnte, das rettete sich seitwärts in die Gebüsche, um wenigstens mit dem Leben davonzukommen.

Hermann, Lionel und drei andere hatten sämtliche Munition verbraucht, sie sahen sich einer gedrängten Masse von Feinden gegenüber und versuchten nicht länger, den heftigen Angriffen derselben Stand zu halten. Fuß für Fuß aus der Bahn geworfen, geriet der kleine Trupp in eine Schlucht, deren hohes Gras die Körper fast vollständig verbarg; kriechend bald und dann wieder laufend, verfolgt von dem Gewühl der Kämpfenden kamen sie bis zu dichten Schilfmassen, unter denen das Wasser silbern erglänzte, die aber ein Asyl boten, in das sich alle fünf eilends verkrochen.

Gewehr und Patrontasche, Mütze und Mantel, alles war längst dahin, nur der Tornister hing noch am Riemen und der Säbel steckte im Gürtel. Aufatmend sahen die jungen Leute einander an, ruhiger im Augenblick, aber doch beschämt, verletzt, erbittert im tiefsten Herzen.

»Wie die Hasen gejagt!« flüsterte Lionel. »Das ist ein Schimpf!«

»Nicht, wenn eine zehnfache Übermacht hinter uns drein war!«

»Jetzt scheint sich übrigens der Kampf aus dieser Gegend zu verziehen, man hört keine Schüsse mehr.«

»Wahrscheinlich sind alle unsere Kameraden gemordet worden.«

»Toby! Ralph! – Ach die Armen!«

»Aber wir dürfen uns hier nicht länger aufhalten,« riet Hermann. »Vielleicht gibt es nach der anderen Seite hin ein Entkommen.«

Lionel sah vorsichtig über das nickende Schilf hinweg. »Es ist kein Mensch in der Nähe!« meldete er.

»Dann laßt uns nur sehen, wo wir bleiben.«

»Aber unter dem Grünen steht ja hier schon Wasser, – höchst wahrscheinlich geraten wir in den Sumpf.«

Sie wanderten vorwärts und unter ihren Füßen verlor der Boden an Festigkeit, während die Eichen und Kiefern allmählich den Weidenbäumen Platz machten und zwischen der niederen Pflanzenwelt hohe, alte Stämme erschienen, gewaltige Wurzeln weit von sich ab in die Umgebung streckend, ausgehöhlt vielleicht, Vögeln, Schlangen und Eichhörnchen als Zufluchtsorte dienend, umrankt von Epheu, der seine grünen Blätter bis in die Kronen hinaufsprossen ließ, um dann an einem benachbarten Riesen eine neue Stütze zu suchen und an schlanken Ästen durch die Luft zu ihm hinüber zu klettern.

Die gelbe Butterblume blühte hier, die Wasserrose trieb ihre schönen, großen Blüten, die weiße, fleckige Sumpfnelke und das Rohr mit den braunschwarzen Kolben. Immer feuchter und feuchter wurde der Boden, die fünf jungen Leute sprangen mehr als sie gingen, über Wurzeln und abgestorbene Baumstämme dahin, endlich floß zwischen dem Geranke am Boden klares Wasser und nun war es unmöglich, weiter vorwärts zu gelangen.

Einer der jungen Leute versuchte mit einem abgebrochenen Aste die Tiefe zu messen, aber das erwies sich als vergeblich; der Stock verschwand, ohne den Grund erreicht zu haben.

Wolken von Moskitos umschwärmten die Köpfe der Soldaten, hie und da über die Baumwurzeln schlüpften große, widerwärtig aussehende Schlangen, – es war undenkbar, hier noch viel länger zu bleiben.

»Eine verzweifelte Lage!« seufzte einer der jungen Leute. »Was sollen wir jetzt nur beginnen, um wieder zum Regiment zu gelangen?«

»Sage doch lieber, um den ersten Hunger zu stillen! Man ging aus in der Hoffnung, irgendwo Vorräte aufzutreiben.«

»Ich will einmal auf einen Baum klettern,« schlug Lionel vor.

»Aber du wirst der Blätter wegen nichts sehen können.«

Unser Freund opferte die ohnehin arg mitgenommene Uniform der vereinigten Staaten und erklimmte als flotter Turner den astlosen Stamm bis zu seiner vollen Höhe; hier hielt er Umschau nach allen Seiten.

»Eine Entdeckung!« rief er dann den Untenstehenden zu.

»Welche? Welche?«

»Ich sehe ein großes Boot, es liegt an der Kette.«

»Können wir es es erreichen?«

»Vielleicht! – Hm, ja, ich glaube wohl!«

»Sonst gibt es nichts zu bemerken,« fügte er dann bei und begann den mühsamen Rückweg zum Erdboden. »Es steigt auch kein Rauch mehr auf.«

Als die rettende Baumwurzel am Wasserrande mit Mühe wieder erreicht war, drang Lionel, mit dem Säbel das Geranke zerschlagend, nach rechts hin vor, und sämtliche übrigen kletterten ihm nach. Es mußten Dickichte umgangen und Untiefen übersprungen werden; mit saurer Mühe warfen die Soldaten ganze Massen von hohem, dichtverschlungenem Schilf vor sich nieder, bis endlich ein Baumstamm aus dem Wasser aufragte und schaukelnd in den blauen Fluten an demselben ein großes schwarzes Boot erkennbar wurde.

Der erste sprang mit einem Satz hinein und die anderen folgten. »Seht her,« rief Hermann, »das Schloß ist heute geschmiert worden, die Öltropfen glänzen noch ganz frisch.«

»Und der Schlüssel steckt darin, das ist das beste bei der Sache.«

Sie lösten die Kette und nahmen vom Boden des plumpen Fahrzeuges vier tüchtige Riemen, – jetzt konnte die Reise beginnen, aber wohin? Das Wasser glitzerte in weiter Runde unter den Bäumen, es gab kein Zeichen, das irgendwie als Wegweiser hätte dienen können, oder das auf eine gewohnte Fahrstraße schließen ließ. Wem gehörte überhaupt das Boot? Wozu wurde es benutzt?

Lauter Rätsel!

»Wir wollen aber doch erst einmal weiter fahren, nicht wahr, Kameraden? Umkehren können wir ja zu jeder Zeit.«

Die übrigen stimmten bei. »Hat niemand ein Stück Brot im Tornister?« fragte einer von ihnen.

»Ich nicht! – Ich auch nicht!«

Es fand sich keine Krume. »Verdammte Geschichte das! Man ist durchnäßt wie eine gebadete Katze und soll nun auch hungern.«

Lionel lachte, er selbst konnte jede Entbehrung, jeden Mangel an Bequemlichkeit spielend ertragen, auch jetzt betrachtete er das Abenteuer als eine Art von Vergnügen, ein Ereignis, dem man die beste Seite abzugewinnen suchen mußte. »Wenn ich erst wüßte, wo wir landen werden!« rief er aus.

»Möglicherweise liegt auch das vertrackte Boot als Lockspeise hier, lediglich um uns den Konföderierten recht bequem in die Hände zu liefern.«

»Das wäre doch des Teufels! Aber man kann ja vorher sehen, in welche Verhältnisse man sich hinein begibt.«

Die Riemen wurden jetzt eingelegt und das Boot glitt hinaus in das dunkle Wasser unter den Bäumen. Jemand sah nach der Uhr, – es war gegen sieben Uhr und die Abendfinsternis mußte bald hereinbrechen. Ein unheimlicher Gedanke.

»Ob wir unser Regiment jemals wiedersehen werden?« fragte Hermann.

»Wie kleingläubig du doch bist! Wer weiß denn, ob nicht die Kameraden jetzt schon eine Streife unternommen haben, um uns herauszuhauen? Das Gesindel wird doch nicht gerade an diesem Punkte den Sieg behalten!«

Niemand antwortete und so glitt das Boot unter dem tiefsten Schweigen seiner Insassen eine Strecke weit fort, bis große Baumwurzeln den Weg sperrten. »Wir sind also nicht in der richtigen Fahrstraße,« bemerkte Lionel.

»Wenn es eine solche überhaupt gibt. Vielleicht wird das Boot nur zum Fischen oder zur Entenjagd benutzt.«

Wieder entstand eine lange Pause. Die Riemen furchten das Wasser; nur ganz langsam, mit äußerster Vorsicht wurde das Boot fortbewegt und endlich hielten die Ruderer vollkommen inne. »Einerlei, wo wir die Nacht verbringen, nicht wahr? Man muß fürchten, daß der alte Kasten umschlägt.«

Niemand widersprach, aber die meisten legten ihre Hände vor das Gesicht. Hier auszuharren bis an den Morgen in Wind und Regen, hungernd, flüchtig, – welch' ein überaus trostloser Gedanke!

»Wollen wir nicht die Nacht in zwei oder vier Wachen einteilen, damit wenigstens die Hälfte von uns schlafen kann?«

Es war Lionel, der den Vorschlag machte. Die anderen nannten ihn einen kecken Burschen, der nicht totzumachen sei, aber sie bequemten sich doch seiner Anordnung und einer unter ihnen übernahm mit ihm zusammen die erste Wache.

Lange, inhaltsleere Stunden gingen vorüber; stetig fiel der Regen herab, unheimlich singend und sausend fuhr der Wind durch das Geäst. Unter den Soldaten war keiner, der die Gegend genauer kannte, kein Eingeborner des Landes, niemand wußte, ob sich möglicherweise der Sumpf noch meilenweit hinausdehnte, ob er nicht etwa im Kreise bis zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrte.

Auf dem Boden des Fahrzeuges schimmerte hellglänzend das angesammelte Wasser, die Kleider der Soldaten hatten sich total vollgesogen, ihre Hände und Gesichter trieften. Bis auf die Höhe einer einzigen Spanne lag das Boot in den dunkeln Fluten.

»Wir müssen das Wasser ausschaufeln,« riet Lionel.

»Ganz gut,« nickte der andere, »aber womit?«

Statt aller Antwort nahm unser Freund seine beiden Hände und fing an, die eingedrungene Feuchtigkeit über Bord zu werfen. Der andere lächelte sauersüß. »Bist du den gar nicht hungrig,« fragte er, »friert dich nicht, verlierst du bei solchem Schandwetter nicht den Mut?«

Lionel schüttelte den Kopf. »Werden alle diese Übelstände gehoben, wenn das Boot Zoll um Zoll immer tiefer versinkt, du?«

»Ach, es regnet ja in jeder Minute wieder herein, was wir hinausschaffen.«

»Die Sache ist also ein wahres Duell auf Tropfenschauer. Ich habe die bestimmte Absicht den Sieg zu behalten.«

Jetzt lachte der Soldat, so daß die übrigen erwachten. Trotz der Kälte wurden sämtliche Kleidungsstücke ausgerungen und das Wasser aus den Stiefeln gegossen. Es war eine schaurige Nacht, trostlos und öde.

»Morgen greife ich lebendige Amphibien und verzehre sie,« meinte einer. »Hei, wie müßte ein Schlangenragout schmecken, oder Frikassee von Fröschen!«

»So weit ist es schon mit dir? Ich lebe noch achtundvierzig Stunden ohne ein bißchen Nahrung, und ohne Qualen zu empfinden.«

»Streitet nicht, Kinder! Laßt uns lieber ein Lied singen.«

»Um Gottes willen! Wo vielleicht auf hundert Schritt Entfernung die Feinde wachen und uns über den Hals kämen.«

»Damit hat es keine Not, glaube ich. Aber wenn ihr es für besser haltet, können wir ja auch ohne einen Schwanengesang an Frost und Hunger zu Grunde gehen.«

»Aufgepaßt!« flüsterte Lionel. »Da in der Ferne schimmert ein Licht.«

»Wo denn? Wo?«

Und sie drängten alle nach einer Seite, so daß der Kahn beinahe umschlug. »Wahrhaftig, da erglänzt ein Funke!«

»Und er bewegt sich, er – ja, ich sehe es mit voller Gewißheit, – er nähert sich dieser Stelle.«

»Das habe ich gleich bemerkt. Ein Boot also.«

»Und wir sind ohne Waffen!«

»Nur still jetzt, Kameraden! Über das Wasser schallt es sehr stark.«

Sie schwiegen alle und sahen gespannten Blickes hinaus auf den hellen Stern, der die Finsternis mehr und mehr durchleuchtete. Ein schmaler, scharfer Strahl fiel gerade aus, im übrigen blieb alles dunkel, – auch die, welche da im Boote saßen, schienen besondere Vorsicht zu üben, denn sie sprachen nicht und ihre Ruderschläge erklangen so leise als möglich.

»Sie kommen uns gerade entgegen,« raunte Hermann. »Wenn wir entdeckt werden, so ist alles verloren!«

»Pst! Pst! – Kein Wort mehr.«

Das Boot hatte sich bis auf zehn Schritte Entfernung genähert, es war ganz flach wie eine Fähre und sehr groß. In der Mitte standen Säcke aufgestapelt, während an allen vier Ecken dunkle Gestalten die Ruder führten und ein fünfter Mann das Steuer handhabte. Mit vollkommener Sicherheit wurde das Fahrzeug zwischen den Baumstämmen hindurch geleitet, einem unbekannten Ziele entgegen.

Lionel sah von einem zum anderen. »Neger!« raunte er.

Die Blicke seiner Genossen antworteten ihm, alle hatten es bemerkt. Ganz geräuschlos, unter dem vollkommensten Schweigen seiner Insassen glitt das große Boot vorüber und in die dichte Finsternis hinaus.

Lionel hob sich auf die Zehenspitzen. »Einen leichten Schimmer wirft die Laterne auch nach rückwärts!« flüsterte er.

»Das heißt doch, wir sollten den Negern folgen, nicht wahr?«

»Ich denke es, – für meine Person würde ich es wagen.«

»Weil dir jedes Abenteuer recht zu sein scheint. Was sagt ihr anderen?«

»Ich gehe mit dir, Lionel!«

»Wir auch. Hier an diesem schauderhaften Orte ist uns ja der Untergang auf alle Fälle gewiß.«

»Dann aber rasch!« ermahnte Lionel. »Wir dürfen keine Minute verlieren.«

Mit erneuter Kraft ergriffen alle die Riemen und ihre halberstarrten Glieder belebten sich zusehends, als das von der Kette gelöste Boot über den Wasserspiegel dahinflog und sich dem vorausgegangenen langsam näherte, indem es in seiner Spur blieb.

Der schwache Lichtschein diente als Führer, – stumm ruderten in der stillen Mitternacht die Männer auf beiden Fahrzeugen mit allen Kräften vorwärts, bis nach etwa einer Viertelstunde das Boot der Neger in langsameres Tempo fiel. Ein dunkler Streif, breit und lang gedehnt, schien sich vor den Blicken der Soldaten quer über das Land zu ziehen.

»Land!« raunte jemand. »Festes Land!«

»Ein Versteck der Schwarzen!«

Das Boot mit den Negern legte an, es rasselte eine Kette und durch die Nacht schallte der Ruf einer heiseren Krähe.

»Ein Signal!« flüsterte Hermann. »Es sind also Schwarze hier herum versteckt!

Die Krähe erhielt aus der Tiefe des Gebüsches eine Antwort und bald darnach erschienen wie Leuchtkäfer in der Finsternis mehrere vereinzelte Laternen, die sich alle dem Boote näherten. Der Platz um dasselbe wurde beleuchtet, es zeigte sich ein hohes, mit reichlichem Graswuchs bestandenes Ufer, das schöne Bäume trug und über welches ein deutlich erkennbarer Weg ins Innere führte. Sechs bis sieben Schwarze kamen zum Vorschein.

»Hier ist also das Nest!« raunte Lionel. »Einstweilen müssen wir uns vollständig verborgen halten.«

Die Neger führten ein leises Gespräch, sie ergriffen die Säcke und trugen dieselben landeinwärts, bis der letzte Mann die Riemen und die Laterne nahm, um, in das Gebüsch tretend, alles dunkel und vereinsamt zurückzulassen.

»Warten wir!« flüsterte Lionel. »Es muß ja endlich wieder Tag werden.«

»Aber wollen wir nicht an das Land gehen? Man möchte festen Boden unter den Füßen fühlen, – ich wenigstens.«

Einer nach dem andern sprang an das Ufer, der Kahn wurde unter eine herabhängende Weide gezogen und sehnsuchtsvollen Herzens erwarteten alle den Sonnenaufgang.


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