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XII.

Auch der nächstfolgende Tag wurde zur Schonung der Frau Neubert noch an demselben Lagerplatze verbracht und dann der Marsch wieder angetreten. Mr. Forster konnte höchstens fünf Minuten ohne Stütze gehen, dann brach er zusammen und mußte getragen werden, wobei immer Bill und Martin das Beste leisteten. Zuweilen lösten die beiden jungen Leute sie ab, aber doch immer nur für kurze Zeit, dann versagten die Kräfte und wenn nicht der Kranke in dem unwegsamen Walde allein und schutzlos zurückbleiben sollte, so mußten die Fischer wieder anfassen und ihn weitertragen. Diese ganze Wanderung war für die Männer eine Geduldsprüfung, der sie fast zu erliegen drohten.

Immer an den Ufern des kleinen Flusses dahingehend, machte man etwas nach Mittag ungefähr auf der letzten Hälfte des ganzen Marsches wieder eine Ruhepause von vierundzwanzig Stunden. So wundervoll auch die Umgebung meistens allenthalben gewesen war, hier, in der Nähe des Flusses, gestaltete sie sich zu einem Blumengarten von ungeahnter Schönheit. In förmlichen Wäldern blühte der Tulpenbaum, umrankt von purpurnen Bignonien und geschmückt mit den Blütenschäften der Yukka, an welcher gegen zweihundert weiße oder hellrote Blumen von Lilienform zwischen den großen, fleischigen, mit weißen Fransen versehenen Blättern herabhingen. Diese Schäfte wurden bis zu zwölf Fuß hoch und hatten Armesdicke: zuweilen waren auch sie von den purpurnen Bignonien ganz umflochten, so daß die Pflanzen aussahen, wie lebende, farbenprächtige Bosketts.

Unter dem Schatten eines hohen Tulpenbaumes wurde das Zelt aufgeschlagen und der Ruhe gepflegt. Bill und Martin wuschen für die ganze Reisegesellschaft, die Kinder spielten und die Erwachsenen lagen im Gras, um zu schlummern. Lionel trug noch immer nasse Polster auf seiner, von der Vogelspinne zerkratzten Hand, die Schrammen heilten nur sehr langsam und brannten äußerst unangenehm, obwohl Neubert sie mit Kühlsalbe behandelte und mehrere Male täglich wusch.

»Sieh doch diese zahllosen Vögel,« meinte Hermann. »Sie schwirren um die Yukkastämme, wie Mücken. Ich glaube, es sind Spechte.«

»Kupferspechte!« bestätigte Bill. »Wissen Sie auch, was die Tiere hier bei den Schäften der Yukka eigentlich machen, junger Herr?«

Beide Knaben verneinten.

»Nun,« fuhr Bill fort, »dann beobachten Sie einmal das Treiben, es ist merkwürdig genug, sollte ich denken!«

Lionel und Hermann legten sich so, daß sie den Schaft der nächsten Pflanze, selbst versteckt, doch genau im Auge behalten konnten und nun entwickelte sich vor ihren Blicken ein Schauspiel, wie sie es vorher noch niemals gesehen hatten. Ab und zu flogen die schwarz und orangerot gezeichneten, etwa dreißig Zentimeter messenden Spechte und huschten jedesmal unter das Blätterwerk der Yukka, um dort eine Zeitlang zu bleiben und dann wieder fortzueilen. Bei diesem Spiel hatte keiner der Vögel seine besondre Pflanze im Auge, sondern alle kamen und gingen, wie es eben der Zufall mit sich brachte.

»Was tragen die Tiere im Schnabel?« flüsterte Lionel. »Sie kommen beladen hier an und ziehen leer wieder fort.«

»Ich glaube, es sind Eicheln, die sie herbringen.«

Lionel schüttelte den Kopf. »Auf dem ganzen Wege haben wir keine Eiche gesehen! Woher sollten also die Früchte kommen?«

Hermann deutete verstohlen auf einen Vogel, der eben in das Gewirre der weißen und purpurnen Blüten hineinschlüpfte. »Siehst du wohl!« flüsterte er.

»Wahrhaftig! Wahrhaftig!«

Der Specht legte die Eichel, welche er im Schnabel herbeigetragen hatte, sorgfältig in den Kelch einer Blume, dann klammerte er sich nach der bekannten Art seiner Gattung gleichsam stehend an den Schaft der Yukka und begann zu hämmern, bis die äußere fleischige Rinde durchbrochen und die hohle Mitte der Pflanze erreicht war. Nun holte er seine Eichel sorgsam aus der Blume hervor und schob sie in den Spalt so tief hinein, daß sich die zerschnittenen Seitenwände über ihr schlossen, dann flog er eilends davon.

»Eine Vorratskammer!« raunte Hermann. »Sieh, da kommt ein neuer Specht!«

Der nächste Vogel besah, ehe er sich anklammerte, den Blütenschaft von allen Seiten, und hackte darauf das Loch für seine Eichel so hinein, daß es dem ersten gegenüberstand und also nicht etwa die Wunde des Stammes vergrößern konnte.

Nach ihm kamen noch ungezählte andre Vögel, die sämtlich in gleicher Weise verfuhren, bis gegen die Krone hin der Schaft zu eng wurde, um noch Eicheln in sich aufnehmen zu können. Als die Yukka von den Spechten ganz verlassen war, traten alle hinzu und besahen aus nächster Nähe das Wunder. Vom Erdboden bis zum obersten Ausläufer trug der Schaft in seinem hohlen Innern Eichel an Eichel, die nun kein andres Tier aus diesem sichern Versteck mehr zu stehlen vermocht hätte. Bill kannte das Verfahren der Spechte ganz genau.

»So legen sie ihre Vorratskammern an,« sagte er. »Es ist, als wüßten die Tiere, daß ihnen die zu Boden gefallenen reifen Eicheln von zahllosen andern Geschöpfen geraubt werden und daß sie selbst während der ungünstigen Jahreszeit ohne diese Vorsichtsmaßregel Hungers sterben müßten, sie sammeln daher emsig, so lange es Eicheln gibt und schleppen sie wie die Hamster zu Nest.«

»Aber woher?« fragte Neubert. »Mich deucht, man sieht hier niemals Eichen.«

»Das habe ich ja auch schon gesagt!« warf Lionel ein.

»Die Eichen stehen mehr in den Gebirgsstrecken, meilenweit von hier, aber der Vogel findet doch den Weg zu den Yukkastämmen, denn wenn er die Rinde von morschen Eichen abspaltet, so geschieht es ihm, daß die Früchte versinken und unerreichbar werden. Meine Eltern waren Farmersleute, Sir, ich habe in den Wäldern dieses Landes meine Jugend verlebt, daher kenne ich die Natur hier herum ganz genau.«

Neubert reichte ihm die Hand. »Es war zu unserm Glücke, daß wir Sie kennen lernten, Bill, Sie und den guten Martin. Hoffentlich kann ich Ihnen allen Schaden ersetzen und alle Mühe reichlich vergelten.«

Der Fischer nickte treuherzig. »Wir wissen wohl, wie es im ganzen Süden den Deutschen ergangen ist,« sagte er, »und daß das sogenannte Vigilanzkomitee aus lauter Schuften besteht; wir haben Ihnen daher gern geholfen und werden auch ferner ausharren, bis Sie alle geborgen sind.«

Frau Neubert schauderte. »Die Entscheidung ist nun so nahe!« sagte sie. »Möchte doch der Himmel geben, daß wir die feindliche Grenze unangefochten überschreiten können.«

Eine längere Pause folgte diesen Worten. Der Abend begann sich langsam herabzusenken, die Vogelwelt verschwand und stiller und stiller wurde es ringsumher.

»Wo sind nun die Spechte?« fragte Lionel. »Hier oder in den Eichenwäldern?«

»Drüben!« versetzte Bill. »Dies hier sind nur die Vorratskammern. Wenn später alle Blätter und Blumen vertrocknet am Boden liegen, wird der Stamm zerhackt und sein Inhalt hervorgezogen.«

Er deutete mit der Hand zu den Waldwipfeln empor und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber plötzlich veränderte sich der Ausdruck seines Gesichtes. »Was ist das?« rief er.

»Wo? – Wo?«

»Ein Feuerschein!« rief Martin.

Jetzt sahen es alle. Eine rote Lohe stieg am Horizont langsam immer höher empor, schwarze, dicht geballte Rauchwolken vor sich herwälzend; es war, als brenne eine ganze, weitgedehnte Strecke und als gewinne das Feuer noch immer an Ausdehnung. Bestürzt sahen die Flüchtlinge einander an.

»Nahe ist uns der Herd dieses Brandes nicht,« sagte endlich Neubert.

»Aber er befindet sich an der Stelle, die wir morgen zu erreichen hoffen, Papa!«

Ein dumpfer, langhallender Ton begleitete diese Worte, ein Kanonenschuß, den alle als solchen erkannten, dem ersten folgten in kurzen Zwischenräumen eine starke Anzahl weiterer, auch Gewehrfeuer mischte sich hinein, und höher und höher stiegen am glutüberströmten Himmel die schwarzen, gehäuften Wolkenmassen.

In der Entfernung von kaum einer Meile wurde auf Tod und Leben gekämpft, jedenfalls um den Besitz der Bahnlinie, die den Flüchtlingen als letzter, einziger Hoffnungsanker diente, die erreicht werden mußte, wenn nicht alle Anstrengungen der ganzen Reise, alle Qualen und Entbehrungen vergebens gewesen sein sollten.

Wie ein nicht endender Donner klang es durch die Luft, erschütternd und betäubend zugleich. Es dachte keiner unter allen mehr an eine harmlose Belustigung, an Gespräch oder Abendessen, – sie horchten gespannt und unruhig, mit klopfenden Herzen.

Die Kinder wurden auf ihre Decken gelegt, sie allein schliefen, während die Erwachsenen stumm und in trüben Gedanken bei einander saßen. Wenn es Infanterie war, die da geschlagen und zurückgeworfen wurde, so konnten die Soldaten in jeder Stunde hier erscheinen.

Aber welche? Konföderierte oder Regierungstruppen?

»Die Schlacht zieht sich nach links!« sagte Bill kopfschüttelnd.

»Ist das ein unglücklicher Ausgang der Dinge?« fragte mit versagender Stimme Frau Neubert.

»Ich fürchte, ja, denn wenn die Nordarmee den Sieg behalten hätte, so würde sie in die Reihen der Konföderierten vorgedrungen sein.«

Der Kaufmann nickte stumm. Bills Berechnung war richtig, das erkannte er.

Die Nacht verging ohne Schlaf, ja, ohne daß einer der Flüchtlinge auch nur die Augen geschlossen hätte. Gegen Morgen verstummte der Kanonendonner, die Röte am Himmel verlor sich und alles wurde still, aber in den Herzen blieb die Unruhe quälend zurück. Sollten die bedrängten Menschen wagen, sich unter so gefährlichen Umständen auf die Wanderschaft zu begeben, vielleicht dem Feinde gerade entgegen?

Wer im Gebiete zweier kämpfender Truppenteile aufgefunden wurde, den hängten die Konföderierten ohne Umstände als Spion an den nächsten Baum, das wußten Neubert und die beiden Fischer nur allzu wohl.

Bill und Martin flüsterten mit einander, endlich machte sich der letztere daran, einige Lebensmittel zusammenzupacken und seine Person möglichst zu säubern. »Es ist nicht anders,« sagte er, »ich gehe voraus, um Kundschaft einzuziehen. Wer weiß denn, wie weit die Truppen überhaupt schon vorgedrungen sind? Da kann man unmöglich die Frau und die Kinder so ohne weiteres ins Verderben schicken.«

Bill nickte. »Das ist auch meine Meinung,« sagte er. »Wir müssen bis zu Martins Rückkehr hier bleiben und uns gedulden.«

Frau Neubert rang die Hände. Wieder ein Tag der Ungewißheit!

Die Fischer bereiteten etwas Kaffee, dann, nachdem notdürftig gefrühstückt worden war, reichte Martin den übrigen der Reihe nach die Hand zum Abschied. »Adjes, Sir! Adjes, Ma'am! – Ich will nun bis zur Station vordringen und überall genaue Erkundigungen einziehen. Verlassen Sie sich auf mich! Wenn mir Gott das Leben schenkt, so bin ich heute abend zurück.«

Neubert bemühte sich vergebens, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Martin,« sagte er, »denken Sie zunächst an Ihre eigne Sicherheit! Ich würde es nie im Leben vergessen können, wenn Ihnen um unsertwillen ein Leides geschähe.«

Der Fischer lächelte zuversichtlich. »Ich werde schon durchkommen,« meinte er. »Machen Sie mir nur das Herz nicht schwer. Adjes! Adjes!«

Und dann ging er davon, ohne Waffen, ohne einen Freund oder Begleiter, nur in der Absicht, andre vor Unglück zu bewahren. Vom Himmel lachte die helle Sommersonne, tausend Blumen und Knospen wehten im Morgenwind und bunte, schöngefärbte Schmetterlinge spielten in der warmen Luft, aber die Zurückgebliebenen sahen davon nichts, ihnen erschien unter dem Eindruck der letzten Nacht das Leben öde und grau, sie horchten unwillkürlich mit klopfenden Herzen, ob nicht in jeder Minute der schreckliche Kanonendonner wiederkehren werde.

Es gab an diesem Tage nichts, das die Flüchtlinge hätten vornehmen können, darin lag die ärgste Pein. So lange der Mensch arbeitet, so lange Gehirn und Hände für irgend einen bestimmten Zweck – und sei es der geringfügigste, – mit einander thätig sind, so lange trägt er jedes Leid, aber wenn die Arbeit fehlt oder überflüssig wurde, dann entsteht ein dumpfes Gefühl der Sehnsucht, dann ist das Herz unglücklich.

Sie wagten kaum laut zu sprechen, die geängstigten Menschen, sie entzündeten kein Feuer und nur die Kinder aßen mit wirklichem Appetit, alle anderen suchten ein paar Bissen zu verschlucken, schoben aber dann sogleich den Teller zurück, – sie konnten außer klarem Wasser nichts hinunterbringen.

So verging der Tag. Aus Morgen und Mittag wurde der Abend, hell am Himmel funkelten die Sterne, aber Martin war nicht zurückgekehrt. Ob er noch lebte? Ob sie den treuen Gesellen jemals wiedersehen würden?

»Sir!« bat Mr. Forster. »Auf ein Wort!«

Neubert näherte sich seinem unfreiwilligen Gaste. »Nun, Sir?« fragte er ernst, aber in freundlichem Tone, »was ist es, womit ich Ihnen dienen kann?«

Der Verwundete deutete auf eine vorspringende Baumwurzel hart an seiner Bahre. »Setzen Sie sich dahin, Mr. Neubert, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

Der Kaufmann willfahrte diesem Wunsche. »Ich höre!« antwortete er ruhig, aber in einem, wie es schien, bereits jetzt merklich kühleren Tone. »Bitte, sprechen Sie, Sir!«

Der Kranke nickte. »Well! Das soll geschehen. Wissen Sie, daß ich ein reicher, ja, ein sehr reicher Mann bin, Mr. Neubert?«

»Man sagt es!« versetzte der Kaufmann.

»Und mit Recht, Sir, mit Recht! Nun gut, wissen Sie auch, daß in diesem Lande das Geld allmächtig ist, daß man durch seine Hilfe alles erlangen kann, selbst die Freundschaft des – – sogenannten Vigilanzkomitees! – he?«

Und die grauen, tiefliegenden Augen des Kentuckiers sandten einen forschenden, bohrenden Blick in das Gesicht des anderen. »Haben Sie mich verstanden, Sir?«

Neubert erhob sich. »Ich glaube, daß wir unser Gespräch hier abbrechen können,« versetzte er. »Eine Einigung wird nicht erzielt werden.«

»Das wissen Sie nicht, Sir, das wissen Sie nicht! Wenn Martin ausbleibt, wenn er totgeschlagen oder gefangen genommen ist, was geschieht dann? Können Sie es mir sagen?«

Der Kaufmann zuckte die Achseln. »Was Gottes Wille ist, wird über uns verhängt werden,« antwortete er. »Mein Gewissen ist rein.«

»So?« rief Mr. Forster, »da bin ich doch anderer Ansicht! Oder können Sie es dereinst verantworten, wenn Ihre Frau und Ihre kleinen Kinder in der Wildnis verschmachten? – Nehmen Sie Vernunft an, Sir! Lassen Sie mit sich reden, so lange es noch Zeit ist. Gehen Sie unverweilt und ohne Heimlichkeit in das Lager der Konföderierten, ich stehe für Sie ein, ich bringe mit meinem Gelde und dem Ansehen meiner Person alle Ihre Verhältnisse in die erwünschte Ordnung und strecke Ihnen sogar ein Kapital vor, damit Sie Ihr Haus wieder aufbauen können. Ist das nicht ein gutes Anerbieten?«

Neubert schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Mr. Forster! Oder sollte mich meine Annahme täuschen? Es ist doch bei allen den Vergünstigungen, die Sie mir zu teil werden lassen wollen, eine kleine Bedingung, nicht wahr?«

Der Kentuckier errötete. »Eine sehr kleine,« versetzte er hastig. »Ich will Ihnen mit freigebiger Hand Geschenke machen, Sie dagegen sollen mir nur mein rechtmäßiges Eigentum herausgeben! Können Sie das eine Bedingung nennen?«

»Eine unerfüllbare sogar. Wenn Lionel mein eigenes Kind wäre, so würde ich nicht eifriger, nicht wärmer für ihn eintreten, als heute. Was mir möglich ist, um einen tüchtigen und zum Gentleman erzogenen jungen Menschen vor dem furchtbaren Schicksal der Sklaverei zu bewahren, das, Sir, soll allezeit geschehen. Ich liefere Ihnen den Knaben nicht aus, und müßte ich mit ihm und meinen Kindern zu Grunde gehen. Lieber leblos, als ehrlos!«

Der Kentuckier lachte. »Erhitzen Sie sich nicht, Sir. Vielleicht komme ich ja in allernächster Zukunft vollständig ans Ziel, ohne Ihnen einen Heller schuldig zu werden. Sie können dann mit dem Galgen Bekanntschaft machen, Ihre Familie mit dem Armenhause.«

»Wie Gott will!« antwortete ruhig der Kaufmann und wandte sich ab, um wieder zu den übrigen zurückzukehren.

»Hören Sie doch! Nehmen Sie doch Vernunft an!« rief ihm mit zornigem Tone Mr. Forster nach. »Herr, Sie handeln wie ein Tollhäusler!«

Aber ihm wurde keine Antwort mehr.

Es war jetzt nahe an Mitternacht und immer noch von Martin keine Spur. Irgend ein unglückliches Ereignis mußte ihm widerfahren sein.

Abwechselnd schliefen die jungen Leute und Bill, während Neubert voll Unruhe umherwanderte. Er konnte kein Auge schließen, ohne von der Furcht für seine Lieben sogleich wieder aufgeschreckt zn werden, ihm schien es unmöglich, nicht immer zu spähen und zu horchen.

Aber die Sonne des anderen Tages ging auf, ohne daß der sehnlichst Erwartete eingetroffen wäre. Blasse Gesichter sahen einander an, – der Entschluß für die nächste Zukunft mußte nun gefaßt werden.

»Du sollst bestimmen!« sagte Neubert, indem er sich an seine Frau wandte. »Wollen wir hier noch länger bleiben oder aufbrechen?«

Die arme Frau schluchzte. »Ich weiß es nicht! – O mein Gott, ich weiß es nicht!«

»Papa,« meinte Hermann, »laß' uns noch bis morgen warten! Wir haben ja Lebensmittel genug und könnten doch ohne Martin nur sehr schwer vorwärts kommen.«

Der Kaufmann nickte, er gab das Schicksal der Seinigen verloren.

Wieder wurde es Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel, – da fiel auf den freien Platz vor dem Zelte, langsam höher und höher steigend, ein Schatten. Lionel sah es zuerst und erkannte die Gestalt eines Mannes. Die Schläge seines Herzens stockten.

»Bill!« flüsterte er. »Sehen Sie dorthin!«

Der Fischer erschrak. »Sollte es nicht Mr. Neubert sein, junger Herr?«

»Mein Vater ist bei Mama im Zelte, ich weiß es gewiß,« warf Hermann ein.

Bill erhob sich. »Nun wohl,« sagte er, »der Fuchs muß jedenfalls zum Loche heraus und zwar je eher, desto besser. Ich werde mich überzeugen, wer da im Gebüsche lauert.«

»Dann gehe ich mit Ihnen, Bill!«

Lionel eilte an die Seite des Fischers und beide gingen dem Dickicht zu, aber noch ehe sie es erreicht hatten, teilten sich die vorderen Zweige und ein schlankgewachsener junger Mann in Lederkleidung, das Gewehr auf dem Rücken, trat hervor. Sein Blick traf den des Knaben und ein Ausruf der höchsten Überraschung brach zugleich von den Lippen beider.

»Hoho! – Der junge Master Lionel!«

»Jack Peppers! Sie hier!«

Über Bills ehrliches Gesicht ging ein Ausdruck der stillen Freude. »Alte Bekannte?« fragte er lächelnd. »Und gute hoffentlich?«

»Die allerbesten!« rief Lionel, indem er des Trappers Hand ergriff und herzlich drückte. »Sagen Sie mir nur, Jack, wie es denn möglich ist, daß Sie hierher kommen? Es gibt auf mehrere Stunden Weges in dieser Gegend kein einziges Stück Wild.«

Der Trapper lächelte. »Das lassen Sie einstweilen dahingestellt, junger Herr! Es ist Mr. Neubert, den ich hier suche.«

»In wessen Auftrag, Jack? – O ich sage Ihnen, seit wir zuletzt auseinandergingen, sind schlimme Dinge geschehen, ich bin nicht mehr der Knabe von damals, nicht mehr so unerfahren, so vertrauensselig. Jack, Sie müssen mir zuerst sagen, auf welcher Seite Sie stehen, ob –«

Der Trapper unterbrach ihn. »Das gehört nicht hierher, Master Lionel! Lassen Sie mir meine politische Überzeugung und ich will nach der Ihrigen nicht fragen. Zu Ihnen komme ich jedenfalls als Freund und Helfer.«

»Von wem gesandt?« rief Lionel.

»Von Martin Davis! – Er ist gefangen.«

»Sie kennen ihn?« riefen Bill und Lionel zugleich.

»Wir sind miteinander zur Schule gegangen und haben uns auch später häufig wieder getroffen. Es war Martins Glück, daß ich mich heute im Lager befand, sonst hätte ihm die Geschichte leicht den Kopf kosten können, denn er wurde für einen Spion angesehen.«

In diesem Augenblick kam Neubert aus dem Zelte hervor; Hermann hatte ihn gerufen und jetzt näherten sich beide der Gruppe der eifrig Sprechenden. »Nicht so laut!« warnte der Kaufmann. »Es ist eine Person hier, der wir nicht trauen dürfen.«

Jack Peppers schien zu wissen, um wen sich's bei dieser Gelegenheit handle, er begrüßte Neubert und folgte ihm und den übrigen dann zu einer etwas entfernten Stelle, um hier alles genau auseinander zu setzen. Martin war in die Hände der Konföderierten gefallen und nur durch seine, des Trappers, Verwendung vor dem schlimmsten Schicksal bewahrt geblieben; jetzt hielten ihn die Befehlshaber der Truppen noch gefangen, aber schon nach wenigen Tagen würde er bestimmt entlassen werden. Einstweilen hatte er den Jugendfreund gebeten, die Flüchtlinge aufzusuchen und ihnen ratend und helfend beizustehen.

»Lassen Sie uns also aufbrechen, Sir!« setzte dieser hinzu.

»Wohin?« fragte Neubert. »Die Bahnstation ist doch höchst wahrscheinlich in den Händen der Konföderierten.«

»Noch!« entgegnete Jack Peppers. »Noch! Aber sie bleibt es nicht lange mehr! Vielleicht wird schon in dieser Nacht eine entscheidende Schlacht geschlagen werden.«

»Noch eine?« fragte schaudernd der Kaufmann. »Wir hörten erst vor kaum vierundzwanzig Stunden die heftige Kanonade.«

Der Trapper nickte. »Das war ein unbedeutendes Treffen,« versetzte er. »Das nächste Mal wird es viel schlimmer. Hinter dem Bahndamm liegen die Regierungstruppen, etwa eine Stunde von dieser Linie entfernt die Konföderierten, – heut' nacht kommt es zur Entscheidung. Die Nordarmee beabsichtigt einen Angriff, sie hat höchst wahrscheinlich Verstärkung erhalten.«

»Und das alles wissen Sie so bestimmt, Jack?«

Der Trapper nickte. »Man hört so dies und jenes!« versetzte er. »Es wäre mir übrigens sehr lieb, wenn wir aufbrechen könnten!«

Neubert zögerte. »Offen gestanden, bliebe ich lieber bis nach der Schlacht hier!« sagte er. »In der nächsten Umgebung des Kampfplatzes scheint mir die Unsicherheit naturgemäß am größten zu sein.«

Der Trapper wiegte den Kopf. »Wie Sie wollen, Sir! Aber ich gebe Ihnen zu bedenken, daß vielleicht die Konföderierten hierher zurückgedrängt werden. Sie sind umzingelt, große Strecken gehen in diesem Augenblick der Sache des Südens verloren.«

»Hierher?« rief Neubert erschrocken. »Ja, dann freilich wäre für uns alles dahin. Daß wir Flüchtlinge sind, die bei den Regierungstruppen Schutz suchen, ist wohl nicht zu verheimlichen, außerdem aber haben wir den Verräter im eigenen Lager.«

»So lassen Sie uns eilen!« mahnte Jack Peppers.

Und nun erfolgte der Aufbruch. Obwohl Mr. Forster vor Neugier und Unruhe beinahe verging, erfuhr er doch über die Person des Trappers und den Grund seiner Anwesenheit keine Silbe; Jack Peppers trug die Bahre, als habe er in seinem Leben nie anderes gethan, den Fragen des Verwundeten aber setzte er ein beharrliches Schweigen entgegen. Das immer wiederholte: ›Hören Sie, guter Freund!‹ oder: ›Bitte, mein Lieber, auf ein Wort!‹ schien an den Ohren des schlaublickenden jungen Mannes vollständig unbemerkt vorüberzugehen, selbst dann noch, als das Ziel schon erreicht war und Mr. Forster sich zwischen den Ausläufern einer Felskette gefangen sah. Der Platz, welcher seiner Bahre angewiesen wurde, erlaubte ihm keinerlei Ausblick auf die Umgebung, man brachte ihm Wasser und Lebensmittel, aber er war zum Schweigen, zum Abwarten verurteilt, und das ließ ihn vor Ungeduld fast ersticken.

Jack Peppers hatte den Platz vortrefflich ausgewählt; hierher kam weder die siegreiche, noch die flüchtende Partei, obwohl sich beide ganz in der Nähe befanden. Die versteckte Vorratskammer wurde geplündert und reichliche Mengen von Genußmitteln herbeigeschafft, dann verschwand der Trapper, nachdem ihm Neubert versprochen hatte, auf keinen Fall diesen Zufluchtsort zu verlassen, bis er selbst kommen und das Nähere darüber verabreden werde.

Bill zog zwischen zwei kahlen Klippen einige Leinen und befestigte daran die Wolldecken, welche ein erträgliches Zelt bildeten. Frau Neubert und die Kinder erhielten ihr Lager aus Moos und Decken; das Ganze wurde mit grünen Zweigen belegt und so auch dem geübtesten Blicke verborgen. Jetzt brach die Nacht herein, hie und da wieherte ein Pferd, oder erklang ein Hornsignal, Wachtfeuer loderten auf, Anrufe wurden gehört. Die Konföderierten hatten ihr Lager in unmittelbarer Umgebung des Platzes, an welchem die leeren Bagagewagen standen.

Hell vom Himmel strahlte der Mond, – noch war alles still, so still, als sollten nicht in dieser Nacht Hunderte und Aberhunderte von jungen, blühenden Männern auf schreckliche Weise ihr Leben verlieren, als sollte nicht der helle, silberne Schein sich spiegeln in ganzen Strömen vergossenen Blutes. Noch war alles still!

Aber nein doch, – nicht ganz!

Neubert und die jungen Leute waren im Schatten der Felsklippen unhörbar hinaufgeklettert zur höchsten Spitze derselben. Ein sonderbares Schauspiel fesselte ihre Blicke. Am Fuße der Bergkette zwischen dieser und dem Eisenbahndamm marschierte im langsamen Schritt, außer aller militärischen Ordnung ein Regiment Regierungstruppen in den blauen Uniformen und mit voller feldmäßiger Bepackung. Die Leute schlichen, um nicht gehört zu werden; wie Katzen auf den Raub ausgehen, so drangen sie vorwärts, bald einer allein, bald mehrere, um dann im dichten Walde zu verschwinden.

Jenseits der Bahn schimmerten Lichter. Da lag das kleine Häuflein Blauer, dessen wenige Kanonen und ungenügende Mannschaft bisher den Konföderierten keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochten. Jetzt war Verstärkung gekommen, – der Kampf sollte in dieser Nacht wieder aufgenommen werden.

Wie ein dunkler Punkt in den weißen Mondstrahlen lag das Bahnhofsgebäude, lagen in einiger Entfernung die Dächer des Städtchens, dem die Station angehörte. Eine Kirche streckte den schlanken Turm gen Himmel, Fabrikschornsteine ragten empor, daneben einzelne Villen am Berggebäude und enggedrängt die Häuser der Bürger. Noch immer bewegte sich die lebende, blaue Schlange, noch immer zogen unablässig die Soldaten der Regierungsarmee gegen den Punkt, der während dieser Nacht den Rebellen für immer entrissen werden sollte.

Neubert und die übrigen sahen einander an. »Gott sei gepriesen, daß uns der Trapper hierherbrachte,« flüsterte der Kaufmann. »Die Konföderierten können, wenn sie zurückgeworfen werden, nur dahin flüchten, wo wir zuletzt lagerten.«

»Hierher auf keinen Fall!« nickte Bill. »Wir befinden uns beinahe im Rücken der Blauen, die ohne Zweifel zwischen dieser Bergkette und den Konföderierten Stellung nehmen.«

Hermanns Augen sandten einen plötzlichen Blitz. »Papa, so laß' uns doch behutsam an der anderen Seite des Felsens hinabklettern und bei dem Befehlshaber der Regierungstruppen um Schutz bitten! Die Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder.«

Neubert schüttelte den Kopf. »Nein!« antwortete er. »Nein, mein Junge! Ich habe unserem freundlichen Führer versprochen, ohne ihn nichts zu unternehmen und das muß ich unbedingt halten. Es ist ja auch immerhin möglich, daß die Blauen geworfen werden.«

»O nein! – Nein! Bei solcher Übermacht!«

»Du weißt nicht, wie viel Verstärkung auch die Gegner erhalten haben!«

»Aber jetzt,« fügte der Kaufmann hinzu, »jetzt will ich deine Mutter beruhigen und ihr den Verlauf der Dinge ein wenig auseinandersetzen. In kurzem beginnt das Schießen, sie könnte erschrecken.«

»Kommen Sie wieder hierher, Sir?« fragte Lionel.

»Ja, mein Lieber! Sieh unterdessen einmal nach unserem Gaste, oder bitte Bill, hinunterzugehen. Wir dürfen ihn nicht unbewacht lassen.«

»Vor fünf Minuten lag er noch auf seiner Bahre!« berichtete Bill.

»Einerlei, – ich gehe hin. Wir können hier oben eine Flasche Wein ganz gut gebrauchen, wie mir scheint, – ich hole eine.«

»Bringe eine Handvoll Zwieback mit!« rief Hermann.

»Well! So viel du essen magst!«

Und Lionel huschte im Schatten davon, aber schon nach kaum einer Minute kam er zurück. »Mr. Forster ist nicht da!« stammelte er.

Bill erschrak heftig. »Nicht da, junger Herr? Um Gotteswillen, wo wäre er denn?«

Lionel zuckte die Achseln. »Der Himmel weiß es!«

»Dann müssen wir ihn suchen!« entschied Bill. »Dieser Elende sinnt auf Verrat, er will sich mit den Rebellen in Verbindung setzen, um uns an das Messer zu liefern.«

Auch Hermann sprang herab und sein Vater wurde schleunigst von dieser unerwarteten Flucht in Kenntnis gesetzt. Auf seinem Gesicht kam und ging die Farbe, er schien sehr ernst. Nach dem gestern stattgehabten Gespräch ließ sich von Mr. Forsters leidenschaftlichem Hasse das Schlimmste erwarten. »Sucht! Sucht!« sagte er in gepreßtem Tone. »Wir wollen einzeln die verschiedenen Richtungen abstreifen.«

Sie trennten sich ohne Zeitverlust, wobei Lionel dem Lager der Konföderierten direkt entgegenging. Ein unabweisliches Gefühl sagte ihm, daß er Mr. Forster auf diesem Wege treffen werde.

Rechts von ihm stäubte der kleine geschwinde Bach die weißen Wasserperlen hoch empor, es rauschte und murmelte in der steinigen Tiefe, es plätscherte leise gegen das Ufer. Zuweilen fiel ein Mondstrahl wie ein helles Band quer über den Weg, dann untersuchte Lionel den Boden. Alles Stein und nackter Fels, – er konnte keine Spur entdecken.

Gerade auf die Brücke aus Baumstämmen ging dieser Pfad hinaus. Und weiter unten, hinter der Brücke lagerten die Konföderierten.

Lionels Herz klopfte schneller. War dieser Mr. Forster sein böses Schicksal, sein Verhängnis? Mußte er ihn überall finden, wo es galt, irgend etwas zu erreichen, zu gewinnen?

Vater und Mutter hatte der harte Mann in den Tod getrieben, jetzt wollte er auch den Sohn dem Verderben überliefern. Lionel ballte die Faust. »Wenn ich ihn treffe, soll er es mir büßen!«

Wieder kam ein hell überglänzter Punkt. Von links her neigte sich ein Baum mit breitem Gezweig quer über den Weg, – Lionel stand still. Da waren die untersten Äste geknickt und abgebrochen, ein Haufe zerrissener Blätter lag am Boden. Hatte der Verwundete hier einen Halt gesucht, griff seine Faust blindlings in das Grün hinein, um für den todmüden Körper eine Stütze zu finden?

Nur er konnte hier vorübergegangen sein. Es gibt kein Tier, das in solcher Höhe die Zweige knickt, keines, das Massen von Blättern abreißt, ohne sie zu verzehren.

»Warte!« dachte Lionel. »Warte!«

Ein Gefühl von Erbitterung durchflutete seine Seele je länger, desto mehr; die Unruhe hatte es hervorgebracht. Wenn Mr. Forster bis zu den Soldaten vorgedrungen, ja, wenn der Verrat schon geschehen war!

Ein heißer Blutstrom rann durch Lionels Adern, er ging schneller und schneller, um Gewißheit zu erlangen. Wie nahe schimmerten nicht schon die Lichter der Rebellen!

Dann war es, als treffe ein Ächzen oder Röcheln sein Ohr. Er stand still und horchte. Vom Wasser herauf klang der Ton.

Dicht vor ihm lag eine flache Uferstelle, der Weg war abschüssig und sehr schmal, – sollte Mr. Forster zusammengebrochen und hier liegen geblieben sein?

Er schlich heran, unhörbar, Zoll um Zoll. Ja! – da sah er den Verhaßten zu seinen Füßen auf dem Kies ausgestreckt; Mr. Forster schien nur halbes Bewußtsein zu haben, denn die Glieder lagen regungslos, obwohl ihm das Wasser bereits die Brust umspülte. Die Augen waren geschlossen, von den bläulichen Lippen kam nur hin und wieder ein schwaches Ächzen.

Lionels Herz schlug so heftig, daß es ihn beinahe erstickte. Sollte er jetzt an diesem überaus gefährlichen Punkte ein Geräusch verursachen, sollte er unter Aufbietung aller seiner Kräfte einem Verräter das Leben retten? Demselben Manne, der seinen Vater nach Brasilien verkauft und ihn damit in den Tod getrieben hatte?

Nein! – er wollte es nicht. Was kümmerte ihn der verächtliche Trinker, der heimtückische Charakter, welcher sich nicht gescheut hatte, auf Händen und Füßen in die Wildnis hinauszukriechen, um seine Gastfreunde, seine Retter ins Verderben zu stürzen?

Lionel wandte sich ab, er flog mit hastigen Schritten am Ufer zurück zu den anderen. Mochte Mr. Forster sterben, dann war von ihm kein Schade mehr zu befürchten.

Bill kam ihm schon auf halbem Wege entgegen. »Wir haben nichts gefunden, junger Herr!« sagte er mit unruhigem Tone.

Lionel zuckte die Achseln. »Ich auch nicht!«

siehe Bildunterschrift

Lionel und sein Todfeind.

Bill schüttelte mit dem Kopfe. »Und das sagen Sie so ruhig?«

Unser Freund deutete mit der Rechten über seine Schulter hinweg. »Da fällt der erste Schuß!« rief er. »Die Rebellen haben nun genug mit sich selbst zu schaffen, sie können an uns nicht mehr denken.«

Auch Hermann und sein Vater kamen hinzu. »Wo mag der Unselige stecken? – Wir haben überall vergeblich gesucht!«

»Lassen wir ihn doch!« rief Lionel. »Er ist freiwillig fortgegangen, – sollen wir vielleicht um einen Schurken auch noch trauern?«

Sein Auge blitzte, als er diese Worte sprach, sein Gesicht war todesblaß. Ihm schien es, als fühle er Neuberts festen, ruhig auf ihn gerichteten Blick, – trotzig, herausfordernd erwiderte er denselben. »Warum verließ uns Mr. Forster? Nun muß er das selbstverschuldete Los hinnehmen.«

Neubert schüttelte unmerklich den Kopf, er legte mit freundlichem Drucke die Hand auf Lionels Schulter. »Ein Wort, mein Junge!« sagte er, unsern Freund ein wenig bei Seite nehmend. »Willst du ganz aufrichtig gegen mich sein?«

»Natürlich! Weshalb nicht?«

Die klaren Augen des Kaufmanns sandten einen festen Blick in das weiße Gesicht des vor ihm stehenden Knaben. »Lionel,« sagte er leise, »weshalb sprichst du ohne allen Grund in einem erbitterten Tone?«

»Ich? – Ich? – Herr Neubert!«

Der Kaufmann nickte. »Es ist so, Lionel, du kannst mich nicht täuschen. Aber lassen wir das! Ich möchte eine andere, viel schwerer wiegende Antwort von dir haben! Sieh mich an, mein Junge! Du hast doch unmöglich – ich sage unmöglich! – Hand an Mr. Forster gelegt?«

Lionel lächelte, aber seine Lippen zuckten. »Ich schwöre Ihnen, daß nicht allein meine Hand Mr. Forster durchaus auf keine Weise berührt hat, sondern daß ich auch keine Silbe mit ihm sprach. Sind Sie nun zufrieden, Sir?«

»Ich glaube dir,« antwortete einfach der Kaufmann, »und ich bitte dich des entsetzlichen Gedankens wegen um Verzeihung.«

Lionel wandte sich ab, er war noch so blaß wie zuvor und antwortete auch jetzt seinem väterlichen Freunde mit keiner Silbe.

»Wollen wir weiter suchen, Papa?« fragte Hermann.

»Ich glaube, das es keinen Punkt mehr gibt, an dem wir nicht bereits waren. Und außerdem hat auch der Entflohene jetzt Zeit genug gehabt, das Lager der Konföderierten zu erreichen; wir können den Gang der Ereignisse nicht mehr aufhalten.«

Lionel ballte die Faust. »Der Elende!« rief er. »Der Verräter!«

Bill deutete über die Felsen hinweg. »Wie sie schießen!« sagte er seufzend. »Jetzt hat niemand mehr Zeit, an uns oder diesen Mr. Forster zu denken.«

»Das glaube ich auch,« nickte Neubert. »Wenn die Blauen siegen, so sind wir aller Gefahr auf einen Schlag überhoben.«

»Ja! – Wenn! Wenn!«

»Der Trapper war fest davon überzeugt!« warf Hermann ein.

In diesem Augenblick dröhnte ein Kanonenschuß über die Umgebung dahin, knatternde Salven folgten, mit klingender Musik rückte ein Regiment aus der Ferne heran, hellauf leuchteten an verschiedenen Punkten die goldglänzenden, hoch in die Luft geschleuderten Raketen.

Signal nach Signal ertönte, ein einziger tosender, unentwirrbarer Lärm schien jeden anderen Schall in sich zu ersticken.

»Laßt uns wieder hinaufklettern,« bat Hermann. »Von oben sieht man mehr.«

Lionel war schon vorausgesprungen. Jetzt ließ sich im zehnfachen Feuerschein das ganze Schlachtfeld wie in voller Tageshelle überblicken, – es wurde um das Gebiet der Bahnstation leidenschaftlich gekämpft, hüben und drüben in starker Anzahl, mit Aufgebot aller Kräfte. Vom Schindeldach des Kirchturmes erklangen die Sturmglocken, in den Straßen rasselten Kanonen und Munitionswagen, ein wildes Kampfgeschrei gellte zu den Blauen hinüber.

Die Bürger griffen zu den Waffen, um der bedrohten Schar ihrer Gesinnungsgenossen im Augenblick schwerer Bedrängnis beizustehen. Frauen und Kinder brachten den Soldaten Erfrischungen, vom Turm herab prasselte ein Kugelhagel in die Reihen der Regierungstruppen.

Unsere Freunde hatten Mr. Forster und überhaupt das eigene Schicksal im Augenblick vollständig vergessen, sie waren durch die herrschende Aufregung dergestalt mit fortgerissen, daß ihre Herzen schlugen und ihre Blicke wie festgewurzelt an dem Kampfgetümmel hingen.

Nur Lionel sah ein anderes Bild, als das da unten in der Waldlichtung. Vor seinen Augen lag ächzend mit verzerrten Zügen ein Mann auf dem Kies des Ufers, halb vom Wasser bedeckt, allein und verlassen in der Einöde, – – er mußte sterben, wenn niemand kam, um ihm zu helfen. Sterben! das ist ein Gedanke voll tiefen Ernstes, ein schauerlicher Gedanke, wenn der Tote eine Anklage mit sich hinabnimmt in das Grab, um sie dem Schuldigen vorzuhalten am Tage des letzten Gerichts.

»Lionel, du hast doch unmöglich Hand an Mr. Forsters Leben gelegt?« – Weshalb er sie wohl immer wieder und wieder hörte, die mahnenden freundlich-ernsten Worte? Weshalb sie ihn nicht verlassen wollten, ob er noch so häufig versuchte, alle seine Gedanken auf die Vorgänge da unten zu richten. – –

Ein Schauder rann ihm durch alle Adern. »Wer seinen Bruder totschlägt im Herzen, der ist ein Mörder!« – hatte er es nicht immer gewußt? Und doch – und doch – –

Wieder fielen die Schüsse vom Turme herab. »Wie unvernünftig!« sagte Neubert. »Die nächste Kanonenkugel gibt Antwort.«

Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, als ein Blitz aus dem Schindeldach hervorzuckte. Das Kreuz auf der höchsten Spitze sank herab, Sparren und Gesimse flogen durch die Luft, mit schrillem Mißklang verstummte das Glockengeläute.

Der Turm brannte lichterloh.

Ein tausendstimmiges Wutgeschrei folgte dieser Entdeckung.

Vielleicht versuchten einige Besonnene die Feuerspritzen herbeizuschaffen, vielleicht wurde zur Ruhe, zur Überlegung geraten, aber alles umsonst. Die schlimmsten Leidenschaften waren entfesselt, jedes Gesetz unter die Füße getreten, jedes Band gelockert. Der Turm brannte wie eine Fackel, andere Dächer wurden von der Wut des verheerenden Elementes erfaßt, friedliche Heimstätten verwandelte das Feuer in Aschenhaufen, aus deren glühendem Inneren schwarze Rauchwolken aufstiegen und sich wie ungeheure Rabenflügel über die dem Verderben geweihte Stadt legten.

Wild tobte der Kampf. Jetzt erhob sich ein tausendstimmiges, begeistertes Siegesgeschrei. Der Bahnhof war erobert, die Konföderierten zurückgedrängt, ein gewaltiger Jubel brauste dröhnend durch die Luft. »Hurra! Hurra! – Auf sie! Auf sie!« –

Neubert deutete zum Flusse hinab. »Noch halten sie sich,« sagte er, »aber wenn die vordersten Reihen durchbrochen sind, dann ist der Rückzug hierher unvermeidlich.«

Lionels farbloses Gesicht wurde noch blasser. »Hierher?« sagte er tonlos. »Kommen sie auf dem schmalen Pfade unten am Wasser – flüchtend? – laufend? –«

Neubert sah auf. »Lionel!« rief er, wie von einer plötzlichen Eingebung erfaßt, »Lionel, – hast du da unten Mr. Forster gesehen?«

Der Knabe nickte, unfähig zu sprechen, seine Glieder bebten.

»O Lionel – und du behauptetest, von ihm nichts zu wissen! Wenn er nun inzwischen gestorben wäre!«

Bill begann hinabzusteigen. »Solches Unkraut, Sir? Das hat ein zähes Leben! Kommen Sie nur, wir wollen den guten Mann holen.«

Neubert folgte ihm, ebenso Hermann. Ganz allein blieb Lionel oben zwischen den Klippen, ganz allein, – er sah immer hinab auf das Kampfgewühl und in die brennende Stadt, deren Häuserreihen jetzt nur noch ein einziges großes Feuermeer bildeten.

Ob Mr. Forster lebte?

Vielleicht war er langsam in das Wasser geglitten, längst schon, vor Stunden. Die murmelnden Wellen hatten ihn überflutet und begraben, kein Auge sah ihn jemals wieder.

Lionel horchte. Kam noch niemand?

Unten in der zerstörten Stadt erhob sich ein Jammerruf. Dumpf dröhnend stürzte die Kirche in sich zusammen und begrub unter ihren Trümmern alle die, welche Brust an Brust in der engen Straße gekämpft hatten, jeden fußbreit Bodens verteidigend, jeden immer wieder und wieder angreifend in erneuter, leidenschaftlicher Wut. Das Pflaster war gerötet von Blut, Leichen türmten sich auf Leichen, wie aus dem Boden hervorwachsend erschienen immer neue Scharen von Regierungstruppen.

Langsam, aber sicher wurden die Konföderierten zurückgedüngt.

Lionel horchte. Noch keine Botschaft?

Ein neues Siegesgeschrei drang herauf. Die feindlichen Reihen waren durchbrochen, in wilder Flucht suchte sich zu retten, wer dem schrecklichen Blutbade zu entrinnen vermochte.

Es litt unseren Freund nicht länger in der Einsamkeit zwischen den Klippen, er stürzte hinab und sah voll unerträglicher Unruhe umher. Jetzt war es auch für Neubert und die übrigen höchste Zeit, den gefährdeten Weg am Flusse zu verlassen.

Lionel flog ihnen entgegen, – nach kaum fünfzig Schritten sah er sie bereits. Sein Herz schlug in diesem Augenblick nicht, er konnte auch keinen Ton hervorbringen, aber dennoch verstand wohl der gutmütige Bill die stumme Frage, von der Lionels ganze Haltung Zeugnis gab, er nickte freundlich. »Nichts passiert, Sir! Sagte Ihnen ja schon, aus welchem Grunde!«

Mr. Forster lag in den Armen der drei barmherzigen Samariter, jetzt richtete er den Kopf auf und sah umher. »Ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten!« rief er.

Bill lachte hell heraus. »Der Herr schimpft wie ein Rohrspatz! Na, das ist immer ein Zeichen von guter Gesundheit.«

Lionel hatte plötzlich die Sprache wiedergefunden, wie eine Felsenlast fiel es von seiner Seele. »Schnell!« rief er. »Schnell! – In jedem Augenblick können die Konföderierten hier sein, sie flüchten in voller Hast!«

»Die Konföderierten!« murmelte Mr. Forster. »Die Konföderierten!«

»Die Sie gar nichts angehen, mein guter Herr, gar nichts! Ich stelle mich mit dem geladenen Gewehr in der Hand neben Ihre Bahre und bei dem ersten Laute, den Sie von sich geben, sitzt Ihnen die Kugel im Gehirn, darnach bitte sich einzurichten.«

Und Bill nickte bedrohlich, nachdem er diese Rede vom Stapel gelassen. Er nahm seinen Mann und trug ihn mit Neuberts Hilfe in das Felsenversteck, die übrigen folgten dahin und auch Frau Neubert wurde in Kenntnis gesetzt, daß für die nächste Viertelstunde keinerlei Geräusch verursacht werden dürfe.

Die geängstigte Mutter hielt ihre schlafenden Kinder fest an sich gepreßt, sie neigte statt aller Antwort nur leicht den Kopf und dann glitt Hermann, der ihr die Botschaft gebracht hatte, wieder hinaus zu den übrigen. Die ungeheure Lohe, welche von der brennenden Stadt ausging, der starke purpurne Schimmer färbte mit seinem Lichte jedes grüne Blatt, jeden Baumstamm der Umgebung, es lag alles in goldig glühendem Schimmer, selbst das Moos schien mit Rubinen besäet, die Wellen des Flüßchens strömten dahin wie rotes Blut.

Und nun kamen die ersten Flüchtlinge. Himmel, welch ein Anblick! Von Pulverdampf geschwärzt, in die elendesten Lumpen gehüllt, hinkend und blutend, so wälzte sich die ungeheure Menge dahin. Nicht wie reguläre Truppen sahen sie aus, sondern wie Straßeuräuber, die hier und dort einige Uniformen oder Waffen znsammengeplündert haben und in diesem Aufzuge den großen Heeresmassen folgen, um zu sengen und zu brennen, das mit Gewalt an sich zu reißen, was jene auf ihrem Siegeszuge verschont hatten.

Einige trugen Stiefel, andere Schuhe, ein sehr großer Teil lief mit nackten Füßen. Die aufreibenden Anstrengungen und Entbehrungen des Kriegslebens hatten in den Gesichtern aller dieser herabgekommenen Leute ihre lesbaren Spuren zurückgelassen, sie blickten aus hohlen, dunkel umrandeten Augen, viele schleppten sich kaum noch vorwärts, hie und da blieb einer liegen, wie vom Blitz gefällt, mit krampfhaft geballter Faust und Schaum auf den Lippen, tot, langsam verblutet, gestorben aus Mangel an den notwendigsten Nahrungsmitteln.

Mr. Forster sah in Bills gutmütiges Gesicht. »Auf ein Wort!« raunte er kaum verständlich. »Sind die Konföderierten geschlagen?«

Und der Fischer flüsterte eben so leise: »Ganz und gar, Sir! Geschlagen bis auf den letzten Mann, dem Himmel sei Dank!«

Ein giftiger Blick antwortete ihm. »Dann werden Sie sich morgen bei dem Kommandeur der Blauen melden, nicht wahr? werden Schutz verlangen und nach dem Norden abdampfen?«

Bill nickte. »Yes, Sir, abdampfen! So schnell als möglich und ohne Sie. Ihnen wollen wir nicht zumuten, Ihr geliebtes Vaterland so Hals über Kopf zu verlassen.«

Der Kentuckier antwortete nicht, er erstickte fast vor Zorn. Es wurde in dem engen Versteck ganz still, auch Neubert und Lionel sprachen nicht mit einander. »Wir wollen das Geschehene zu vergessen suchen,« hatte der Kaufmann gesagt. »Du siehst, daß sich mit dem Gewissen kein Abkommen schließen läßt, mein Junge.«

Lionel fühlte, daß er dunkel erglühte. Vorher hatte ihm die That das eine und nachher das andere Antlitz gezeigt.

Und doch wußte er, daß er bei der ganzen Sache keinen Augenblick an sich selbst gedacht hatte. Aber wenn seine beleidigten Eltern aus Gottes Ewigkeit herabsehen konnten auf die arme, schmerzdurchtobte Erde, dann würden doch gerade sie am wenigsten wünschen, daß ihr Kind aus Haß und Rachsucht ein Verbrechen begehen möge. Sonderbar genug erst – die durchlittene Aufregung der letzten Stunde hatte ihm diese einfache Erkenntnis gebracht.

Aber es war alles gut abgelaufen. Das unfreiwillige Bad schien dem würdigen Mr. Forster äußerst wohlgethan zu haben, er sprach kräftig und suchte seinen großen Zorn hervorzusprudeln, wo es eben anging. Die Flüchtlinge da draußen im Walde, die zerfetzten, zerschlagenen Rebellenscharen dachten nur an ihre eigene Sicherheit, ihretwegen brauchte man keine Vorsicht mehr anzuwenden; sie waren außer Stande, noch irgend jemand zu schaden.

Hinter ihnen her stürmten mit blanker Waffe die Blauen, um so viele Empörer als möglich gefangen zu nehmen. In einzelnen Gruppen wiederholte sich das heiße Ringen und Kämpfen, wild durchgellte der Schrei der Verzweiflung den stillen Wald, bleich und furchtbar erschütternd sahen Totengesichter mit halbgebrochenem Blick empor zum sternenhellen Himmel.

Dann waren die letzten Nachzügler vorübergebraust, die Verfolgung eingestellt und aller Orten die Geschütze verstummt. Ein Trommelsignal rief das zerstreute Heer zusammen, riesige Wachtfeuer wurden angezündet und die eroberte Stadt in Besitz genommen.

Wehe dem Besiegten! – In dieser Schreckensnacht sahen unsere Freunde die Wahrheit des alten Spruches. Als die Regierungstruppen völlig Herren der Lage geworden waren, kam Jack Peppers zu den Flüchtlingen und forderte sie auf, mit ihm hinabzugehen zur Stadt. »Sie können sich nun ohne Scheu zeigen,« sagte er mit einem schlecht verborgenen Seufzer. »Die Konföderierten sind geschlagen, ganz geschlagen, – sogar ihre Fahnen haben sie im Stiche lassen müssen.«

»Und das thut Ihnen weh, Jack?«

Die Augen des Trappers blitzten. »Ja!« rief er, »das thut mir weh. Nun meine politischen Gesinnungsgenossen im Unglück sind, mag ich sie nicht verleugnen. Auf alle Gefahr hin sage ich ganz offen: Es thut mir sehr weh!«

Und er wandte sich ab, um niemand die Thränen sehen zu lassen, welche in dieser schweren Stunde über sein Antlitz herabrollten.

Neubert ehrte den Schmerz, dessen Bitterkeit er vollkommen begriff. Jetzt konnte ja der glückliche Mann sein Weib und die Kinder aus dem Versteck hervorholen und ihnen sagen, daß alle Gefahr vorüber sei. In geringer Entfernung lag die Stadt, deren Häuser noch nicht sämtlich zum Opfer gefallen waren, – es gab mehrere, in Gärten liegende Gebäude, die vom Feuer verschont geblieben, deren Bewohner aber aus Furcht vor den Blauen landeinwärts geflohen waren, so lange sie dazu noch Gelegenheit fanden, – in eines dieser Gebäude wollte der Trapper seine Schützlinge führen.

»Wo steckt Martin?« fragte Neubert, während sich die kleine Karawane zum Aufbruche rüstete. »Haben Sie ihn nicht gesehen, Mr. Peppers?«

Dieser nickte. »Er ist noch im Gefängnis, Sir, aber jedenfalls erhält er nun bald die Freiheit. Martin hat sich nichts zu schulden kommen lassen.«

»Aber wissen Sie auch gewiß, daß das Gefängnis vom Feuer verschont geblieben ist?« rief mit plötzlichem Erschrecken der Fischer.

Jack Peppers nickte. »Ein Gebäude war es gar nicht, nur ein mit einer starken Fenz umgebener Hofraum. An allen vier Ecken standen Wachtposten.«

»Und da ließ man sonder Scheu die Gefangenen unter freiem Himmel liegen?«

Der Trapper zuckte die Achseln. »Im Kriege!« warf er hin.

»Lassen Sie das, Bill!« sagte freundlich der Kaufmann. »Martins Gesundheit kann schon einen tüchtigen Puff vertragen; überdies ist es ja auch nicht kalt.«

Jetzt kam Frau Neubert aus dem Zelte hervor, zum Erschrecken blaß und hinfällig, aber doch von Freude strahlend, daß das Ende aller Leiden erreicht war. Sie führte die Kinder an der Hand, während Baby den alten Platz auf Papas Arm wieder einnahm und Jack Peppers und Bill den Verwundeten in ihre Mitte zogen.

»Der Gentleman braucht jetzt nicht mehr getragen zu werden,« sagte beharrlich der Fischer. »Wir haben gesehen, daß er ganz gut marschieren und sogar klettern kann. Lassen Sie ihn nur immer hübsch einen Fuß vor den anderen setzen, Sir!«

Mr. Forster brummte eine Verwünschung, auf die niemand acht gab. »Ich habe hier doch noch zahlreiche Weinflaschen gesehen,« sagte er ärgerlich. »Mich dürstet!«

»Soll ich Ihnen Wasser holen, alter Papa?«

Mr. Forster gab keine Antwort; er erstickte fast vor Zorn.

An der Waldgrenze machte Jack Peppers Halt. »Ich will einen Wagen herbeischaffen,« sagte er, »die Lady kann den Anblick so vieler Greuel nicht vertragen.«

Neubert drückte ihm herzlich die Hand. »Ich dachte Ähnliches schon längst,« antwortete er, »aber es fehlte mir der Mut, Sie zu bitten, Sir! Ist Ihnen in der unglücklichen Stadt übrigens irgend ein Fuhrwerksbesitzer persönlich bekannt? An Geld, um alles zu bezahlen, soll es mir nicht fehlen.«

Der Trapper schüttelte den Kopf. »Man zieht aus dem nächsten besten Schuppen einen Wagen und aus dem Stall ein Pferd,« versetzte er. »Wollen Sie mich begleiten, Master Lionel?«

»Mit Vergnügen!«

Und unser Freund sprang an seine Seite. »Auf Wiedersehen!« rief er den übrigen zu. »Dies ist nun mit Gottes Hilfe die letzte Geduldsprobe!«

»Wir sind in einer Stunde wieder hier!« setzte Jack Peppers hinzu.

»Aber keine Unbesonnenheiten!« ermahnte Neubert. »Lionel, du mußt mir versprechen, Martins wegen –«

Unser Freund sah zurück, er lächelte belustigt. »Wie Sie meine Gedanken erraten können, Sir! Aber seien Sie ganz unbesorgt, ich unternehme nichts Gefährliches.«

Die beiden gingen durch den dämmernden Mondschein mit raschen Schritten davon, um in einer der alleinstehenden Villen einen Wagen aufzutreiben. »Die Leute wollten sich nicht warnen lassen,« sagte kopfschüttelnd der Trapper. »Diese Handvoll Soldaten hielt sich in ihrer Begeisterung für unüberwindlich und fand in der Bürgerschaft darin die lebhafteste Unterstützung. Mochten die Blauen nur kommen, sie sollten bis auf den letzten Mann vom Erdboden vertilgt werden! – Ach, und was geschah anstatt dieses geträumten Sieges?«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Es ist aus mit der Sache des Südens, ich sage Ihnen, ganz aus. Die nächste Zukunft wird es lehren.«

Lionel fühlte, wie sich bei diesem Gedanken sein Herz in der Brust zu erweitern schien, aber natürlich verbot ihm sein Zartgefühl, dieser Freude irgend einen Ausdruck zu geben. »Sind Sie ein sogenannter Scout, Jack?« fragte er.

»Ein Kundschafter, ja. Aber Sie müssen das nicht etwa verwechseln mit einem Spion, Master Lionel! Ich werde nicht bezahlt und trage niemals eine Verkleidung, aber meine genaue Kenntnis des Landes ermöglicht mir, auf Nebenwegen, besonders in den Wäldern, die Stellung und Stärke des Feindes auszuforschen. Ich wußte, daß in dieser Nacht bedeutender Zuzug erwartet wurde, ich sah den Gang der Ereignisse voraus, aber es war tauben Ohren gepredigt.«

»Sehen Sie dorthin! Die arme Mrs. Neubert hätte das nicht ertragen.«

Über die Trümmer der rauchenden Stadt und der versengten, schwarz bestäubten Bäume erhob sich jetzt der erste, mit dem weißen Mondlicht ringende Schimmer des jungen Tages. Die rötlichen Lichter fielen auf eine Stätte furchtbarer, herzerschütternder Verwüstung.

Auf dem Pflaster und den Bürgersteigen lagen haufenweise die Toten dieser schreckensvollen Nacht, Regierungssoldaten und Konföderierte in buntem Gemisch, Offiziere und Mannschaften, Leute in strammer Uniform und Freiwillige in allen möglichen, teils elenden, teils phantastischen Anzügen. Wie das tödliche Blei sie getroffen, so waren die Unglücklichen hingefallen; oft zwei, die mit einander rangen, noch im Erstarren fest vereint, dann solche, die den Arm zum Hieb erhoben hatten, solche, die auf der Flucht vom Verderben ereilt worden waren.

Teile geplatzter Bomben steckten in den Fronten der Häuser, hatten Fenster und Thüren zerschlagen oder lagen, von andern Stätten hergeflogen, zwischen den Leichen auf der Straße. Alles mögliche Hausgerät fand sich zerschlagen und zerrissen neben Lebensmitteln, Brennmaterialien und Kleiderstoffen im Schmutz des Bodens. Man hatte retten, flüchten wollen und war auf halbem Wege von der Hand der Todes jählings niedergestreckt worden.

Hier lag eine ältere Frau mit durchschossener Brust auf der Leiche eines halbwüchsigen Knaben, den sie noch mit erkalteten Armen fest umschlungen hielt. Seine Hand hatte einen eisernen Hammer gefaßt, sein Gesicht zeigte den Ausdruck trotzigen Mutes. – –

Armes Kind! Er war gefallen, während er glaubte, das gute Recht seines Vaterlandes mannhaft zu verteidigen.

Und viele, viele Bürger, viele Frauen und Kinder außer ihm. Bewaffnet mit allen möglichen Gegenständen, in allen Lebensaltern, von allen Ständen sah man sie dahingerafft von den eisernen Würfeln des Krieges. Hunderte, Tausende hatten mit ihrem Blute das Pflaster gefärbt.

Lionel schauderte. »Sahen Sie die ganzen Vorgänge mit an, Jack?« fragte er leise.

Der Trapper nickte. »Schon an manchem Orte, junger Herr. Dies ist die erste vollständige Niederlage der Konföderierten.«

»Alle Häuser scheinen leer!« flüsterte Lionel.

»Das sind sie auch. Da drüben beginnt schon das Werk der glorreichen Sieger, sehen Sie nur hin! – Es wäre zu mühsam, erst Requisitionen auszuschreiben, man nimmt einfach weg, was sich findet und bezahlt den Eigentümer, wenn er lästig wird, mit einer Kugel.«

Lionels Blicke beobachteten die jetzt vom Sonnenlicht fast ganz übergossene Straße. Es wimmelte von den blauröckigen Regierungssoldaten, aus allen Seitengassen kamen sie hervor, mehr und immer mehr, – und jeder trug unter den Armen, was er gerade brauchen konnte oder holte sich nach Belieben aus den leeren Häusern das Hab und Gut der Einwohner hervor.

Andre begannen die Leichen wegzuschaffen. Karren nach Karren zog auf und wurde mit der traurigen Last beladen, während ein Kommando Soldaten die noch übrig gebliebenen Einwohner zwang, auf dem Kirchhofe ein Massengrab auszuwerfen, um später die ungeheure Zahl der Toten dort bestatten zu können. Ein immer regeres Leben entwickelte sich auf den Straßen, die noch brennenden Gebäude wurden nach Möglichkeit gelöscht, überall die Fahnen der Rebellen herabgerissen und in den Schmutz getreten, überall ihre politischen Freunde drangsaliert und gemaßregelt, indem man sie schwer unter die Hand des Siegers und zur Erde beugte.

Jack Peppers zog den Knaben in eine Seitenstraße. »Ich kann es nicht mit ansehen,« sagte er knirschend. »Kommen Sie hierher!«

Und nun hatten sie das Ärgste an sich vorübergehen lassen. Weiter hinaus erglänzte das Grün der wohlgepflegten Gärten, schimmerten die Mauern der Landhäuser. »Dort ist unser Ziel, wir müssen erst einen Wagen auftreiben und dann wollen wir Martin Davis befreien.«

»Kennen Sie denn das Gefängnis, Jack?«

»Ja, ja! folgen Sie mir nur.«

Und die beiden eilten im Sturmschritt weiter.


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