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XXIII.

Es war Nachmittag, als Lionel erwachte, im ersten Augenblick außer stande, sich zurecht zu finden, sich über das Geschehene Rechenschaft zu geben. Wo war er? Ein niederes, sauberes Bauernhaus sah aus dem Grün uralter Bäume hervor, Schwalbennester klebten unter dem Dache, Hühner scharrten rings um den Wagen her und aus dem nahen Stalle hervor tönte halblaut das behagliche Grunzen schlummernder Spitznasen.

Toms Heimat also, die Farm des deutschen Bauern.

Lionel hob vorsichtig den Zipfel seiner Decke und sah aus dem warmen Nest ein wenig in die Umgebung hinaus. Da traf sein Blick hinter den blanken Scheiben das freundliche Gesicht einer alten Frau, er bemerkte, daß ihm eine Hand eifrig winkte und kurz entschlossen sprang er vom Wagen, um in der Uniform der Regierungstruppen mitten in der Hochburg der Rebellen zu erscheinen und dort auf das gute Glück hin ein fremdes Haus zu betreten.

Tom kam ihm schon entgegen, ebenso die beiden Alten. Er sah in ehrliche, wetterharte Gesichter, er fühlte den Druck verarbeiteter, grober Hände, aber trotz dieser Einfachheit der Menschen und Umgebungen that ihm der Augenblick doch unendlich wohl. Zuerst und zunächst mußte er die Uniform mit einem schlichten Bauernanzug vertauschen, dann, als das Mütterchen ihn von allen Seiten besehen und ihm nochmals die Jackenknöpfe blankgeputzt hatte, dann wurde er an den Familientisch geführt und mit solchen Bergen von Speisen versehen, daß wohl auch sechs ausgehungerte junge Soldaten daran vollständig genug gehabt hätten. Die Uhr lag bei seinem Teller und als er sie dem verlegen lächelnden Burschen darbot, da schüttelte der Alte den Kopf.

»Steck nur das Ding wieder ein, mein Junge,« sagte er, »Wir haben es trotz der schlimmen Zeiten noch reichlich genug, um ohne Bezahlung einen Gast bei uns aufzunehmen. Aber – na, nichts für ungut! – wenn du uns von deiner Person und deinen Schicksalen ein wenig mehr erzählen wolltest, so wäre mir das sehr lieb.«

Lionel schlug kräftig in die dargebotene Hand des Alten und fragte ihn, ob er je den Namen ›Seven-Oaks‹ gehört habe. – »Ja? – Und auch die Geschichte vom Tode des letzten Besitzers, – die des Erben?«

»Alles! Alles. Die Leute sprachen ja monatelang von nichts anderem.«

Unser Freund sah festen Blickes in das ehrliche Gesicht vor ihm. »Ich bin dieser Lionel Forster!« sagte er. »Über meinem Haupte hängt in jedem Augenblick das Verderben; sobald man mein Geheimnis entdeckt, ist die neue Skaverei sicher.«

Der Bauer dampfte große Wolken. »Du willst nach Richmond?« fragte er. »Wahrscheinlich hast du dort Freunde?«

Lionel zuckte die Achseln. »Mir bleibt nichts anderes übrig,« antwortete er seufzend. »Mein Lage ist eine sehr ernste und nur wenn es gelingt, mich mit Philipp Trevor in Verbindung zu setzen, kann ich auf eine durchschlagende Hilfe rechnen.«

»Vielleicht,« fügte er dann hinzu, »vielleicht habe ich indessen das Glück, noch einen anderen treuen, ergebenen Freund in Richmond anzutreffen, Jack Peppers, den Trapper. Sollten Sie zufällig den Namen kennen?«

Beide, der Bauer und sein Sohn, horchten plötzlich auf. »Jack Peppers?« wiederholte der Alte, »das ist ein gern gesehener Gast dieses Hauses, ein Mann, der seit langen Jahren bei uns aus und ein geht. Du kennst ihn also?«

»Er ist mir sogar aufrichtig befreundet!«

Der Bauer nickte. »In Richmond kannst du ihn heute und morgen treffen,« sagte er. »Jack hat Botschaften aus dem Lager gebracht und geht erst morgen zurück.«

Lionels Augen blitzten plötzlich auf. »Das wissen Sie ganz gewiß?« rief er.

»Ganz gewiß!«

»Dann will ich mein Heil versuchen.«

Und er erhob sich, um neu gestärkt und mit neuer Hoffnung erfüllt, sogleich den Weg zur Stadt anzutreten, aber der Bauer wehrte ihm lächelnd. »Sachte! Sachte!« gebot er. »Das braucht nicht mit Dampf zu gehen, Bursche, du hast ja noch gar keine Adresse des Trappers, du weißt nicht, wo du ihn suchen solltest.«

Lionel erschrak. »Das ist wahr,« gestand er. »Wissen Sie denn, wo Jack Peppers wohnt, lieber Herr Petersen?«

»Freilich weiß ich's und darum soll die Sache ganz vernünftig angefangen werden. Vor Nacht willst du doch in Richmond nicht ankommen, denke ich!«

»Nein, allerdings nicht. Es kennen mich zu viele Leute.«

»Und gerade die Schüler des Gymnasiums, beinahe sämtlich begeisterte Anhänger der Konföderation. Einer oder der andere würde dich verraten.«

Lionel seufzte. »Was fange ich an, Vater Petersen?« fragte er.

Der Bauer schmunzelte. »So! So!« kam es in wohlgefälligem Tone über seine Lippen. »Das war es nur, was ich hören wollte. Mein Plan steht schon lange fest, Junge!«

Jetzt mischte sich die Frau in das Gespräch. »Denkst du garnicht an meinen Bruder, Alter? Mich deucht, bei ihm – –«

»Sei still, Mutter. Gerade Gilberts ist es, auf den ich bei dieser Geschichte von vorn herein gerechnet habe.«

Lionel horchte auf. »Gilberts?« wiederholte er. »Ein Gärtner?«

»Ja, mein Junge. Solltest du ihn zufällig kennen?«

Lionel schüttelte den Kopf. »Ihn nicht, aber seinen Sohn, der –«

»O lieber Gott! Also Friedrich lebt? Hörst du, Alter? Friedrich lebt!«

Der Bauer nickte. »Es freut mich ja, Mutter! – Kanntest Du denn meinen Neffen, Junge? Hast du mit ihm gesprochen?«

Und nun mußte Lionel erzählen, was er von dem Sohne des alten Gärtners wußte, die Bauerfrau hörte ihm mit gefalteten Händen zu, während Thränen über ihr ehrliches Gesicht herabrannen. »Also er lebt doch!« sagte sie leise vor sich hin, »er lebt doch! Wie sich nur mein armer Bruder freuen wird!«

»Seit zwei Jahren wußten wir von ihm nichts mehr!« setzte der Bauer hinzu.

»Und ich sprach ganz zufällig noch gestern abend mit ihm!«

Da tippte der Bauer mit der Spitze seiner langen Pfeife leicht auf Lionels Schulter. »Einen Zufall gibt es überhaupt gar nicht, mein Junge!« sagte er in freundlichem Tone.

Der junge Soldat errötete, statt aller Antwort reichte er dem älteren Freunde die Hand und dann wurde ein bestimmter Plan verabredet. Petersen selbst wollte den Flüchtling zur Stadt fahren und ihn im Dunkel der Nacht seinem Schwager überliefern. Am andern Morgen sollte Jack Peppers erfahren, wer so ganz unerwartet in Richmond angekommen sei und darnach fernere Maßregeln treffen.

»Wenn wir ihn auch nur ganz bestimmt auffinden?« meinte Lionel.

»Das laß meine Sorge sein! Ich weiß ganz genau, wo er sich aufhält.«

Draußen klopfte es an die verschlossene Pforte und Tom ging hinaus, um einen älteren Nachbar der würdigen Eheleute Petersen einzulassen. Der Mann kam von den Festungswerken und brachte die überraschende Kunde, daß an diesem Morgen, kurz nach dem plötzlichen Überfall, die Konföderierten aus allen drei Forts wieder vertrieben worden seien und außerdem fünftausend Gefangene verloren hätten.

»Ganze Regimenter sind abgeschnitten worden,« setzte der Berichterstatter hinzu. »Da war für die Sache des Südens ein schwerer Tag! – Und weshalb ich eigentlich zu Euch komme, Nachbar Petersen, das ist Folgendes. Frank Gilberts, Euer Neffe, lebt im besten Wohlsein, ich selbst habe ihn diesen Morgen gesehen.«

»Als Gefangenen?« fragte der Bauer, mit vielem Glück den Überraschten spielend. »Das wäre ja eine gute Botschaft!«

Der andere nickte. »Als Gefangenen. Geht hin zu den Eltern und sagt's ihnen; ich verbürge mich für die Richtigkeit der Behauptung.«

Dann nahm er Abschied und ging fort, ohne Lionels Gesicht gesehen zu haben. Der Bauer schlug vergnügt mit der Faust auf den Tisch. »Eine gute Nachricht!« rief er. »Fünftausend Mann eingebüßt! Hallo, ihr Banditen, das sollt ihr schon fühlen!«

Er war ganz jugendlich lebendig geworden, der Alte. »Na, vorwärts, Mutter! Nun rühre dich, schaffe Proviant in den Wagenkasten und steck auch dies oder das, was du denn wohl so meinst, für deines Bruders Haushaltung mit ins Stroh. – Hab damals so oft an den vertriebenen Erben von Seven-Oaks gedacht, hab das Bürschlein unbekannter Weise von Herzen bedauert, – ja, und nun ist dieser selbige Junge mein Gast und steckt in Toms Kleidern, als wäre er unser richtiger Sohn! Das freut mich, Alte, das freut mich, ich will ihn seinen Widersachern aus den Krallen reißen und wenn ich darum bis an den Mond hinauf müßte. So, jetzt spanne an, Tom!«

»Soll ich denn mit nach Richmond, Vater?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, mein Junge, das solltest du doch einsehen. Ich kann diesen großen Burschen, unseren Gast, nicht wie ein Wickelkind auf den Schoß nehmen, er muß offen bei mir auf dem Brett sitzen und da sollen denn die Leute womöglich glauben, daß du es bist. Geh' unterdessen in die Kammer, nähe mit Mutters Hilfe in die Uniform einen schweren Stein und wirf, sobald es dunkelt, das Bündel in unseren Teich, dann hast auch du bei der guten Sache geholfen.«

»Komm nur, Tom,« ermahnte die Bäuerin, »komm nur, Vater hat Eile!«

Und so wurden denn alle möglichen Eßwaren in das Stroh gestopft, der Braune wieder vorgespannt und die Decken auf das Sitzbrett gelegt. »Mutter,« sagte der Alte, »wenn es mir in Richmond fehlschlägt, dann bringe ich den Jungen wieder mit. Adjes so lange!«

Die Frau und Tom reichten noch beiden Abreisenden ihre Hände auf den Wagen hinauf, dann knallte die Peitsche und der zweite Teil dieser Fahrt hatte begonnen.

Im schlanken Trabe ging es über die schlechterhaltene Straße dahin, vorbei an Farmen und größeren Gütern, an Wald und Wiesen. Überall standen Gruppen von Leuten, welche die neuesten Ereignisse besprachen, es wurde für und wider heftig gestritten. Die einen jammerten laut, die anderen frohlockten in der Stille, dieser letzteren aber waren es im Laufe des unheilvollen Krieges mehr und immer mehr geworden.

Besser alles andere, als eine Fortdauer des herrschenden, haltlosen, unerträglichen Zustandes.

Meile nach Meile blieb hinter den beiden Männern zurück. Der Bauer sprach wenig und auch Lionel war ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, er fragte sich fort und fort: »Werde ich Philipp wiedersehen? – Und wie?«

Dann tauchten aus der Ferne die ersten Lichter wie schimmernde Punkte auf. Das war Richmond, die Stadt, wo er so glückliche Jahre verlebt hatte.

Der Bauer deutete mit dem Peitschenstiel vor sich hin. »Du,« sagte er, »wenn es dir da drinnen fehlschlägt, dann komm wieder hinaus zu mir. Jetzt habe ich dir's gesagt, ein- für allemal und du magst dich darnach richten.«

Lionel dankte dem gutmütigen Manne aus Herzensgrund. »Wenn man nur den Ausgang der Belagerung vorhersehen könnte,« seufzte er, gleichsam den eigenen Gedanken beantwortend. »Daran hängt für mich alles.«

Vater Petersen nickte. »Geduld, mein Junge, Geduld. Die Konföderierten singen den letzten Vers, das wissen am besten ihre Armeelieferanten, zu denen ich gehöre. Noch zwei Wochen, – allerlängstens – und auf dieser Stelle stehen Regierungstruppen.«

»Amen!« flüsterte Lionel. »Das gebe Gott!«

Sie hatten jetzt die Stadt erreicht und der Bauer hielt den Wagen an. »Du kennst dich aus in Richmond, nicht wahr, mein Junge?«

»Vollständig, Herr Petersen.«

»Nun gut, dann steige jetzt ab und geh' zu den kleinen Häusern bei der Kirche. Dorthin komme ich dir nach, sobald Pferd und Wagen im Wirtshaus untergebracht sind.«

Lionel nickte und sprang behende auf das Pflaster. »Adieu so lange!« sagte er. »Gott gebe, daß mich niemand erkennt.«

Der Alte fuchtelte mit der Peitsche. »Schlage ihn nieder, wenn es nur einer ist, Junge, schlage ihn nieder wie einen tollen Hund und komm zu mir zurück, bis wir Frieden haben. Oder was meinst du, wollen wir gleich umkehren?«

Lionel lachte. »Nein! Nein!« rief er. »Adieu so lange, Herr Petersen!«

»Adieu, Adieu! Halte dich nur recht im Schatten der Häuser, hörst du!«

Lionel grüßte mit der Hand und bog in eine Seitenstraße, die auf Umwegen zum Kirchplatze führte. In jeder Schenke wurde lebhaft gestritten, wüster Lärm drang auf die Gassen hinaus, Musik und Fluchen.

So nahe der Feind vor den Thoren, – es ließ sich kaum fassen, das Schreckliche.

»Wir werden sie zu schanden machen, die Räuberhorden,« schrien einige. »Es ist ein Pyrrhussieg, den sie heute erfochten haben. Der Süden kann nicht unterliegen.«

»Unmöglich! Unmöglich!« stimmten andere bei.

Die Besonneneren ließen sich indessen nicht täuschen. Wenn Richmond gefallen war, hatte die Konföderation aufgehört zu existieren.

Lionel huschte von Schattenstreif zu Schattenstreif durch die Nebenstraßen, bis an den offenen Kirchplatz. Hier brannten nur in der Mitte einige wenige Gasflammen, er konnte daher ungestört neben der Häuserreihe auf- und abgehen, bis Petersen kommen würde. Die Nummer des Hauses, in welchem Gilberts wohnte, war ihm ja ohnehin unbekannt.

Aber er brauchte nicht lange zu warten, der behäbige Bauer keuchte schon heran, schnaufend wie eine Dampfmaschine. »Na, da bist du ja, mein Söhnchen! Alles gut gegangen? So, hier wohnt Schwager Gilberts!«

Er zog seinen Schützling auf einen nahegelegenen Hausflur und klopfte dann an eine Thür, die sogleich von innen geöffnet wurde. Eine vergrämt aussehende Frau empfing die späten Gäste, denen sie die Lampe prüfend entgegenhielt. »Du, Schwager Petersen?« sagte sie mit erstauntem Tone. »Und wen bringst du uns denn da?«

»Guten Abend, Liese! – Mach' ein vergnügtes Gesicht, hörst du! Dieser junge Herr hier ist der Überbringer einer Freudenbotschaft – und was für einer!«

Die Lampenglocke klirrte in der Hand der alten Frau, das verhärmte Gesicht überzog sich mit schnellem Rot. »Eine Freudenbotschaft?« wiederholte sie, während Thränen in ihrer Stimme bebten, – »ach, Schwager, das könnte doch nur eins sein, ein einziges, Nachricht von meinem verschollenen Sohne nämlich!«

Der Bauer lachte vergnüglich. »Frage den jungen Mann nur selbst, Liese, vielleicht hat er deinen Prinzen gesehen, hat mit ihm gesprochen, ja, er bringt dir sogar Grüße von ihm.«

»O Gott! – Von Friedrich?«

Lionels Herz schlug schneller, er gedachte unwillkürlich der nie gesehenen Mutter, dachte an das Glück, welches ihm das Schicksal versagt hatte. »Freuen Sie sich, liebe Frau Gilberts,« tröstete er. »Ihr Sohn lebt, ich selbst habe in dieser Nacht noch mit ihm gesprochen.«

»Mit ihm? Mit meinem Kinde? – Ach, aber die Leute sagen, daß eine mörderische Schlacht geschlagen sei, daß –«

»Friedrich ist gefangen, sitzt in Nummer Sicher!« rief der Bauer. »Ich hab's aus guter Hand, von einem, der ihn selbst sah. Nun freue dich, Liese, du sollst diesen jungen Mann eine Zeitlang in deinem Hause behalten, kannst lang und breit mit ihm sprechen, ihn über alles ausfragen. Wo ist übrigens dein Mann? ich muß ihn doch auch begrüßen.«

Die weinende Frau war so verwirrt, von der plötzlichen Botschaft des Glückes so überrascht, daß sie tastend den Thürgriff suchte und kaum wußte, was um sie herum geschah. Während der Bauer mit dem inzwischen herbeigekommenen Hausherrn sprach, setzte sich Lionel gutmütig zu der bebenden Alten und ließ den Strom ihrer Fragen über sich ergehen. Wie Friedrich aussah, wie er gestimmt schien, ob er sehr unglücklich war und vor allem, ob er auch der Eltern gedachte? – Ja, das Mütterchen fragte sogar nach einem bestimmten Zug in den Mundwinkeln und nach der Art, wie ihr langentbehrter Liebling das Haar in den Nacken warf.

Lionel wurde nicht müde, immer wieder und wieder dieselben Fragen zu beantworten. Es war tiefe Nacht, als der Bauer Abschied nahm und seinen Schutzbefohlenen der Obhut des befreundeten Ehepaares überließ. »Ich komme schon noch einmal wieder vor,« sagte er. »Will doch sehen, wie die Geschichte ausgeht.«

Lionel hielt seine Hand mit festem Drucke umschlossen. »Herr Petersen, – wie soll ich Ihnen für alle Ihre Güte danken? Sie haben mir vielleicht mehr als das Leben, die Freiheit der Person gerettet! Und Toms Anzug, wie –«

»Ach, so ärgern Sie mich doch nicht! Die paar Lappen sind übrig für einen ehrlichen Burschen, der ohne Verschulden ins Unglück geriet. Basta. Wenn Sie je in Not, in irgend eine Verlegenheit kommen, dann wenden Sie sich an mich, – wollen Sie das?«

»Ich verspreche es Ihnen, Herr Petersen und ich danke Ihnen tausendmal.«

»Gute Nacht! Gute Nacht!«

Der Ehrenmann polterte geräuschvoll die Treppen hinab und Lionel blieb allein mit den beiden alten Leuten, die sich um die Wette bemühten, ihm gefällig zu sein. In der besten Stube wurde ein Bett hergerichtet und der Gast etwa behandelt, als sei er von Glas, das bei jeder rauheren Berührung zerbrechen könne. Man setzte ihm vor, was Küche und Keller vermochten, er kam auch nicht einen Augenblick zu einer Befangenheit oder auch nur zu dem klaren Bewußtsein der quälenden Lage, in welcher er sich thatsächlich befand; erst als er in später Nachtstunde allein blieb, schwirrten die Gedanken wie aufgescheuchte Nachtvögel durch sein heißes Gehirn.

Er aß das Brot fremder Leute! – Wie lange sollte dieser Zustand andauern?

»Philipp, Philipp, – wenn ich erst wüßte, ob du lebst!«

Er hatte am Tage zu lange und zu fest geschlafen, um nicht jetzt in der Nacht dafür büßen zu müssen. Seine Augen blieben offen, bis die Morgensonne hereinsah, dann erst schlief er einige Stunden und als gegen acht Uhr ein Geräusch im Zimmer ihn weckte, da brach von seinen Lippen ein lauter Freudenruf. Neben dem Bette stand Jack Peppers und streckte ihm beide Hände mit herzlichem Gruße entgegen.

»Willkommen zu Hause, junger Herr!«

»Lieber, guter Jack! – O, mir sind doch immer noch treue Freunde geblieben, wahrhaftig, ich sollte nicht zuweilen so kleinmütige Gedanken hegen!«

Und Lionel sah mit förmlichem Entzücken in das sonnenbraune Gesicht seines lächelnden Besuchers. »Jack, bitte sagen Sie mir eins! – Lebt Philipp Trevor?«

Der Trapper nickte. »Gewiß, Sir, obwohl er sich entsetzlich härmt, der arme junge Herr. Ich trage schon seit längerer Zeit einen Brief und eine Summe Geldes von ihm in der Tasche mit mir herum, beides natürlich für Sie.«

Lionels Gesicht überzog sich mit plötzlicher Röte. »Eine Summe Geldes?« wiederholte er in gepreßtem Tone.

»Ja, Sir, hundert Dollar, – hier sind sie. Und hier ist der Brief.«

Es war unserem Freunde, als falle ihm ein Stein vom Herzen. Nun brauchte er nicht länger das Brot der fremden Barmherzigkeit zu essen.

»Mein guter Jack,« sagte er, Philipps Brief an sich nehmend, »sollte es Ihnen nicht möglich sein, mir eine Unterredung mit meinem Vetter zu verschaffen?«

Der Trapper nickte. »Ich hoffe es,« antwortete er. »Der junge Mr. Trevor fährt jeden Morgen zur Klasse, wenn ich mich also jetzt sehr beeile, kann ich ihn vor der Thür des Gymnasiums noch treffen.«

»Ach, Jack, wollten Sie das für mich thun?«

»Gewiß, Sir! Es war nur meine Absicht, Sie zunächst zu begrüßen und Ihnen Brief und Geld zu überbringen.«

»Tausend Dank, mein treuer Freund! – Ach, diese Summe erlöst mich aus wahrhaft peinlicher Lage, – ich kann nun bezahlen, was ich esse.«

Der Trapper ergriff die kaum abgelegte Mütze. »Ich komme vor Mittag, wenn Sie es erlauben, noch auf ein Viertelstündchen wieder hierher,« sagte er. »Pünktlich um zwölf Uhr erhalte ich Depeschen zur Beförderung an den Kommandeur unserer Außenwerke, dann gilt es, auf Leben und Tod zu reiten.«

Er drückte unserem Freunde die Hand und eilte davon, während Lionel hastig aufsprang und in die Kleider fuhr, um Philipps Brief zu lesen: freundliche, zärtliche Worte wie immer, die aber gerade heute weniger Wert zu haben schienen, weil Lionel zuversichtlich hoffte, den Schreiber selbst in wenigen Stunden begrüßen zu dürfen.

Das Gymnasium lag keine zweihundert Schritte vom Hause des alten Gärtners entfernt, – gerade jetzt erklang wohl die Glocke, welche das Zeichen zum Beginn der Unterrichtsstunden gab, – Lionel glaubte sie zu hören.

Er sann nach. Was trieben heute die Genossen in der Sekunda, aus der er so plötzlich und schonungslos seit fast einem Jahre herausgerissen worden war?

Griechisch, Latein, Religion, – nun wußte er es. Zuerst wurde gesungen, – ob er es denn nicht von hier aus hören konnte?

Er lauschte. Leise glitt er aus dem Zimmer und stieg auf den Dachboden, dessen Fenster seine bebenden Hände zurückschlugen. Da lag im Morgenglanz das alte Gebäude mit den verschnörkelten Verzierungen und den hohen Linden, welche sich von beiden Seiten über dem Eingang wölbten, er sah es genau und sein Herz schlug schneller. Ob er je wieder die blaue Mütze mit dem Silberstreif tragen, je wieder in die abgebrochenen Studien zurückversetzt werden würde?

Ein Seufzer hob seine Brust. Das alles hing an dem Erfolg der Waffen, an dem Kriegsglück, das den Unionssoldaten günstig schien. Wenn alle Sklaven die Freiheit erhielten, – wenn –

Aber nein doch! Kein ›Wenn‹! Immer wieder erlag er der Versuchung, grübeln, mit dem Schicksal allerlei Verträge schließen zu wollen. Das würde sich schon von selbst finden.

Er suchte seine freundlichen Wirtsleute auf und wollte ihnen ein Kostgeld geben, aber das schlug gänzlich fehl. Schwager Petersen hatte schon einen Sack Kartoffeln, einen Schinken und Gott weiß wie viele Rüben und Kohlhäupter für Rechnung des plötzlich hereingeschneiten Gastes ins Haus geschleppt, nebenbei aber war auch Lionel derjenige, welcher den langvermißten Sohn gesehen und von ihm die erste Nachricht hierhergebracht hatte, also wollten die glücklichen Eltern sich's nicht nehmen lassen, den Boten der Freude und des Jubels so gut als es anging, zu pflegen, damit er die Entbehrungen des Soldatenlebens möglichst verschmerze und während der aufgedrängten Ruhepause für alles etwa noch in Aussicht Stehende neue Kräfte sammeln möge.

Lionel sah sein Geld mit so freundlicher Überredung zurückgewiesen, daß er fernere Versuche aufgab und dafür beschloß, späterhin der alten Frau Gilberts ein Geschenk zu kaufen; er sah schon jetzt in jedem Augenblick nach der Uhr und zählte ungeduldig die langsam kriechenden Minuten, welche ihn von dem Besuche des Trappers noch trennten.

Er selbst durfte sich ja nicht auf die Straße hinauswagen. Ein Seufzer begleitete den Gedanken voll geheimer Schrecken, – nicht hinaus! – Auf wie lange noch?

Aber Richmond mußte ja fallen, es konnte sich nicht mehr halten und dann kamen wenigstens erst einmal die Regierungstruppen hierher. Darüber hinaus reichte vorläufig der Blick noch nicht.

Frau Gilberts brachte ihrem ungeduldig auf- und abschreitenden Gaste einen ganzen Stapel Bücher, die ihm zur Unterhaltung dienen sollten, Räubergeschichten mit Titelhelden in blutroten und kanariengelben Gewändern, Gespensterromane und Kalender aus längstverschollenen Tagen. Lionel las das alles nun freilich nicht, aber er lachte doch und wer einmal dahin gelangt ist, dem vergeht die Zeit schneller, als wenn er seufzend, voll Unruhe und Sehnsucht am Fenster stünde, um hundertmal einen zufällig Vorübergehenden für den längst Erwarteten zu halten und sich hundertmal zu täuschen.

Gegen elf Uhr kam Jack Peppers, wie er gleich dabei sagte, nur auf fünf Minuten. Lionel sah ihm entgegen, stumm vor Aufregung, mit erwartungsvollem Blick, in dem sich die ganze Spannung seiner Seele deutlich spiegelte.

Ob Philipp kommen würde?

»Ich soll Sie grüßen,« lächelte der Trapper. »Mr. Trevor konnte mir nicht viel sagen, denn bei ihm in der Kutsche saß sein Vater, aber er las den Zettel, welchen ich ihm zusteckte und flüsterte: ›Grüßen Sie meinen Vetter! Ich komme, wenn es dunkel geworden ist, zu ihm.‹«

»Also um halb zehn etwa!« fügte er bei. »Sie müssen sich gedulden, Sir!«

Lionel seufzte. »Jack,« sagte er, »wie stehen die Dinge draußen vor den Wällen?«

Der Trapper wandte sich ab. »Gut für Ihre Interessen,« antwortete er in düsterem Tone. »Noch ein Hauptschlag und Richmond ist gefallen.«

Lionel blieb stumm. Als Menschen waren sie Freunde, der Trapper und er, aber ihre politischen Ansichten gingen weit auseinander, es schien daher besser, über diese Angelegenheiten gänzlich zu schweigen, besonders da Jack Peppers mit wahrhaft heroischer Selbstverleugnung alles that und immer gethan hatte, um den Sklaven Lionel denjenigen Verhältnissen zu entreißen, die er selbst für rechtsgültig hielt und deren Fortbestand er glühend wünschte.

»In drei Tagen bin ich voraussichtlich wieder hier,« sagte er, »das heißt, wenn nicht bis dahin alles entschieden ist.«

Lionel sah ihn an. »Sie verlassen heimlich und in irgend einer Verkleidung die konföderierten Bollwerke, um Kunde einzuziehen und diese dann Ihrer Regierung zu überbringen, nicht wahr, mein lieber Jack?«

Der Trapper wechselte die Farbe. »Ich nehme für solche Dienste keinerlei Bezahlung, Sir!« rief er hastig. »Ich bin kein Spion.«

Lionel bot ihm die Hand. »Das weiß ich ja!« begütigte er. »Sie kämpfen für Ihre Überzeugung in – Ihrer Weise, das ist alles.«

Der Trapper atmete freier. »Hunderte dienten so der Sache des Südens, Sir, – Tausende! Und es sollte doch alles, alles umsonst sein!«

»Aber ich muß nun gehen, junger Herr,« setzte er dann hinzu. »Mein Pferd wartet. Wenn ich lebe, so sehen wir uns wieder.«

Noch ein Händedruck und dann war der treue, bescheidene Freund auf und davon, um die geheimen Instruktionen der Regierung dem Generalkommando zu überbringen. Lionel sah ihm nach, so lange er in seiner hübschen Ledertracht die Straße hinabging, schlank und gewandt, ein schöner, stattlicher Mann, den beinahe alle Begegnenden grüßten, dem viele im Fluge einige Worte zuriefen und der offenbar einer allgemeinen Beliebtheit genoß. Armer Jack! Wie würde er leiden müssen, wenn das Schicksal zu gunsten des Nordens gesprochen hatte! –

Nun kam eine Biegung des Weges und Jack Peppers war verschwunden, – Lionel wandte sich zu dem Stapel seiner alten Kalender zurück und blätterte, ohne zu lesen.

Noch lange Stunden, bevor Philipp hier sein konnte!

Bisweilen kamen die alten Leute, um nach ihm zu sehen, dann wieder versuchte er zu schlafen oder zu zeichnen, aber immer schlich der Tag drückend langsam vorwärts, endlos gedehnt wie keiner vorher. War es denn wirklich erst gestern geschehen, daß er auf dem Bauerwagen durch das Land fuhr und sich glücklich schätzte, nur für den Augenblick der Gefangenschaft der Konföderierten entronnen zu sein? Erst gestern?

Es schienen Monate, Jahre vergangen, seitdem er die Fesseln an seinen Händen mit den Zähnen zerbiß und sich freimachte.

Die Schwalben umflogen in großen Zügen den Kirchturm mitten auf dem freien Platze, höher und höher stiegen die Sonnenstrahlen, bis endlich der letzte verglüht war und aus den Ecken hervor die grauen Dämmerschleier des Abends alle Gegenstände umspannen. Nun bald! – O lieber Gott, nun bald! – Lionel fühlte, wie ihm das Herz mit verdoppelter Stärke schlug, so oft er nur des einzigen Menschen gedachte, an dem er mit wirklicher, inniger Liebe hing. Auch die Familie Neubert war ihm ja gewiß teuer, er hing aufrichtig an Jack Peppers, aber dennoch behielt, allen anderen voran, doch Philipp in seinem Herzen die oberste Stelle. Und nun sollte er ihn nach jenem wehevollen Abschied auf Seven-Oaks zum erstenmale wieder sehen!

»Philipp!« flüsterte er unwillkürlich. »Ach, Philipp! –«

Es war jetzt völlig finster, auf der Straße wurden die Laternen angezündet und leise schlich sich Lionel an das Fenster.

Wer hat nicht so gestanden und gewartet? Wer hat nicht jeden Vorübergehenden gemustert und zehnmal, hundertmal mit pochendem Herzen sich selbst gefragt: Ist er es? – Bis dann der Ersehnte kam und ein einziger Blick hinreichte, um ihn zu erkennen.

Lionels Aufregung war so groß, daß ihm die Kopfbedeckungen aller Vorübergehenden im Lichte der blauen Sekundanermütze erschienen, bis dann plötzlich ein neuer Gedanke diesen ersten verdrängte. War nicht Philipp inzwischen zum Primaner vorgerückt?

Gewiß, er trug jetzt die rote Mütze.

Und da, – wirklich – kam er nicht schon, mühsam gehend, an der Krücke die Straße herauf? Sah er nicht nach den Hausnummern?

Wie der Blitz flog Lionel die Treppen hinab. In diesem Augenblick überlegte er nicht, dachte nicht, sondern fühlte nur. Er öffnete die Hausthür und zog mit einem halberstickten Freudenlaut den lang Vermißten zu sich auf den Flur, dann breitete er seine beiden kräftigen Arme aus und trug den armen, kränklichen Krüppel hinauf in sein Zimmer, um ihn bei hellem Lampenlichte anzusehen und alle Liebe, allen Jubel seines Herzens voll und ungehindert hervorbrechen zu lassen.

»Philipp! Philipp! – Ach, endlich habe ich dich wieder!«

»Mein guter, lieber Lionel! – Wie frisch, wie gesund du aussiehst!«

»Aber du um so weniger, Philipp! Grämst du dich? Hast du Kummer?«

»Ach!« –

Immer noch hielten die beiden jungen Leute einander umfaßt und einer sah dem anderen ins Auge. »Du bist sehr bleich, Philipp! – Komm, nimm diesen Sessel, der Weg zu mir hat dich angestrengt, – du darfst nicht wieder hierherkommen.«

Eine Handbewegung wehrte ihm. »Laß nur, Lionel, laß nur. Das kommt von innen heraus, du kannst daran nichts ändern. Aber wie auch die Dinge ihren Verlauf nehmen mögen, wie viel Schmerzliches da geschehen ist und ferner noch geschieht, – wir beide bleiben einander treu, nicht wahr? Wir lassen keinen Menschen und kein Ereignis zwischen uns treten?«

»Nie, Philipp, nie, das schwöre ich dir!«

»Dann ist alles gut! Sieh, von den Jahren, die bis zur Erlangung meiner Mündigkeit noch vergehen müssen, ist eins jetzt schon dahin – und wahrscheinlich das schwerste, unleidlichste; auch die anderen werden folgen. Bin ich Herr meiner Handlungen, so fällt Seven-Oaks an dich zurück und du gewährst mir nur –«

»Philipp! Das in der ersten Stunde unseres Wiedersehens?«

Der bleiche Knabe nickte. »Du wußtest schon, was ich sagen wollte, Lionel, es lag mir nur daran, dich zu überzeugen, daß meine Absichten unverändert geblieben sind. Ach, könntest du sehen, welcher Druck auf meinem Herzen lastet, könntest du –«

»Ich bitte dich, laß' das alles. Wahrlich, du quälst mich!«

Aber Philipp schüttelte den Kopf, sein Gesicht war weiß wie die Kalkwand, an der er lehnte. »Ich muß dir doch noch einiges sagen, Lionel, so schwer mir's auch wird. Du darfst vorläufig, bis sich die großen politischen Fragen entschieden haben, nicht aus dem Hause gehen, du mußt dich vielmehr strengstens verborgen halten, denn wenn dich – großer Gott, daß ich's nicht leugnen kann! – Lionel, wenn dich mein Vater sähe, so wärest du verloren!«

Unser Freund nickte. »Er haßt mich, ich weiß es.«

Philipp stützte das blasse Gesicht in die Hand. »Er fürchtet dich, Lionel, er –«

»Aber das können wir ruhen lassen. Du gibst mir dein Versprechen, nicht hinabzugehen, bis die Regierungstruppen hier sind?«

»Ganz gewiß, Philipp, – o Liebster, Bester, nun erzähle mir endlich von dir, von deinem Leben, deinen Hoffnungen! Du bist Primaner geworden?«

Philipp nickte. »Glaube mir, so viel Mangel und Beschwerden du auch ertragen haben magst, mein lieber Lionel, – unglücklich und elend wie ich warst du nie. Papa hat am Markt das große Eckhaus mit den Türmen gekauft, darin leben wir einsam wie zwei Verbannte, die an den natürlichen Freuden des Daseins keinen Teil haben. Aber nicht allein das, Papa ist noch dazu immer krank, immer mißtrauisch, – – ich bin vollkommen darauf gefaßt, ihn früher oder später irrsinnig werden zu sehen.«

»Sprechen wir von dir, Philipp!« bat Lionel.

»Ja, ja, von mir,« versetzte mit nervöser Hast der Knabe.

»Ich pflege meine Gesundheit, ich überwache jede Handlung, jede Minute, nur um zu leben, bis mein einundzwanzigstes Jahr vollendet ist. Dann habe ich nur noch einen Vater, aber keinen Vormund mehr, dann gibt es auf Erden keine Macht, die mich hindern könnte, das ungeheure Verbrechen zu sühnen.«

»Sieh!« fuhr er fort, »es ist ja auch für ihn, für meinen unglücklichen, von dem Gedanken an den unermeßlichen Reichtum des Onkels ganz umgarnten Vater, wenn ich seine schwere Schuld auszugleichen suche. All mein Denken muß –«

»Philipp, ich bitte dich! Wir haben überhaupt noch keinen Beweis einer vorhandenen Schuld, wir irren vielleicht gänzlich, wenn –«

Ein Kopfschütteln unterbrach den angefangenen Satz. Philipp legte das Gesicht in beide Hände, aus seiner Brust drang ein dumpfes, erschütterndes Schluchzen. »Ja, Lionel,« brachte er mühsam hervor, »ja, ich habe Beweise. Einmal mußte es gesagt sein. Wenn die Sklavenbefreiung zur Thatsache geworden ist, wenn deine Freiheit nicht mehr gefährdet werden kann, so wirst du gegen meinen Vater klagen und –«

»Niemals, Philipp, niemals, und sollte ich Chausseesteine klopfen! Gibt mir das Schicksal einen Beweis in die Hand, so muß mir Mr. Trevor Rede stehen, obwohl er dein Vater ist, so muß er teilen, was mein Onkel hinterließ, aber öffentlich greife ich ihn nicht an. Es gibt Dinge, die doch noch teurer, noch unendlich wertvoller sind, als der bare Besitz, – dazu rechne ich unsere Freundschaft. Dein Vater ist mir als solcher geheiligt.«

Philipp trocknete seine heißen Augen, er drückte zärtlich Lionels Hand. »Jetzt ist mir leichter,« flüsterte er. »Einmal mußte das zwischen uns zur Sprache kommen, ich habe mich fort und fort nach dieser Stunde gesehnt.«

Lionel legte den Arm um die schmalen, eingefallenen Schultern seines Freundes. »Ja,« gestand er, »es ist besser so, auch ich fühle es. Aber nur unter der Bedingung, daß wir jetzt auf dasselbe Thema nicht wieder zurückkommen. Erzähle mir von unseren Klassenkameraden, Philipp, – die meisten stehen bei der Armee, nicht wahr?«

Philipp nickte. »Sie standen, Lionel! Der Tod hat fast alle hingerafft. In den letzten, furchtbaren Schlachten sind sie spurlos verloren gegangen, ganz spurlos, – man hat nicht einmal ihre Leichen aufgefunden, keine Kunde erlangt, nichts als nur ein einziges, aber in seiner Bedeutung schreckliches Wort: ›Vermißt‹!«

»Sie kämpften natürlich alle für den Süden?«

»Alle. Unser Primus, der hübsche Frank Stephenson, hat es zum Leutnant gebracht; ihn sah ich kürzlich.«

Und nun waren die beiden jungen Leute in jener Stimmung, wo man den andern fragt: »Weißt du noch?« – Da kommt dies und das zum Vorschein, Erschütterndes und Komisches, da wird unwillkürlich gelacht und in den Erinnerungen einer glücklichen Vergangenheit geschwelgt. Lionel und Philipp saßen über eine Stunde lang beieinander und hatten, als sie sich endlich trennten, den Bann, der sie im Anfang beherrschte, fast vollkommen abgestreift. Philipp erzählte, daß er einen treuen, vollständig ergebenen Sklaven besitze und daß dieser täglich Nachrichten überbringen werde, auch Geld, so viel Lionel haben wollte.

»Mein Vater beschränkt mich in keiner Weise,« fügte er bei. »Ich kann jede Summe verlangen, – daß ich also für dich gehörig zugreife, ist natürlich. In meinem Pulte liegen mehr als zweihundert Dollar.«

Lionel dankte ihm herzlich, bat aber, nichts mehr zu schicken. »Ich bin ja ein Gefangener,« setzte er hinzu, »ich darf mich nicht auf die Straße hinauswagen, geschweige denn in irgend ein anderes Haus gehen.«

Philipp schüttelte den Kopf. »Nein, um des Himmels willen nicht. Und nun adieu, mein guter Lionel, – wir sehen uns bald wieder.«

Er ging nach kurzem Abschied unter dem Beistande Lionels vorsichtig die Treppen hinab und nach Hause. Der Palast am Markt war bald erreicht, ein ödes, grabesstilles Heim, in dessen unteren Räumen die große Hängelampe einen wahrhaft fürstlichen Luxus beleuchtete. Schwarze Dienerschaft fand sich überall, der junge Gebieter wurde beinahe auf den Händen zum ersten Stock hinaufgetragen und in sein prächtig eingerichtetes Zimmer geführt: hier erst fragte er seinen Diener, ob Mr. Trevor zu Hause sei.

»Ja, Sir! Seine Ehren haben auch schon nach dem jungen Herrn gerufen.«

»Nun gut, dann werde ich ihn aufsuchen. Es ist doch sonst niemand zugegen, Ben?«

»Niemand, Sir!«

Philipp trank ein Glas Wein und befeuchtete die Stirn mit einer scharfen Essenz, ehe er sich in das Zimmer seines Vaters begab. Ein Schauder lief durch alle seine Adern, es erregte ihm ein unabweisliches Grauen, den Luxus und die beinahe orientalische Pracht rings umher anzusehen. War nicht jeder Cent dieser großen, in toten Schmuckgegenständen angelegten Werte einem anderen, seinem liebsten Freunde gestohlen?

Zaghaft klopfte er an Mr. Trevors Zimmer. »Ha!« kreischte statt aller Antwort von drinnen eine Männerstimme. »Ha! Wer kommt? – Sind es Mörder? –«

Und die Thür wurde ungestüm aufgerissen, eiligen Schrittes erreichte Trevor die Mitte des großen Raumes, ehe sein Sohn den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte. »Vater!« rief der Knabe, »Vater, ich bin es ja, erkennst du mich denn nicht?«

Mr. Trevors Hand glitt mehrere Male nach einander über die hohe, ganz kahle Stirn. Er war, seit wir ihn in Seven-Oaks sahen, beinahe bis zur Unkenntlichkeit verändert, die Augen glühten in dem todblassen Gesicht wie Kohlen, die ganze Erscheinung trug den Stempel des äußersten Verfalles. Nur ein leichter Kranz von Haaren umgab den Hinterkopf, eine erschreckende Magerkeit verlieh der gebeugten Gestalt das Ansehen eines Skelettes. Mr. Trevor trug in der Hand einen Stock, den er kaum jemals von sich ließ.

Jetzt traf ein böser, mißtrauischer Blick den Knaben. »Wie kannst du dir erlauben, mich zu fragen, ob ich dich kenne?« schrie der erbitterte Mann. »Hältst du mich etwa für wahnwitzig, Bursche? Rechnest du darauf, mich ins Tollhaus zu bringen?«

»Vater! Vater!«

»Ich kenne dich, ich weiß, was ich sage. Um meine Person herum gibt es Geheimnisse, Verschwörungen, man ist bemüht, Verleumdungen gegen mich auszuhecken!«

Eine Wolke legte sich auf Philipps blasse Stirn. »Verleumdungen?« wiederholte er mit leiser Stimme, »O, Vater, – Verleumdungen?«

Trevor nickte, er erhitzte seine Phantasie am Klange der eigenen Worte immer mehr und mehr. »Natürlich Verleumdungen!« schrie er. »Was denn sonst wohl? Ich habe kein Unrecht begangen! Nichts! Nichts! Was man behauptet, das ist erlogen.«

Philipp zuckte die Achseln. »Du bist aufgeregt, Vater. Laß uns jetzt schlafen gehen, das wird deine Unruhe mildern. Mir hat niemand etwas Böses über dich mitgeteilt.«

Trevor fuchtelte mit dem Stock in die Luft. »Das lügst du!« rief er ungestüm. »Aber ich weiß es nur zu wohl, anstatt die Partei deines Vaters zu nehmen, hältst du es lieber mit seinen Widersachern, besonders mit diesem Jack Peppers, meinem Todfeinde. Der Mensch ist im stande, von mir die unerhörtesten Dinge zu behaupten.«

Philipp senkte den Kopf, wie von einem vernichtenden Schlage betroffen. »O Vater,« sagte er leise und traurig, »wenn du den tieferen Sinn deiner Worte mehr wägen wolltest! Ich bitte dich inständig – sprich in dieser Weise zu keinem anderen Menschen.«

Trevors Augen funkelten wie die der gereizten Bestie. »Damit alle eure lichtscheuen Pläne besser zur Geltung kommen, nicht wahr? O ich hasse diesen Burschen, ich hasse ihn, und wenn er es wagt, nochmals meinen Weg zu kreuzen, so schlage ich ihn nieder wie einen tollen Hund, – das magst du ihm ausrichten.«

Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn und trat seinem Sohne näher. »Heute morgen sprach der Trapper mit dir, – er war offenbar bis zur Thür des Gymnasiums gegangen, um dich zu treffen, – leugnest du es etwa?«

»Ich weiß darüber nichts!«

»Ah! – Und was sagte er dir?«

»Dies und das! Er erzählte mir von seinen persönlichen Angelegenheiten. Dein Name ist in unserem, kaum zwei Minuten dauernden Gespräch nicht genannt worden.«

Mr. Trevor lachte. »Alles Lügen!« zischte er. »Alles Lügen! O meine Augen sehen scharf, meinen Ohren entgeht nichts. Jack Peppers gab dir ein Blatt Papier!«

Philipp zuckte zusammen, aber er schwieg.

Sein Vater streckte die Hand aus. »Jack Peppers gab dir ein Blatt Papier!« wiederholte er. »Ist es so, oder nicht?«

Philipp nickte möglichst gelassen. »Ja, Vater!«

»Was stand darauf? Was war es? Ich will dies Papier haben!«

Philipps Fingerspitzen bebten, man sah, daß er mühsam die hereinbrechende körperliche Schwäche bekämpfte. »Es war nichts, das dich oder deine Angelegenheiten betraf, Vater, es war überhaupt nur eine Adresse, die mir der Trapper gab.«

»Wessen? Wessen?«

»Das wünsche ich zu verschweigen, Vater. Es handelt sich hier um Dinge, die dich in keiner Weise berühren, die mit –«

Weiter kam er nicht. Mr. Trevor hob den Stock und schlug so rücksichtslos nach seinem Sohne, daß dieser sich nur durch einen schnellen Seitensprung zu retten vermochte. »Ich will das Papier haben!« schrie der Rasende. »Ich will es haben, denn ich weiß, was es ist, was darauf steht, wozu es dienen soll, ich weiß alles! – Her damit! Her damit!«

Philipp brachte zwischen sich und seinen Vater einen schweren Tisch, den er so hielt, daß ihm die Breite desselben notfalls als Schanze dienen konnte. »Du irrst, Vater!« sagte er mit erzwungener Ruhe. »Du irrst vollständig!«

Mr. Trevor schäumte vor Wut, sein ganzer Körper zitterte. »Ich weiß alles!« schrie er. »Es ist das Testament – –«

Aber dann hielt er plötzlich inne; der Anfall schien vorüber, die auf das äußerste angespannten Kräfte ließen nach. Mit dumpfem Geräusch fiel der Stock auf den Teppich, langsam, Zoll um Zoll schlich der bebende Mann seinem Sohne näher. »Um Verzeihung, Philipp, was habe ich da eben gesagt? Was? – –«

Er flüsterte es, kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, die Hände griffen haltlos nach einer festen Stütze. »Was war es, Philipp, mein Kind? Verschweige mir nichts! Was hörtest du? Sprach ich von einem – einem –«

»Du wolltest von mir ein Blatt Papier haben, Vater, eine Adresse!«

Trevor lächelte gezwungen. »Ach ja, ja, ich weiß schon, weiß schon. Natürlich, ein Vater muß sich überzeugen, wohin sein Kind geht! – Ja, ich wollte, – nun, was war es doch? – Richtig, richtig, ich wollte dich fragen, wo du heute den Abend verbrachtest? –«

»Bei einem Schulfreunde, Vater.«

»Gut, ganz gut. Ich bin so nervös, diese Kriegsunruhen, dies beständige Auf und Ab! – ein Knabe in deinem Alter begreift das noch nicht! – Zuweilen spreche ich Worte, die ganz ohne Sinn zu sein scheinen; war das auch vorhin so?«

Philipp schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts bemerkt, Vater!«

Mr. Trevor reichte ihm die Hand. »Gute Nacht, mein Junge! Weiß Gott, der Kopf brennt mir wie Feuer!«

Philipp erhob sich. »Gute Nacht, Vater!«

Zwei kalte Hände berührten sich, dann ging Philipp schweren Schrittes, an seiner Krücke hinkend, hinaus, während der Vater zuerst den Stock vom Boden anfhob und, einen langen Blick durch das Zimmer sendend, langsam die Thür eines Nebengemaches öffnete, um nun mit gebeugtem Oberkörper und zögerndem, unruhigem Wesen die Schwelle zu überschreiten.

»Ist hier jemand?« flüsterte er.

Alles blieb still. Mr. Trevor trat einige Schritte weiter in das Schlafzimmer hinein, er griff hastig nach den Falten der Vorhänge und schüttelte den Stoff, dann sah er unter das Bett und das Sofa, zuletzt hinter den Ofen. Nichts! nichts! – –

»Kein Mörder,« murmelte er. »Kein Mörder.«

Auf dem Nachttischchen brannte eine kleine Lampe mit blauem Schirm, das Zimmer in angenehmes Halbdunkel hüllend, Mr. Trevor begann in dem Umkreis dieses Lichtes auf und ab zu gehen, während er die tieferen Schattenpartien sorgfältig vermied. Nach einigen Minuten blieb er stehen, die Hand an die Stirn gelegt, gebückt, unruhig atmend.

»Ob ich wohl das Wort ›Testament‹ ausgesprochen habe?« flüsterte er vor sich hin. »Testament! – was sollte Philipp davon denken?«

»Er hat ohnehin Geheimnisse, er grübelt und sinnt nach. Weshalb er wohl den Shakespeare liest? Immer das verfluchte Machwerk, das, welches ich hasse. Dieser Richard der Dritte ist ein Narr, eine Memme ohne Charakter!«

Er nahm seine Wanderung wieder auf. »Ob Philipp mich vielleicht mit diesem britischen Fürsten in der Stille vergleicht?« murmelte er. »Ha, das wird es sein. Nun weiß ich alles!«

Ein höhnisches Lachen gellte durch das Zimmer; Mr. Trevor horchte. »Ob mich die schwarzen Spitzbuben belauern, vielleicht Philipp selbst?«

Er riß die Thür auf und führte mit dem Stocke einen Hieb in die leere Luft. »Keiner da! Sie wagen es nicht, die Hunde!«

»Mich mit König Richard zu vergleichen, – welcher Unsinn! Es ist auch kein einziger Berührungspunkt vorhanden.«

Und er begann aus dem Gedächtnis zu recitieren, hier bald und dann wieder an anderer Stelle, – immer unheimlicher, immer hastiger und hastiger wurde dies Flüstern.

»Erbarmen, Jesu!« klang es wie in innerer Qual von den Lippen des blassen Mannes. »Das Licht brennt blau, – 's ist tote Mitternacht!« – –

Mit einem Satz sprang er zur Lampe und riß den Schirm herab. »Blau? Blau? Dies elende Stück Papier sollte mich schrecken? – Lächerlich!« – –

»Nichts vom Gewissen! Nichts, sage ich. Das Ding ist etwas Anerzogenes, etwas bei allen Völkern Verschiedenes, – ein Unsinn. Überwunden ›bis daß man etwa zwanzig zählt.‹ – Und zehntausend Zungen sollte das meinige besitzen und alle diese Zungen sollten verschiedenes Zeugnis ablegen? – Wahnsinn!«

»Bin ich denn überhaupt Richard? Bin ich ein Mörder?«

Er zuckte zusammen, seine Sprache wurde jetzt undeutlich und lallend, seine Blicke starr. »Ein Mörder?« wiederholte er. »Wer behauptet das? Shakespeare oder Jack Peppers?«

»Der verfluchte Trapper natürlich. Was stand auf dem Papier, das er meinem Sohn in die Hand drückte?«

»Ob es? – Ob es? – –«

»Aber kein Wort, kein Wort, die Sache ist zu gefährlich.«

»Der Schurke, ich will mich überzeugen, – ich will ihn vernichten, vernichten! Was hat er gesagt? – Er bildet sich ein, Herzog von Buckingham zu sein, er denkt an die Jagd, bei der Charles Trevor erschossen wurde, – erschossen von seinen Negern! – Diese Jagd hat er veranstaltet. ›Der Erste, welcher dir zum Throne half, war ich!‹ – Was will er denn? Was meint er?«

Und nun brach die Raserei wieder los. Mr. Trevor schien das Sprachvermögen eingebüßt zu haben, er keuchte nur noch, aber er zerriß und zerfetzte jeden Gegenstand, der ihm unter die Finger kam, er raufte sich die Haare aus und fiel dann wie betäubt auf den Teppich, wo er eine Zeitlang liegen blieb, während die Sklaven draußen vor der Thür standen und angstvoll horchten. Zuweilen zerschlug ihr Gebieter auch die Mobilien und nur der eigene Sohn konnte ihn zur Ruhe bringen, oder er kam auf den Flur hinausgeschlichen, rief wie in Todesangst: Luft! Luft! und fiel ohnmächtig dem Nächsten, Besten in die Arme.

Jetzt rührte sich nichts und erst nach längerer Zeit erklang drinnen die Glocke, welche Marshal, den schwarzen Kammerdiener herbeirief. Mr. Trevor saß auf dem Sofa, bebend und bleich, mit unruhig rollenden Augen. »Ankleiden!« gebot er. »Der Kutscher soll sogleich die Pferde anspannen.«

Der Kammerdicner schien nicht verstanden zu haben. »Jetzt, Sir?« sagte er halblaut, »mitten in der Nacht?«

»Willst du gehorchen, Schuft?«

Marshal zog sich schleunigst zurück und überbrachte dem schlaftrunkenen Kutscher den unwillkommenen Befehl. Die Pferde wurden angespannt, der Wagen fuhr vor, jemand von der Dienerschaft legte einige Flaschen und einen Korb mit Speisen in die Equipage, dann stieg Mr. Trevor ein und fort ging es, zur Stadt hinaus, ohne einen bestimmten Befehl oder eine Verabredung, als könne gerade nur dieser eine Weg eingeschlagen werden. Die Leute wußten schon, wohin derartige nächtliche Fahrten gingen.

Allein im Fond der Equipage saß Mr. Trevor und hielt die Arme über der Brust gekreuzt. Hier flüsterte er nicht, verzog keine Miene, gestattete sich keinen Seufzer, denn die Dienerschaft hätte ihn ja hören können, aber unablässig brannte in seinem verstörten Gehirn eine Frage, die ihm um so weniger Rast und Ruhe ließ, als er nach außen hin ganz teilnahmlos, ganz gleichgültig erscheinen mußte.

»Was stand auf dem Papier, das Jack Peppers meinem Sohne gab?«

Er grübelte und grübelte und kam immer wieder zu dem Schlusse, daß es das Testament sein müsse. Aber wie war der Trapper in den Besitz desselben gelangt?

Vorüber an Häusern und Gärten flog die Equipage mit den dampfenden Rossen, vorüber an Bergen und tiefen Thälern, durch die sich Flüsse in sanften Krümmungen dahinzogen. Gegen Morgen war eine Bahnstation erreicht; auf dem äußeren, weiten Hofe hielt der Wagen.

Noch hüllten blaue Nebel alles ein, die Thüren der Betriebsgebäude waren geschlossen und nur der Wächter ging langsamen Schrittes auf und ab, zuweilen mit dem schwarzen Kutscher ein Flüsterwort tauschend, zuweilen im Halbschatten für längere Zeit verschwindend, um dann wie ein Gespenst am anderen Ende wieder aufzutauchen.

Alle Bahnhofsbeamte kannten die Equipage und ihren schweigsamen Gebieter, sie wußten, daß Mr. Trevor bis zum zweiten Signal hinter herabgelassenen Vorhängen unbeweglich saß und erst, wenn es die höchste Zeit war, wie ein gehetzter Hase quer über den Perron lief, um ein Koupee erster Klasse für sich allein in Besitz zu nehmen.

Die Mütze war tief in das Gesicht hinabgezogen, der Rockkragen aufgeklappt und das Gesicht versteckt. Mr. Trevor lehnte in der Ecke, bis der Zug volle Fahrt hatte, dann kroch er allmählich aus allen seinen Verhüllungen hervor und hielt Umschau.

Keine Spalten oder Löcher in den gepolsterten Wänden? Er sah und tastete. Keine Spionage irgend welcher Art möglich?

Unruhig fuhren die bebenden Finger umher. Nein! – Es war alles sicher!

Und wieder verfiel der einsame Mann in die alten, quälenden Grübeleien. Er gestikulierte, er lachte und drohte, er hielt halb gemurmelt ganze Reden.

Dann hatte der Zug sein Ziel erreicht. Wieder wurde ein Wagen bestiegen, wieder ging es vorwärts in sausender Fahrt, bis eines Gottesackers weiße Kreuze durch den hellen Mittagssonnenschein herüberschimmerten.

»Wieder derselbe Herr!« raunte ein Knecht des Totengräbers dem anderen ins Ohr. »Wie er von einemmale zum anderen verfällt!«

Sie stützten sich beide auf ihre Schaufeln und sahen dem sonderbaren Besucher entgegen. »Der ist verrückt!« raunte einer.

»Ich glaube es auch. Hast du ihn schon an dem Grabe des erschossenen Mr. Trevor von Seven-Oaks einmal beobachtet?«

»Nein. Du vielleicht?«

»Häufig, sage ich dir. Komm nur mit, du sollst Wunderdinge sehen.«

Die beiden eilten über mehrere Rasenstücke hinweg, dem langsam schreitenden Mr. Trevor weit voraus, sie versteckten sich hinter Gebüschen und beobachteten nun die seltsamen Untersuchungen, welche der Gentleman vornahm.

Der Diener Marshal mußte ihn stützen, er schien so kraftlos, daß es ihm überhaupt Mühe kostete, aufrecht zu stehen, erst als das Grab erreicht war, kam neues Leben in die schwache, hinfällige Gestalt. Mr. Trevor kniete vor dem großen Eisengitter, das ohne Thür oder Zugang die Ruhestätte seines verstorbenen Vetters rings umschloß, er griff mit der Rechten zwischen die Stangen und befühlte eine Reihe großer Steine, die hart an der Außenwand lagen, er hob jeden einzelnen auf und besah die innere Höhlung.

Alles so, wie er es vor acht Tagen verließ. Alles so! –

Aber freilich, es konnte ja List gebraucht worden sein, vielleicht hatte man das Gitter entfernt und den schweren Denkstein bei Seite gerückt!

Kalter Schweiß erschien auf der Stirn des emsig Wühlenden. Ein neuer Gedanke hatte ihn erfaßt, hurtig stand er auf.

»Nun gib acht!« raunte der eine Knecht dem anderen zu. »Jetzt kommt es!«

Hinter einem Baume stand auch der Totengräber; er schüttelte den Kopf, mit verschränkten Armen beobachtete er den fremden Herrn.

»Marshal!« rief Mr. Trevor, »Marshal, faß an!«

Der Schwarze gehorchte sogleich. Er selbst und sein Gebieter rüttelten mit aller Macht an den Eisenstäben, rings umher blieb kein einziger verschont, ja, der Diener mußte sich rücklings gegen das Gitter werfen, um die Festigkeit desselben zu erproben.

»So recht, Marshal, so recht, – zu Hause schenke ich dir ein paar Dollar! Greife nochmals überall hin!«

Der Diener schüttelte, daß das ganze Gefüge zu klirren begann. »Ein Elefant würde seine Mühe daran haben, Sir!«

»Das ist gut, Marshal, das ist gut. Nun klettere hinauf!«

Rings waren die Stäbe mit scharfen Spitzen gekrönt. Marshal erklimmte die halbe Höhe, dann fanden seine Hände keinen Haltepunkt mehr, er sah achselzuckend zu Boden und schwenkte den linken Arm. »Weiter kommen kann ich nicht, Sir!«

»Ist das ganz gewiß, Marshal, könnte es kein Mensch?«

»Keiner, Sir! Er müßte sich denn aufspießen wollen.«

Mr. Trevor seufzte; mit dem Gefühl der Erleichterung sank er immer kraftloser in sich zusammen. »Das ist gut, Marshal, das ist gut. Niemand hat das Gitter überstiegen, niemand hat es vom Platz gerückt. Das ist gut.«

Und dann mit halblauter, versagender Stimme: »Bringe mich zum Wagen, Marshal! Ach, ich glaube, ich bin heute krank!«

Der Schwarze gehorchte. Während die beiden Knechte des Totengräbers einander und dann zusammen ihren Gebieter ansahen, trug Marshal seinen halb bewußtlosen Herrn zur Equipage und ließ ihn mit Hilfe des Lohnkutschers in die Polster gleiten.

Mr. Trevor sah matten Blickes umher, dann sank der Kopf zurück und eine tiefe Ohnmacht umhüllte seine Sinne.

Marshal nahm aus dem Wagenkasten eine Flasche, von deren Inhalt er Tropfen nach Tropfen auf die Lippen des Bewußtlosen herabfallen ließ. Bei dieser Gelegenheit kam er selbst zu einem tüchtigen Schluck, aber das schadete ja nicht, Mr. Trevor fragte niemals nach derartigen Kleinigkeiten.

So endete diese Fahrt zum Grabe des ehemaligen Gebieters von Seven-Oaks, wie vor ihr alle früheren.


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