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XVIII.

Seit ich das Land verlassen hab,
So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zahle,
So will verbluten meine Seele.

Heine.

Wieder nach Rußland zurückgekehrt, wurde ich bald in Petersburg am kaiserlichen Marien-Institut angestellt und Deutschland mit seinen Erlebnissen lag hinter mir wie ein Traum.

Ich hätte glauben können, all' das sei nie gewesen, wenn mich die Briefe, die ich von dort erhielt, nicht überzeugt hätten, daß es dennoch Wirklichkeit gewesen. Von Deutschland reden durfte ich nicht viel, da meine Verwandten es nicht liebten, daran erinnert zu sein, daß ich je gemütskrank gewesen.

Die Sommerferien verbrachte ich bei meinem Onkel in T. Und hierher erhielt ich meine Briefe aus Deutschland. Ich war zum Teil daran schuld, daß die ersten mir nichts als Herzeleid brachten.

Als ich nämlich in Berlin bei jener Familie Lanz am zweiten Tage meines dortigen Aufenthaltes erwachte und alles noch schlief, ließ ich, um mich zu zerstreuen, alle Eindrücke des vorangegangenen Tages Revue passieren, und als ich mit den Spazierfahrten, der internationalen Bilderausstellung, dem Aufzuge des Hofes zur Konfirmation des W.schen Prinzen, den ich gesehen, dem reizenden Theaterstück ›Krieg im Frieden‹ durch war, kam unerbittlich die Erinnerung an Helbingen zurück. Es half kein Abwehren.

Was macht er jetzt, kann er schlafen?

O wie sollte er nicht ruhig schlafen können, er liebt mich ja nicht. – Scherz, Scherz – nichts als Scherz und ein herzloser Scherz dazu. Wozu diese zweimalige Bitte um die ›ernste‹ Unterredung? – Alles nur Scherz – natürlich.

Nicht einmal schriftlich hat er mir auf meine Karte geantwortet, nein, einfach durch Anna, durch einen Dienstboten sagen lassen: er hätte mir nichts Besonderes mehr zu sagen.

Nichts Besonderes! Ja, wann hatte ich denn merken lassen, daß ich etwas ›Besonderes‹ von ihm erwartet.

Empörend! – aber ich werde mich rächen! Du sollst es fühlen, wie es thut, wenn man so etwas von Dienstboten erfährt.

Aufgestanden nahm ich eine offene Briefkarte, die durch seine Hände gehen mußte, da gestern der Geheimrat nach Karlsbad abgereist war und die Ärzte nun die Correspondenzen ihren Abteilungen abzuliefern und sie durchzusehen hatten. Ich schrieb:

»Liebes Annele! Glücklich in Berlin angelangt. Alles hier wunderschön und interessant. Gestern Abend im Theater, Kaiser und Kaiserin gesehen. Lanzen's sehr liebenswürdige Leute. Frl. Martha, Ihr ehemaliger Pflegling, sendet besten Gruß. Heute Abend reise weiter.

Meine Empfehlungen an Herrn Dr. Mai und April. Letzterem können Sie übermitteln, daß ich nie etwas ›Besonderes‹ von ihm erwartet, da er mir stets sehr gewöhnlich vorgekommen ist.

Herzlich grüßend
M. P.«

So herzlos war ich; doch Gott sei Dank, das Schreckliche geschah ja nicht gleich; – dürfte ich sonst noch eine ruhige Stunde haben?

Der erste Brief, den ich aus Helbingen in Rußland erhielt, war von Dr. Tondern. Er enthielt nichts als sein Bild und die Bemerkung: ›Absender Dr. April‹.

Ich setzte mich sofort nieder und schrieb:

»Geehrter Herr Dr. April!

Meinen besten Dank für die Übersendung Ihrer, mir versprochenen Photographie, die ich sehr gelungen finde und den ganzen Tag betrachte, wobei ich natürlich an die angenehmen Helbinger Tage und besonders an den herrlichen Schlußaccord der Divina Commedia denke.

Mein Onkel läßt sich Ihnen empfehlen, ebenso dem Geheimrat und Herrn Dr. Mai. Ich lese augenblicklich Knigge's ›Umgang mit Menschen‹, welches Buch ich Ihnen dringend anempfehle.

Ihnen recht viel Vergnügen wünschend
Ihre gehorsame
Dienerin
M. Prätorius.«

Du sollst sehen, wie wenig ich mir daraus mache – da sieh es nun!

Nach wenigen Tagen kam ich wieder zur Besinnung und schrieb einen vernünftigeren Brief, in dem ich ihm vorschlug, um der schönen Helbinger Tage willen, Frieden zu machen.

Jetzt folgte ein acht Seiten langer Brief von ihm, ein liebenswürdiger Brief, ganz im Ton jener ersten Zeit der Neckerei, aber der rechte Ton wollte sich nicht mehr zwischen uns herstellen lassen.

In jedem seiner Briefe tauchte mein Besuch bei Herrn Braun auf. Kein Erklären, kein Verteidigen wollte helfen – wollen Sie denn gar nicht begreifen‹, schrieb er nach solch einer Erklärung meinerseits, ›wie unerträglich es für mich sein mußte, daß Sie bei Leuten ins Gerede kamen, die es nicht einmal verdienten, Ihren Namen in den Wund zu nehmen?‹ Er versicherte dann zwar, ›unwiderruflich zum letzten Mal‹ davon zu sprechen, hielt mir jedoch eine mehrseitige Rede. Hin und wieder leuchtete der alte Humor durch, dazwischen Klagen über Öde und Leere; doch sprach er es nicht aus, daß er mich vermisse; er schien allzusehr verletzt von der Berliner Karte, von der Abreise ohne Abschied, von unserm letzten Beisammensein, wo ich ihn, wie er brieflich behauptete, ›wie Luft‹ behandelt hätte.

Ich hoffte auf die Zukunft

Vom Geheimrat erhielt ich auch einen Brief, doch zu meiner Verwunderung nicht von ihm selbst, sondern von seinem Sohne Erich geschrieben. Er war auf dem Wege nach Karlsbad ernstlich erkrankt und wieder nach Helbingen zurückgekehrt. Mein nach Karlsbad abgesandter Brief war ebenfalls nach Helbingen gesandt worden.

Des Geheimrats Brief lautete:

»Liebe Maria!

Herzlichen Dank für Ihren Brief, der uns ein gewisses Heimweh unschwer erkennen läßt. – Außen haben die Kastanien ihre Lichter aufgesetzt und die ganze Natur schwelgt in sattem Glänze, abendliche Ruhe lagert sich mit ihren Schatten über der Anstalt, die bereits schlafen gegangen ist. Aus den Studierzimmern von ›Max und Moritz‹ leuchten die Studierlampen zu mir herüber, während meine altehrwürdige Lampe, die schon manche Nacht mit mir herangewacht, mir wieder in eine trübe Leidenszeit hineinleuchtet; es steht mir nämlich bevor, 6-12 geschlagene Wochen in horizontaler Lage zu verbringen.

Wenn ich Ihnen, liebe Maria, dieses sage, so werden Sie wissen, welches meine Gedanken sind. Es ist ein tiefer, unheimlicher Schacht, aus dem sie mit Mühe und leidvoll Stück für Stück an das Licht kommen. Daß ich Ihnen unter solchen Umständen und innern und äußern Erlebnissen keine heitere Epistel senden kann, werden Sie ebenso begreiflich finden, als wenn ich meinem lieben Sohne Erich, dem ich solches in die Feder diktiere, zum Schlusse dieser Zeilen einen tausendfachen Gruß auf den Weg gebe.

Seien Sie auch vom Schreiber dieser Zeilen, sowie von seiner Mama und Frl. Hannchen herzlichst gegrüßt.

Für meinen Vater
Erich Felser.«

* * *

Wenige Wochen später kam von Dr. Tondern ein Brief, in dem er mir mitteilte, daß unser verehrter, geliebter Geheimrat gestorben sei.

Ich weinte bitterlich, trostlos ... Zuerst konnte ich weiter nichts denken, als daß der Geheimrat nicht mehr sei, dann begriff ich dunkel, daß mit ihm die Hoffnung meines Lebens ins Grab gesunken war.

Es war ein langer, ausführlicher Brief, eine genaue Schilderung der Krankheit, die vielleicht zum Teil für meinen Onkel bestimmt war, der ja ebenfalls Mediziner ist.

Man hatte dem Geheimrat eine Amputation machen müssen, nach der er nicht mehr zur Besinnung gekommen war. Es waren dazu mehrere Professoren hinzugezogen worden, doch umsonst.

Während ich las, war es mir, als hörte ich die ganze Zeit hindurch das Helbinger Totenglöcklein läuten.

Man sandte mir nachher auch die Grabreden gedruckt unter Kreuzband. Ich ging damit in Onkels stillen Garten hinaus und feierte dort unter den Linden, ganz allein, mit Thränen seine Beerdigung.

Onkel schalt mich, daß ich so viel über eine unabänderliche Sache grübele. Mir aber war es, wenn man so sagen darf, als hätte ich seit des Geheimrats Tode kein Rückgrat mehr. Und eine unnennbare Sehnsucht nach Helbingen bemächtigte sich meiner Seele. – O Frische, o Waldesrauschen und duftige Höhen, ich muß sterben ohne euch!

Daß einige Zeit hindurch Dr. Tonderns Briefe nicht heiter waren, fiel mir nicht auf, endlich aber schien es mir unnatürlich, daß sich bei einem so heiter angelegten Charakter auch nach Monaten noch Stellen in seinen Briefen fanden, wie:

»Es ist als ob mit dem Tode des Herrn Geheimrats der böse Geist über mich gekommen wäre, ich kann nicht mehr lachen, wozu Sie mich ermahnen; meine Grundstimmung ist eben 5° unter miserabel und von meinem Studentenhumor sind nur klägliche Rudimente vorhanden. Die Zeiten wechseln eben, mal so, mal so, wie sich's trifft'; nur die Nachrichten, die ich von zu Hause erhalte, sind immer gleich trostlos.«

Ich fragte nach jenen ›trostlosen Nachrichten‹ bekam aber darauf keine Antwort; doch fand sich wieder folgende Stelle in einem Brief, die mir zu denken gab:

»Hier blüht im großen und ganzen der alte Stumpfsinn, in dessen Schatten der Versimpelungsproceß meines schon sehr reducierten Ichs langsam, aber stetig fortschreitet.«

Um Weihnachten, als ich mich schon ganz vollkommen in meine neue Thätigkeit hineingewöhnt, erhielt ich nach Petersburg einen kurzen, vollkommen melancholischen Brief, in dem er sich ›zerfahren und unzufrieden mit sich und mit seiner Stellung‹ nennt, dann zwar einen Aufschwung zum alten Humor nimmt, aber wieder in den trüben Ton zurückverfällt. Er zeigte mir an, daß er die Seinen über die Feiertage besuchen wolle und er erbat sich dahin Nachricht von mir.

Um ihn aufzuheitern, schickte ich ihm eine lustige Neujahrskarte, auf der sieben junge Mädchen abgebildet waren, die hintereinander quer über die Karte aufmarschiert kamen.

›Viel Glück zum neuen Jahr!‹ schrieb ich auf die Rückseite.

Die Antwort auf den Brief schob ich auf und sandte allen Helbinger Bekannten Gratulationen zum neuen Jahr. Dr. Mai, dem jetzigen Direktor der Anstalt, schrieb ich einen Brief, den ersten seit meiner Abreise, und sprach darin meinen Dank und meine Anhänglichkeit für Helbingen und meine Pfleger aus.

In den ersten Tagen des neuen Jahres, das in Rußland bekanntlich zwölf Tage später anfängt, als sonst in der Welt, beantworte ich Dr. Tonderns Weihnachtsbrief und setzte ihm ein wenig den lieben, blonden Kopf zurecht. Doch zwei Tage nach dem ich ihn abgesandt, als er sein Ziel noch nicht erreicht haben konnte, langte von dem Ronneburger Fräulein Karoline ein Brief für mich an.

»Liebes Fräulein Maria!

Es ist eine traurige Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe und es fällt mir wirklich schwer, sie zu berichten:

»Unser freundlicher Herr Dr. Tondern ist am vorigen Montag plötzlich gestorben – – –«

Weiter kam ich nicht, ich las noch einmal, zweimal – unmöglich. Ich eilte zu einer Kollegin, der ich mich einmal anvertraut und die mir so sehr abgeraten hatte, Dr. Tondern auf seinen letzten, kurzen Brief gleich zu antworten. Ich erzählte mechanisch – ich dachte, sie müsse mir auch jetzt widersprechen.

Sie sah mich kühl an:

»Nun werden Sie Ruhe haben, jetzt gehört er niemandem.«

Dann kamen die Thränen, ich lief in das unbeleuchtete Nebenzimmer, warf mich aufs Sopha und weinte zum Herzbrechen. Dann ging ich fort. Sie sprach ein paar teilnehmende Worte. Sie schnitten mich wie ein Messer.

»Gute Nacht!« sagte sie.

Ja, gute Nacht! – – O diese Nacht, dieser Morgen – –

Als ich mit meinen Schülerinnen durch die grauen, klosterartigen Korridore ging und am Ende desselben durch's Fenster die rote Wintersonne aufleuchten sah, fragte ich die Mädchen erstaunt, was das sei.

»Das ist die Sonne, Fräulein.«

Die Sonne! die Sonne! – wie durfte die Sonne noch aufgehen, wie durfte es Tag werden, wie durfte er sich abspinnen wie alle vorhergegangenen.

Karoline hatte nur wenig geschrieben: er war als Militärarzt der Reserve militärisch beerdigt worden, in Helbingen auf dem Kirchhof, den ich aus der Erinnerung kannte. Dort lag jetzt alles, was einst mein Glück, meine Hoffnung, meine Seligkeit gewesen war ... Und ich saß in meiner Klasse und hatte meine Zöglinge zu drillen – – O Leben! Leben!

Aber eins wußte ich klar: er war keines natürlichen Todes gestorben, das fühlte ich.

Am nächsten Tage schrieb ich an Dr. Mai und bat ihn, mir die Wahrheit mitzuteilen. Seine Antwort erfolgte sofort. Hier ist sie:

»Hochgeehrtes Fräulein!

Ihren Brief von Neujahr habe ich erhalten, ebenso Ihren letzten. Ich war eigentlich erstaunt, Zeilen von Ihnen zu empfangen, da ich, nach dem Briefwechsel mit Dr. Tondern, annehmen mußte, daß Sie nur für diesen Zeit hätten.

Ihre Annahme, daß Dr. T. keines natürlichen Todes gestorben, ist richtig. Was ihn dazu getrieben hat, weiß ich nicht und kann ich nicht wissen, da Dr. Tondern mir seit vorigem Sommer feindlich gegenüber stand. – Sie schreiben von melancholischen Briefen, die er Ihnen geschrieben; mir wäre es interessant, wenn Sie mir gelegentlich eine Abschrift zukommen ließen, da es mir so unmöglich ist, den Schlüssel zu dieser rätselhaften That zu finden.

Er war, nachdem er von seinem Weihnachtsbesuch zurückgekehrt war, zuerst ausgelassen lustig, fuhr Montag Abend nach X., wo er, allen Erzählungen nach, geradezu einen Streit provozierte, kam aufgeregt um 11 Uhr abends nach Hause, wo man ihn bei der Lampe bis in die Nacht hinein lesen sah. – Morgens tot im Bett – eine Kugel im Kopf. Ihre Briefe waren auf dem Boden zerrissen und halb verbrannt zu finden.

Zu seiner Beerdigung kam die Mutter, an die er einen halbvollendeten Brief, in dem er sie für seine That um Vergebung bittet, der aber sonst nichts erklärt, hinterlassen. Auch seine Brüder waren zum Begräbnis nach Helbingen gekommen. Nun ist er tot und begraben. – – Seiner äußeren und inneren Eigenschaften halber gehörte er zu den Menschen, die die Zuneigung ihrer Umgebung im Sturm zu erobern verstehen. Ich verliere an ihm einen tüchtigen begabten Arzt, der unter dem Herrn Geheimrat gebildet und für die Anstalt eingelernt war.

Daß Sie im Mai ohne Abschied abreisen konnten, hat mich freilich gekränkt, ebenso wie Ihr Besuch in der Herrenabteilung und je tiefer mich etwas packt, desto lebhafter und vielleicht auch ungezogener bin ich. Wenn Sie und Ihre Verhältnisse mich nicht interessiert hätten, hätte ich Ihnen damals nichts gesagt.

Gefällt Ihnen mein Brief nicht, so werfen Sie ihn ins Feuer und sagen Sie: das ist der alte Murrkopf von früher!

Was die Anstalt anbetrifft, so versuche ich sie mit allen meinen Kräften, so energisch wie möglich, im Geist und im Wollen meines unvergeßlichen, hochverehrten Lehrers und Freundes, des leider zu früh verstorbenen Geheimrats, zu leiten. Viel Arbeit – und nochmals viel Arbeit! Aber die Verehrung gegen meinen Chef läßt mich alles ertragen: Ärger, Verleumdung, Mißtrauen u s. w. Ihm, nur ihm zu Lieb', ihm zum Dank für alles, was ich unter ihm gelernt, durch ihn und mit ihm gedacht, bleibe ich auf diesem Posten – bis ich nicht mehr kann.

Daß es Ihnen gut geht, hat mich vom Herzen gefreut, zumal, da sich in Ihrem Neujahrsbrief ein lebensfrischer, freudiger, mutiger Zug fühlen läßt. Sie werden mit mir fühlen, wenn ich sage: Pflichterfüllung, Kopf oben, das ist auf der Welt, neben unserm Innenleben, das uns niemand rauben kann, doch die Hauptsache.

Leben Sie wohl. Grüße von allen Bekannten.

Ihr
Dr. Mai.«

In all den einsamen Stunden, die nun folgten, Tag und Nacht schwebte mir Dr. Tonderns liebe Gestalt vor Augen ... seine Augen, die lieben, dunkelblauen Augen, jetzt tot im Grabe, die schöne Gestalt im engen Sarge, unter der Erde! Noch nie hatte ich einen Toten so betrauert, es war, als wäre ich stets drunten bei ihm, während ich mir früher nur das Grab des Verstorbenen hatte vorstellen können. Ich sprach zu ihm, ich streichelte sein Haar, ich bat ihn, mir zu sagen, warum er das gethan, warum er sich ›dieser schönen Erde‹ nicht länger gefreut, wie er sich es doch noch im Frühling, vor wenig Monaten, so frisch und fröhlich vorgenommen hatte.

Es kamen Stunden, wo ich glaubte, das einzig richtige sei, ihm jetzt zu folgen. Wir konnten lebend nicht zusammen kommen, so sei es im Tode! dachte ich; aber der Gedanke an meinen Geheimrat richtete mich wieder auf, ihm zum Dank mußte ich leben.

Außer Dr. Mai schrieben mir noch andre Personen aus Hellingen. In einem dieser Briefe hieß es: ›Dr. Tondern, der früher so überaus fröhlich und liebenswürdig war, muß schon lange nicht mehr normal gewesen sein, denn seine Stimmung wechselte beständig, bald war er lustig, bald melancholisch und in sich gekehrt.‹

Anna Hinz schrieb: ›Wenn ich einen Brief von Ihnen bekommen hatte, so bat Herr Dr. Tondern immer, ihn denselben lesen zu lassen und behielt stets das Couvert davon. Nur eins rettete ich mit Mühe, das heißt eigentlich auch nur die russische Marke davon, die ich gern haben wollte. Mit dem Herrn Direktor ist er auch nicht mehr gut ausgekommen, man verstand es aber nicht, was sie oft miteinander hatten. Der Herr Dr. Tondern war aber nie mehr so lustig, wie im Frühling, wo wir noch zusammen ausfuhren. Wissen Sie's noch, Frl. Maria?‹

Auch an Klatschereien fehlte es natürlich nicht über diesen Fall, wie sich's auch nicht anders erwarten läßt.

* * *

Ein Jahr später starb auch Dr. Mai, der mir in größeren und kleineren Zwischenräumen noch bis kurz vor seinem Tode schrieb, mir auch in einem seiner letzten Briefe mitteilte, daß Herr Braun, acht Tage nach seiner Entlassung aus der Anstalt, durch einen Sturz ums Leben gekommen wäre. –

Dr. Mai war anfangs nur leicht an der Influenza erkrankt, dann war eine Lungenentzündung hinzugetreten, die ihm tötlich geworden.

So sind denn alle drei Ärzte gestorben, denen ich meine Gesundheit verdanke, und ich, die lange Zeit an keine Heilung glauben wollte, bin vollkommen genesen, bin wieder der frühere Mensch geworden. Nur ernster bin ich: Ich habe den Tribut der Jugend eingefordert, und das Herzeleid, das ich dabei erfahren, läßt mich damit zufrieden sein, daß diese Jugend nun vorüber ist.

* * *

Leben ist kämpfen – und in diesem Kampf mit sich selbst und mit der Welt ist es gut, sich dann und wann Dr. Mai's Ausspruch ins Gedächtnis zurückzurufen: ›Pflichterfüllung, Kopf oben, das ist auf der Welt, neben unserm Innenleben, das uns niemand rauben kann, doch stets die Hauptsache!‹


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