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XI.

Doch ist es keine dornenlose, –
An Dornen, ach, nur allzu reich!

Zur letzten Morgenvisite hielt sich Dr. Tondern ausschließlich an meiner Seite und überließ die andern Patientinnen seinen Kollegen.

»Sie haben mir noch immer Ihr Bild und ebenso Ihre Adresse nicht gegeben,« sagte er. »Wann bekomme ich beides?«

Ich schwieg und blickte zum Fenster hinaus, fühlte aber seinen fragenden Blick auf mir ruhen. Dann beugte er sich ebenfalls zum Fenster hin und fuhr mit seinem Hut über meinem Kopfe hin und her.

»Was thun Sie, Herr Doktor,« fragte ich.

»Ich möchte einen Schmetterling fangen.«

»Welchen denn? Ich sehe keinen.«

»Diesen lieben, blauen Schmetterling vor mir,« sagte er und sah mich freundlich an.

»O, der läßt sich nicht so leicht fangen! – Was würden Sie auch mit ihm thun, wenn es Ihnen gelänge? Sie würden ihn wahrscheinlich totdrücken,« sagte ich unbedacht.

»Ja, dazu hätte ich wohl große Lust!« rief der Doktor und machte eine Bewegung, als presse er jemand ans Herz.

Ich ärgerte mich, daß ich selbst an dieser Äußerung schuld war.

»Wenn Sie doch sanft wären!« begann er wieder.

»O, ich bin sanft wie eine Taube und ohne Falsch wie eine Schlange,« sagte ich in willkürlicher Verdrehung.

»Wollen Sie mir denn wirklich nicht sagen, wann ich Ihr Bild und Ihre Adresse bekomme?«

»Die brauchen Sie nicht.«

»Aber ich werde sie mir dennoch zu verschaffen wissen.«

»Durch wen?«

»Das ist meine Sache!«

Jetzt kam der Geheimrat zu mir herüber, und ich bat ihn, mir sein gegebenes Versprechen zu erfüllen und mich vor meiner Abreise noch auf seinem Gang durch alle Häuser mitzunehmen. Ich wollte gern alle Unglücklichen, mit denen ich so lange in nächster Nähe gelebt, noch sehen.

Der Geheimrat wollte schon einwilligen, aber Dr. Tondern war entschieden dagegen.

»Das ist kein Anblick für Sie! Das gestatte ich nicht!« rief er entschieden.

Er hatte schon mehrere Neuordnungen in der Anstalt eingeführt, nicht nur bei mir, sondern auch bei andern Patientinnen und man befolgte alle seine Verordnungen. Auch jetzt fand man, daß er recht habe. Ich war sehr enttäuscht, als die beiden ältern Ärzte sofort dem jungen beistimmten und ich nicht mitgenommen wurde.

Ein Zufall fügte jedoch, daß mein Wunsch dennoch zum Teil in Erfüllung ging.

Bevor ich mit Frau Brandt auf die Ronneburg fuhr, sollte ich noch in Helbingen ein Bad nehmen, und da ich diesmal nicht in dem großen Badesaal mit den 6 Wannen badete, in dem wir sonst stets gebadet wurden, sondern in einem einzelnen Zimmer, das sich im Hause der tobsüchtigen Frauen befand, so sah ich zufällig am Ende des Korridors durch ein Fenster auf den sogenannten ›Tobhof‹ hinab.

Anna wollte mich rasch fortführen; aber ich bat sie, mich gewähren zu lassen.

Wir machten das Fenster auf (es war im Hochparterre) und da erblickte ich denn jene bemitleidenswerten Gestalten mit den abrasierten Haaren und den langen, hemdartigen Gewändern aus blauer Leinwand.

O, Mensch, wer bist du, wenn du deiner Vernunft entkleidet bist!

Wie sie alle umhergingen! Einige ruhelos hin und her auf einer kleinen Strecke, wie abgemessen stets in gleicher Distanz, andre laut lachend und gestikulierend, noch andre saßen da und starrten vor sich hin.

Eine eilte rasch bis an unser Fenster.

»Guten Tag, Annele!« rief sie meiner Begleiterin zu. »Ah,« fuhr sie dann fort, »du bist auch da, du bist aus Rußland, wo es so kalt ist, dich kenne ich gut. Habe dich oft durchs Fenster gesehen, wenn du in dem schönen Wagen spazieren fuhrst. Sind alle Mädchen in Rußland so weiß und rot wie du?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Solch lange, dunkelblonde Haare, wie du, habe ich auch gehabt; aber man hat sie mir alle, alle abgeschnitten, sieh da!« und sie fuhr über ihren glattgeschorenen Kopf; »aber nicht hier, das war noch in S., da waren sie so böse mit mir; hier ist man gut, gelt?«

»Wie geht's denn jetzt, Bärbele?« fragte Anna.

»O, gut geht's diese Woche, bin immer brav; aber in der vergangenen, da hat's mich wieder gepackt!«

O du armes, armes Wesen! dachte ich, wie schrecklich, wie traurig! kann ich dir denn gar nicht helfen? Du bist doch ein Wesen wie ich. – O, warum läßt Gott das geschehen; warum, warum muß dies sein? Meine Augen füllten sich mit Thränen, und Anna zog mich rasch vom Fenster fort und schloß es.

Mir war zu Mute, als hätte ich meinen Bruder in die Löwengrube geworfen und schicke mich selbst an, auf den Ball zu gehen. Im Vorübergehen sah ich noch mehrere Zimmer mit gepolsterten Wänden, mit dem denkbar beschränktesten Ameublement, das sämtlich niet- und nagelfest am Boden befestigt war.

* * *

Bei uns im sogenannten ›Schloß‹ schien es mir jetzt wie ein Paradies; diese Ruhe, diese gemütliche Häuslichkeit. Überall Deckchen, Bilder, Vasen, Etageren – unser schönes, neues Pianino und die ganze komfortable Einrichtung. Mein Zimmer besonders, wie hübsch war es: schwarze, geschnitzte Möbel mit blauem Seidendamast bezogen, ein weicher Teppich, Vorhänge, Tische mit dunkelgrünen Marmorplatten und ein mächtiger Spiegel im Goldrahmen. Unser aller moderne Kleidung endlich, die Art, wie sich alle benahmen, wie sie ihr Haar trugen – wie stach das ab gegen jenes glattgeschorene Wesen im blauen Hemd!

Sollte man nicht alle Tage dem Himmel auf den Knien danken, daß man ein Mensch unter Menschen sein darf!

Mein lieber Doktor, verzeih! Du hattest recht, das war kein Anblick für mich; meine Seele bebte noch lange, nachdem ich dies gesehen.

Aber du? wie erträgst du dies alles, täglich, stündlich?

Wie viel unendliche Menschenliebe gehört zu diesem Beruf, wie viel Selbstentäußerung, welch ein starkes Herz! Ein ganzes Leben mit gleicher Liebe, gleicher Heiterkeit, gleichem Erbarmen diesen armen Geschöpfen begegnen, ihr Los erleichtern, nicht stumpf werden. O welch edler und schwerer Beruf! Vor meinem Geheimrat, der sein ganzes Leben diesen Armen gewidmet hatte, hätte ich in diesem Augenblick in die Knie sinken können.

* * *

Um sieben Uhr fuhr ich auf den Bahnhof.

Wer beschreibt meine Gefühle, als der Zug heranbrauste, als Frau Brandt und die Kinder ausstiegen!

Menschen aus einem andern, für mich beendeten Leben.

Ich wollte ihr voll Freude an den Hals fliegen; aber da war sie wieder: die Ruhe, die Gemessenheit, das mokante Lächeln auf dem hübschen, kühlen Gesicht, das mich oft bis ins Herz hinein erfroren.

Auch jetzt zog ein Frosthauch über meine Wiedersehensfreude. Vera machte eine tiefe Schulreverenz, Fritz reichte mir verlegen die Hand.

»Nun kommt, meine Lieben!« sagte ich, mich ermannend, »der Wagen wartet und ich entführ euch gleich zur Ronneburg, dort ist schon alles für uns vorbereitet.«

Wir stiegen ein.

»Sie reisen natürlich gleich mit Vera und mir nach K.,« begann Frau Brandt das Gespräch. »Fürs erste werden Sie wohl nur die durch Fräulein Sommers Heirat erledigte Stelle der zweiten deutschen Lehrerin für die untern Klassen bekommen können, denn man will natürlich sehen, wie Sie sind, und dann können Sie vielleicht auch wieder zu Ihren frühern Mittelklassen emporkommen.«

»Liebe Frau Brandt, ich danke Ihnen für alle Ihre Freundlichkeit, alle Ihre Sorge um mich; aber nach K. kehre ich nicht mehr zurück.«

Da war es gesagt, das große Wort, ich atmete erleichtert auf.

»Nicht mehr nach K.? ja, wohin denn? Ich will nicht hoffen, Marie, daß Sie noch immer Dummheiten begehen werden!«

Jetzt setzte ich ihr meine Pläne auseinander und trotz allen mokanten Lächelns und seufzenden, sehr fragenden Achselzuckens fuhr ich, mich zusammennehmend, freundlich fort: »Und nun, liebe Frau Brandt, seien Sie einige Tage froh und munter mit uns hier auf der Ronneburg. Sie werden sehen, wie gut und lieb hier alle Menschen sind. Morgen kommt auch unser Geheimrat zu uns und dann sollen wir beschließen, was wir für Ausfahrten mit Ihnen machen.«

Das interessierte auch sie und sie ließ fürs erste das Thema von der Rückkehr fallen. Aber gleich darauf sah sie besorgt ihren Fritz an und sagte: »Ach, mein Fritz kann das Rückwärtssitzen nicht vertragen!« und darin lag wieder die stille Voraussetzung, daß ich, wie stets in K., als ich noch als Pensionärin in ihrem Hause lebte, mich bescheiden zurückziehen und auf dem Rücksitz Platz nehmen, ihrem Prinzen aber den Sitz neben der Frau Mama abtreten würde.

Das that ich jetzt aber nicht.

»Fritz hat gut neben dem Kutscher Platz,« sagte ich.

»Munter, Junge! steige nach oben, wenn dir schlecht ist, helfe ich dir.« Und Fritz stieg gehorsam zum Kutscher hinauf.

Nie, nie, nie! rief es in mir, nie kehre ich bleibend in dein Haus zurück, liebe Frau Brandt, bei dir würde ich im ersten Halbjahr wieder tiefsinnig. Du weißt und ahnst es gewiß selbst nicht, daß du, so wie du nun einmal bist und trotz all deiner Zuneigung zu mir dennoch mein Herz und Gemüt stets mit Füßen trittst.

Jetzt sollte ich ohne meine vorzügliche Stellung, aufs Ungewisse hinaus, Wochen und Monate in deinem Hause leben – nun und nimmermehr!

In der Ronneburg leuchtete schon die Hängelampe von weitem aus den Fenstern des Speisezimmers, und vor dem Hause standen der Verwalter und Fräulein Karoline und begrüßten uns mit ihrer bekannten Herzlichkeit.

Der Verwalter nicht ohne seine stramme, stolze Haltung, mit einem anerkennenden und bewundernden Blick für Frau Brandt, der sie offenbar von vornherein angenehm berührte. Sie ist keine Kokette; aber welcher Frau schmeichelt es nicht, sich bewundert zu sehen?

Karoline und der Verwalter machten bei Tisch beide zuvorkommend die Honneurs und zogen sich nachher bescheiden zurück. Ich holte meine Geschenke hervor, die ich für Frau Brandt und die Kinder vorbereitet; doch machte meine Arbeit von Monaten, die ich noch als schwer Kranke angefangen, wie es stets auch in K. gewesen, sehr wenig Eindruck auf meine verwöhnte Frau Brandt.

Die Kinder dagegen freuten sich herzlich: »Noch gestern, als wir an einem Juwelierladen vorübergingen, bat ich Mama, mir ein Armband zu kaufen,« jubelte Vera, »und nun habe ich eins und noch dazu ein goldnes!«

»Und ich bat Mama die ganze Zeit, mir den kleinen goldnen Kompaß für die Uhr zu schenken, den sie hat; aber sie gab ihn mir nicht, und jetzt habe ich doch einen!« rief Fritz.

»Da hast du ihn!« rief Frau Brandt und schenkte ihm jetzt den zweiten auch noch.

Daran erkannte ich wieder meine K.er Frau Brandt. So etwas ist dem Menschen angeboren und geht mit ihm zu Grabe.

Nachdem die Kinder zu Bett gegangen, fing Frau Brandt wieder von der »Rückkehr« nach K. an. Ich blieb aber fest, und nun begann sie eine Abrechnung mit mir über mein bei ihr stehendes Geld, übergab mir auch die von der Schulverwaltung mir als Belohnung für siebenjährigen Staatsdienst ausgesetzte Summe, die sehr reichlich ausgefallen war, und einen Brief von meinem Gymnasialdirektor.

Er sprach mir darin seine Anerkennung aus und freute sich, daß ich meine Kräfte nun wieder zum Nutzen der lernenden Jugend werde verwerten können. Auch er riet mir, nach K. zurückzukehren.

»Bin ich Ihnen vielleicht während der letzten Zeit in K. etwas schuldig, geblieben?« fragte ich dann nach alter, präziser Weise.

»Nein, Sie sind uns nichts schuldig; wir haben Ihnen von der Monatsgage, ehe wir sie Ihnen nach Deutschland übersandten, die Kleinigkeit, die Sie uns schuldeten, abgezogen.«

»Dann also jetzt das Geld beiseite! Nun erzählen Sie mir aus K., was machen R.s, unsre gemeinschaftliche Freundin Lilly, Fräulein S. und alle, alle?«

Und wir sprachen bis Mitternacht; auch ich erzählte ihr viel, ach, viel zu viel! –

Am andern Morgen, nach dem Kaffee, gingen wir in den Garten und pflückten uns weiße und blaue Veilchen, die hier in Menge blühten, dann machten wir, wie es auf der Ronneburg stets mit neuangekommenen Personen geschah, eine Wanderung durch die Wirtschaft, und stolz auf die musterhafte Ordnung, präsentierte uns der Verwalter, ohne viel Worte zu machen, alle Kinder seiner Pflege und Sorge, führte uns durch die Futterräume, zu dem Jungvieh, den muntern Kälbern und sogar zu den krabbelnden, reingehaltenen, zartrosa schimmernden Schweinchen.

Vera und Fritz jubelten laut vor Vergnügen.

Frau Brandt lächelte majestätisch, wie Germania, dem Verwalter von ihrer Höhe herab zu, und ich sah wieder manchen bewundernden und manchen geschmeichelten Blick, welch letzterer zu sagen schien: warum nicht auch einmal ein Wiesel um seine Füße spielen lassen?

Mir fiel dies besonders auf, da ich an Frau Brandt all die sieben Jahre unsrer Bekanntschaft hindurch nie derartiges bemerkt. Von allen verehrt zu werden, begehrte sie wohl, eine andre neben sich höher gestellt zu sehen, liebte sie nicht und hielt es in ihrer Eigenliebe auch für undenkbar; aber daß sie auch selbst die Farbe wechseln und halb hoheitsvoll, halb unsicher dreinblicken und so echt frauenhaft hold lächeln konnte, das wußte ich nicht. – So muß sie als Braut gewesen sein, als sich der gute, gemütvolle Herr Brandt die damals noch arme Gouvernante zur Frau erwählte.

Beide, der Verwalter wie auch Frau Brandt, waren, wie sie so nebeneinander herschritten, schöne, markige Gestalten: er tief brünett mit lockigem Haar und dunklen Augen, sie dunkelblond und blauäugig.

Aber konnte man ihn auch nur im entferntesten mit Herrn Brandt vergleichen, was Geist und Gemüt betraf? – Wenn solch hohe, edle Eigenschaften auch in einer unbedeutenden Hülle wohnen, so leuchten sie doch aus jedem Blick des Auges, jeder Handlungsweise hervor und stellen den damit Begabten über Millionen von krausköpfigen Verwaltern.

Das fühlte auch Frau Brandt, denn sie sprach so herzlich wie noch nie von ihrem Alten, der ihr hierher zu ihrem fünfzehnten Hochzeitstage, den sie getrennt verleben mußten, geschrieben hatte. Sie war ganz gerührt von dem lieben Brief und schenkte mir ihr eignes, ihres Mannes und der Kinder Bilder. Holte auch mein Album aus dem Koffer, welches sie mir auf meine Bitte mitgebracht hatte, da ich gern dem Geheimrat all die Personen, von denen ich ihm so viel erzählt, im Bilde zeigen wollte.

Wäre dieses Album doch lieber in K. geblieben! Nach dem Gang durch die Wirtschaft bestiegen wir den dicht bei der Ronneburg liegenden Berg, »die Kappe«, und schauten weit ins liebe Württemberger Land hinaus.

Fritz kletterte wie ein Eichkätzchen auf einen Baum und dann auf die Ruine und schaute aus, ob des Geheimrats Wagen nicht bald kommen wollte, und endlich nahte der große Landauer mit meinem lieben Geheimrat und mehreren Patientinnen.

Wir gingen jetzt ins Gutsgebäude zurück, um sie zu empfangen, und mich überkam so ein schönes, heimatliches Gefühl; jetzt bist du geborgen, dachte ich.

Ich stellte die angekommene und schon anwesende Gesellschaft einander vor, und wir setzten uns zu Tisch.

Nach dem Mittagessen, währenddem der Geheimrat viel mit Frau Brandt gesprochen, kam er ganz animiert zu mir und sagte: »Aber, Maria, die ist noch schöner als Sie!«

»O, Sie Böser,« sagte ich, »jetzt werden Sie mir noch untreu! Ist denn alles im Leben nur verhältnismäßig und nichts echt?«

»Nein, Maria – Sie sind und bleiben doch immer meine Maria, die zur Hälfte mein Eigentum ist,« tröstete der Geheimrat. Und nach ihrem zweiten Beisammensein sagte er zu mir: »Nein, die ist mir zu kalt ... da sind viel Knochen, viel Fleisch, aber wenig Blut und keine Seele.«

Den ersten Tag fuhren wir mit Frau Brandt, dem Verwalter und den Kindern nach G. Während der ganzen Fahrt verwandte der Verwalter kein Auge von Frau Brandt.

Wir waren alle in vortrefflichster Stimmung, und sogar Frau Brandt bekam ihre ›fröhliche Stunde‹ die sie hin und wieder, neben aller Gemessenheit, doch als freundlichen Nest aus der Kindheit sich bewahrt hat; doch es kommt vor, daß man sich dann zu hüten hat, sie schont oft niemand, sie liebt es dann, sich auf Kosten andrer lustig zu machen, irgend eine Person zum Narren der Gesellschaft zu stempeln und von ihr nicht mehr abzulassen.

Diesmal jedoch hatten wir nur die warme, sonnige Seite ihrer Fröhlichkeit vor Augen.

Es war schon spät, als wir nach Hause kamen, und für den folgenden Tag hatte der Geheimrat eine Fahrt in zwei Equipagen nach Schloß L., das mir so sehr gefallen, angeordnet. Diesmal sollte auch das Schloß selbst von innen besichtigt und eine durch die Volkssage bekannte Höhle besucht werden.

Unterwegs sollte sich uns der Helbinger Wagen anschließen und einer der Doktoren zu uns hineinsteigen, der diesmal, statt des Verwalters, unser Begleiter sein sollte.

Wir freuten uns alle, doch war meine Freude jedenfalls die größte; denn daß der Geheimrat Dr. Tondern für unsern Wagen bestimmen würde, dessen war ich sicher.

Zwei Tage hatte ich ihn nicht gesehen – wie freute ich mich auf sein liebes Gesicht!

Und er stieg richtig zu uns in den Wagen, Dr. Mai fuhr im andern mit mehreren Patienten und Patientinnen.

Ich stellte wieder vor und Dr. Tondern reichte mir einen unterdessen für mich eingelaufenen Brief; doch liebe T. verzeih! alle deine freundlichen Aufforderungen nach Livland, in dein gemütliches Hohenberg, deine Nachrichten aus der Heimat u. s. w. – sie waren in diesem Moment nichts als leere Begriffe – – ich hatte andres zu lesen, denn in den Zügen des geliebten Mannes stand viel für mich geschrieben – da stand, daß auch er sich die zwei Tage hindurch nach mir gesehnt, daß in diesem Augenblick nichts andres für ihn auf der Welt war als ich, wie für mich nichts andres existierte als er. O du lieber, herrlicher, kraftvoller Mann, warum darf ich dir nicht angehören? dachte ich bei mir. Da streifte ich Frau Brandts Gesicht und sah wieder das mir so bekannte mokante Lächeln. – Ich hätte ihr dafür etwas anthun mögen.

Ja, daß ich – – Marie Prätorius, das Gänseblümchen, auch einmal beachtet wurde, das schien ihr unglaublich und lächerlich; besonders da sie mit im Wagen und neben mir saß. Sie behandelte den Doktor mit eisiger Kälte, ja ließ sogar einen frischen Waldblumenstrauß, den er ihr nachher pflückte, unbeachtet auf dem Tisch liegen und nickte kaum einen Dank beim Empfang.

Im Forsthause war telephonisch ein Mittagessen bestellt worden, bei dem Frau Brandt präsidierte.

Alle Achtung! sie machte es vornehm und gut; jeder mußte fühlen, daß sie es verstand und in ihrem Elemente war. Mich erfaßte sogar eine Art Stolz auf sie und, hierdurch für sie erwärmt, that ich alles, um Dr. Tondern und Frau Brandt einander näher zu bringen und ihr zu beweisen, ein wie liebenswürdiger, geistreicher junger Mann er war. Und es gelang mir; sie hörte unwillkürlich aufmerksamer auf meine Worte hin.

Leider war er aber weniger aufgelegt als sonst, ihn durchdrang wohl die Freude und Unruhe ebenso wie mich und dann kann man nicht allzuviel sprechen. Nur hier und da streute er ein Wort oder einen Witz in die Rede der andern hinein.

Nach dem Essen betrachteten wir das Schloß, und in einer Anwandlung von Übermut machte Dr. Tondern Frau Brandt wenigstens zehnmal auf den von hier und weithin in Württemberg sichtbaren Almberg aufmerksam:

»Gnädige Frau, gestatten Sie mir, Sie auf den Gipfel des Almbergs aufmerksam zu machen!«

»Wo?«

»Bitte, dort!«

Auf dem nächsten Balkon wieder: »Haben Sie schon, gnädige Frau, die schönen Linien des Almberges bewundert?«

Sogar im Vorgarten und später vom Wagen aus bat er sie, meist wenn ihr der Almberg im Rücken lag, diesen ›geschichtlich berühmten Berg‹ zu betrachten.

Er that es aber so liebenswürdig, so munter, und bat auch mich und Vera dazwischen, den Almberg zu bewundern, daß Frau Brandt herzlich darüber lachte und nicht zu ahnen schien, daß er sich wahrscheinlich für seine von ihr fortgeworfenen Blumen rächte.

»Ihre schöne Freundin verwirft hin und wieder ein Auge,« sagte er, als wir bei der Höhle angekommen waren.

Ich war empört. Meine schöne Frau Brandt sollte ...

»Das ist aber nicht hübsch von Ihnen, Herr Doktor.«

»Nein, das ist nicht hübsch von Germania,« erwiderte er.

Ich ließ ihn stehen und wandte mich an Herrn Braun, der mir, als die Fackeln angezündet waren, galant den Arm bot, um mich beim Gang in die Höhle auf dem schlüpfrigen Wege zu stützen.

Es war unten schauerlich und weder die Kienfackeln, noch eine mitgebrachte Magnesiumfackel vermochten genügende Helligkeit zu verbreiten. Wahrlich, der Fürst, der hier der Sage nach lange gehaust, war nicht zu beneiden gewesen.

Endlich ging es wieder ans Licht, ans Licht, in den hellen Sonnenschein hinauf.

Nun mußte der beschwerliche, steile Weg nach oben zu den Fahrzeugen zurückgelegt werden, und diesmal war Dr. Mai mein galanter Ritter, der mich führte.

Ich lachte still für mich: nun wird wohl Dr. Tondern Germania den Arm reichen müssen.

Heftig atmend standen wir mit Dr. Mai oben und blickten auf die nachfolgenden Paare hinab. Da sahen wir die alte Frau Ring an Dr. Tonderns Arm, dann die übrigen Glieder der Gesellschaft und endlich, ganz zuletzt Frau Brandt an ihres kleinen Fritz Arm.

Ich fühlte, daß ich rot wurde und war gekränkt für sie. Unsre, in der Heimat eine so große Rolle spielende Frau Brandt, vernachlässigt! Beinah zürnte ich Dr. Tondern; freute mich aber über Fritz und wünschte, daß er einen Fuß größer sein möchte.

Als Germania jedoch oben war und ich mit einem freundlichen Wort an sie herantreten wollte, da sah ich statt Germania – die Spitze des Mont-Blanc.

Dadurch war ich jetzt böse genug, über Dr. Tonderns letzte Bemerkung Genugthuung zu empfinden.

So ist der Mensch – – – oder vielmehr – so bin ich.

Wir gingen weiter mit Vera voran und sprachen russisch; mir war es angenehm nach so langer Zeit mich einmal dieser Sprache bedienen zu können, von der ich weder einen Laut in Deutschland gehört, noch eine gedruckte Zeile gesehen hatte.

»Deutsch, deutsch! meine Damen!« rief Dr. Tonderns Stimme plötzlich hinter uns.

Vera schien sehr erfreut, daß man ihre 12-jährige Würde so anerkannte und sie unter der Bezeichnung ›Damen‹ mitbegriff und drehte das Köpfchen wie eine kleine Taube.

»Haben Sie auch Respekt vor Ihrer Tante?« fragte Dr. Tondern.

»Nein, gar nicht!« rief Vera.

»Aber Vera!«

»Ach, Tante Marie, hier bist du ganz anders, als du in K. warst, hier lachst du so viel, jetzt habe ich keine Angst mehr vor dir, wie in der Klasse; aber da haben wir auch einmal ein bißchen Dummheiten mit dir gemacht.«

»Was? ihr bösen Kinder, ihr!«

»Ja, ja Tantchen: eine Schülerin hatte ein großes, rotes Radieschen mit in die Schule genommen und das legten wir vor das Katheder. Du konntest es natürlich von oben nicht sehen; aber wir lachten die ganze Stunde darüber.«

»Wo war denn eure Klassendame in der Zeit?«

»Die war hinausgegangen, um zu frühstücken, und wir waren mit dir allein geblieben.«

Einen Augenblick fühlte ich mich tief gekränkt, denn ich erinnerte mich all der Zeichen von Verehrung, die ich von meinen Schülerinnen erhalten, der schönen Rosen, die sie mir gebracht und die ich mir, der Schulverordnung wegen, hatte verbitten müssen. Auch ein Verschen aus einem längern Gedicht, das mir Marie Orbanoff zum Schulschluß überreicht, fuhr blitzartig durch den Sinn:

»Deinem schönen Beispiel nachzustreben
Soll mir Lust und Freude sein – –«

Aber das war nur ein Moment, dann mußte ich herzlich lachen.

»So, das habt ihr gethan? Jetzt soll aber die Verräterin büßen, gleich machst du mir unter freiem Himmel die allertiefste Schulreverence!«

Und Vera machte sie, nach kurzem Geziere, tief und ergeben, wie einst im Gymnasium.

»Bravo!« rief Dr. Tondern.

Dann stiegen wir in die Wagen und fuhren noch eine kurze Strecke miteinander, bis es Zeit war, nach der Ronneburg abzubiegen.

Adieu! adieu – Sonntag auf Wiedersehen! – Sonntag zu Irmas Fest in Helbingen!

»Tante Marie, du bist verliebt!« sagte Vera weise, auf dem Rückwege.

»Ach geh, du Närrchen! was verstehst du denn davon?«

»Schweig!« herrschte die Mama sie an, als sie noch einmal die Lippen öffnen wollte, und machte auch mir ein unfreundliches Gesicht.

* * *

Auf der Ronneburg wurden wir mit dem Abendessen erwartet, das wir, durch die Ermüdung des ganzen bewegten Tages, wenig gesprächig einnahmen.

Ich sah Frau Brandt mehrmals aufmerksam an, um zu erforschen, ob das, was ich früher nie an ihr bemerkt, wahr wäre.

»Was haben Sie, Marie?« fragte sie.

»Nichts, Frau Brandt, ich wollte nur ... es schien mir ... Doktor Tondern behauptet ...«

»Nun?«

»Ach, es ist ein Unsinn, Sie verwerfen ja gar kein Auge!«

»So – das hat dieser Doktor gesagt? – Es ist übrigens wahr, ich verwerfe wohl ein Auge; aber so selten, daß ich mich deshalb auch nie habe operieren lassen.«

Als die Kinder zur Ruhe gegangen waren, nahm mich Frau Brandt vor: »Sagen Sie mir, Marie, was denken Sie sich eigentlich bei den Courmachereien dieses Doktors?«

»Ich denke, daß er ein sehr netter Mann ist, und daß die Frau, die ihn bekommt, glücklich sein kann.«

»Hat er Vermögen?«

»So viel ich weiß, nicht.«

»Nun, so dürfte das Glück seiner künftigen Frau doch etwas fraglich sein, besonders wenn diese Frau selbst keins besitzt. Hier in Deutschland braucht man Frauen, die kochen, waschen und scheuern können.«

»Und glauben Sie, daß man nicht ihm zu Liebe, das alles gern übernehmen würde?«

»Sie könnten das jedenfalls nicht übernehmen, Sie sind in unserm Hause, unter russischen Verhältnissen, jedenfalls schon allzusehr verwöhnt.«

Ja, dachte ich, verwöhnt mit Unterdrückung meiner Individualität, mit steter Zurücksetzung.

Laut sagte ich: »Der Geheimrat will mir sowohl als ihm helfen, wenn es zu einer Heirat kommt. Er ist ein sehr tüchtiger Arzt. Der Geheimrat will ihn an seine Anstalt fesseln. Das einzige, was mir Bedenken einflößt, ist, daß er jünger ist als ich.

»Will der Geheimrat auch Sie an seine Anstalt fesseln?« fragte Frau Brandt höhnisch.

»Fragen Sie ihn selbst!« erwiderte ich aufgebracht.

»Das werde ich thun.«

Doch zum Äußersten kam es noch nicht. Es folgten nur Ermahnungen, vernünftig zu sein und nach K. zurückzukehren, die ich immer bestimmter zurückwies.


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