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II.

Nun, armes Herz, vergiß die Qual,
Nun muß sich alles, alles wenden!

Uhland

Es kam vor, daß ich mich vor den Spiegel stellte und lange, lange betrachtete: Das bist du, sagte ich mir, das war einst Marie Prätorius – Mütterleins »Sonnenstrahl«, so lange sie lebte – ihr Nesthäkchen und nachher die ernste Lehrerin in K. – – jetzt aber ein Nichts! – –

Wie bin ich eigentlich hierher gekommen? suchte ich weiter zu denken, und die Hauptmomente meines vergangenen Lebens stiegen in halbverwischten Umrissen in mir auf:

Seit dem achtzehnten Jahre schon als Gouvernante selbsterwerbend, hatte ich, zwanzig Jahre alt, den Posten einer Lehrerin der deutschen Sprache am Mädchen-Gymnasium der südrussischen Stadt K. erhalten. Hatte in K. bei einer befreundeten, wohlhabenden Ingenieurfamilie, Namens Brandt, gelebt.

Sieben Jahre waren so dahingegangen, meine schönsten Jugendjahre; ich hatte nichts gekannt als Pflicht und Arbeit – und dann war es plötzlich über mich gekommen ...

Nicht, daß es ein besonderes Ereignis gewesen wäre, nein, es war eben nicht etwas – es war alles allzumal, das mich krank gemacht. – Kann man denn ungestraft mit zwanzig Jahren sein, wie man leicht mit fünfzig sein könnte?

Trotz meiner ausgezeichneten, vielfach beneideten Stellung ertrug ich es nicht länger. – Vier Monate schleppte ich mich noch so dahin und wollte es mit Macht überwinden, dann drangen die Ärzte auf schleunige Entfernung aus meiner Umgebung.

Herr Brandt, ein guter Süddeutscher, riet mir, meine Gesundheit in seinen Heimatbergen, im Schwabenlande, zu suchen. So war ich zuerst zum Architekten Stoidel und seiner Frau in das Städtchen Brunau gekommen, die mich aus Freundschaft für Brandts bei sich empfingen und mich im Sanatorium des Doktors Berg unterbrachten. Doch wurde hier mein Zustand so schlecht, daß man mich fünf Wochen später in die Heil- und Pflegeanstalt Helbingen bringen mußte, wo ich Tag und Nacht bewacht wurde. Hätte mir auch sonst sicher was angethan.

Auch hier war es anfangs recht schlimm gegangen, ich konnte Phantasie und Wirklichkeit nicht unterscheiden.

Ruhiger wurde ich erst, als ich nach einem halben Jahre erfuhr, daß ich – auf meine Bitte – als aus dem Staatsdienst ausgetreten betrachtet würde, daß ich keine Pflichten mehr versäumte.

Diese Erinnerungen tauchten undeutlich und sporadenhaft auf; aber Versuche, mich über meine Kasse zu orientieren, mißglückten vollkommen; ich wußte zwar, daß ich nicht ohne Mittel war, aber wie weit sie reichen würden, war mir ein Rätsel.

Ernstlich arbeiten kannst du nicht mehr, höchstens solche Spielereien ausführen, wie man sie dir hier aufträgt, dachte ich weiter, mit dem Unterrichten ist es zu Ende. – – Aber das Kopfhängen hat ja das ganze lange Jahr hindurch nichts geholfen, was soll also das stete Trauerweidengesicht?

Nein, lachen will ich, lustig sein, noch einmal, ehe ich zu Grunde gehe! Bin ja eigentlich seit dem achtzehnten Jahr nicht mehr jung gewesen; so lange ich noch hier bei diesen guten Menschen bin, will ich jung sein!

Zu meinem eignen Erstaunen entwickelte sich jedoch bei mir eine echte, rechte, keine gezwungene Fröhlichkeit. Vielleicht war sie stark übertrieben; aber wo bleibt das Maßhalten nach solch einer Krankheit, es ist eben alles aus den Fugen. Ich suchte mein aus Rußland mitgenommenes Turnkostüm hervor und sprang in kurzem Matrosenkleidchen in den langen Korridoren umher. Ich faßte bald Hannchen, bald Anna Hinz, meine spezielle Pflegerin, um die Taille und walzte mit ihnen durchs Gesellschaftszimmer. Wenn sie schelten wollten, küßte ich sie, daß sie nicht zu Atem kamen und so manches Mal schüttelte Annelein den Kopf und meinte: »Aber dees isch e Mädle!«

Kamen die Ärzte, so schnitt ich ihnen Orden aus Papier aus und steckte sie ihnen an, oder versteckte rasch ihre Hüte, daß sie sie beim Fortgehen suchen mußten. Wenn ich an meine früheren krankhaften Ideen zurückdachte: daß ich in ein Ungeheuer verwandelt sei; daß ich bald schwarz werden würde; daß ich die schlechteste Person auf der Erde sei, so mußte ich lachen, daß mir die Thränen über die Wangen liefen.

Wurde ich dann wieder ernst und fing still an zu denken, so führte mich Fräulein Hannchen, die Oberwärterin, stets zu Dr. Mai in die Wohnung und ließ mich bei ihm mehrere Stunden, bis sie ihre Rundgänge durch alle Häuser und Abteilungen zur Rapporterstattung an den Geheimrat vollendet hatte.

Wir fanden ihn stets im dicksten Tabaksqualm, die Pfeife im Munde und in einem gestrickten Hausrock, über den ich nicht enden wollte zu lachen. Ich sprang um den Doktor herum und betrachtete ihn von allen Seiten. – Ich wußte, wie ein verwöhntes Kind, daß ich mir hier etwas erlauben durfte und nutzte das aus: bald warf ich alle seine verschiedenen »Schlummerrollen« und »Wonneklöße« durcheinander, die ihm wahrscheinlich einst dankbare Patientinnen gestickt, bald durchstöberte ich alle seine Zimmer, kletterte, meiner Kurzsichtigkeit wegen, ungeniert auf die Stühle, um die Bilder besser anzusehen, oder wiegte mich im Schaukelstuhl auf und ab.

Er brachte mir alle seine Albums und erzählte mir manches aus seinem Leben. – – Ich blätterte dabei immer weiter und fand dort eine ganze Galerie schöner Frauenköpfe. Als ich dazwischen fragte, wer sie seien, stellte sich heraus, daß er in die meisten verliebt gewesen war. – Er erzählte immerfort, und ich blätterte immerfort. Endlich hatte er sich in einen völlig blasierten Ton hineingeredet. Ich klappte das Buch zu und sagte: »So, und jetzt sind Sie also glücklich ein ausgebrannter Krater geworden.«

»Wie, ein ausgebrannter Krater? – Nein, Fräulein Marie, sagen Sie das nicht, ich kann noch sehr tief und innig empfinden, das können Sie mir glauben. Ich bin freilich nicht mehr sehr jung, bin achtunddreißig Jahre alt; aber mit achtunddreißig Jahren ist man doch noch kein Greis.«

Ich erwiderte nichts, da ich schon wieder an andre Dinge dachte.

»Ist es wahr,« fragte ich, »daß uns Dr. Kreutzer bald verlassen wird?«

»Ja, er geht in seine Heimat Luxemburg zurück und nach einigen Wochen soll für die Frauenabteilung ein neuer Hilfsarzt kommen. Interessiert Sie das so sehr?«

»Wie sollte es nicht, er wird ja auch mein Arzt sein.« –

»Möchten Sie nicht,« begann nach einer Pause der Doktor, »möchten Sie nicht bei der Frau Geheimrat Felser Gesellschaftsdame werden?«

Darüber lachte ich ausgelassen. »Ja,« meinte ich, »wenn's dann wieder rappelt, so schicken Sie mich einfach eine Etage höher.«

In dieser Zeit war es, als der Geheimrat mich bat, ihm einen Bericht über meine Krankheit, alle meine Gedanken, Erscheinungen und Gefühle zu schreiben, die ich in den vergangenen Monaten erlebt hatten.

Ich machte mich sogleich daran – aber wie sollte man alles aufschreiben können, was man bei einer Gemütskrankheit empfindet! Ich schrieb vierzig große Seiten voll, ich beschrieb getreulich den Beginn und Fortschritt meiner Schlaflosigkeit, meine Trauer, meine Hallucinationen, die ich jetzt als Täuschung erkannt; aber die eigentlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe eines kranken Gehirns zu beschreiben, ist gar nicht möglich – einfach, weil es dafür keine irdischen Worte gibt, man empfindet Übermenschliches, Übernatürliches, Dinge, die man durch kein Wort bezeichnen kann. Man erschrickt vor sich selbst, man sucht in allen Büchern und Zeitungen, ob nicht irgendwo darauf hingewiesen ist, daß solch ein wunderbarer Mensch erscheinen werde, und man findet in allem einen Hinweis auf sich. – Alles, die ganze Welt, dreht sich um das eigne Ich, man ist die Ursache zu allem. Man liest die Bestätigung seiner Phantasien in aller Blicke, man hört es schließlich leise und laut rufen, man sieht Erscheinungen, die es einem verkünden – und damit verliert man den Zusammenhang mit der gesunden Menschheit. Ich gäbe was darum, wenn ich noch einen jener übernatürlichen Begriffe zurückdenken könnte, noch einen der Gedanken, die mich scharenweise bestürmten, zurückrufen könnte – es geht aber nicht. Es ist auch gewiß besser so.

Das nur weiß ich noch, daß mir diese Welt mit Kaisern, Königen und Ministern, mit all den tausend Dingen, die die menschliche Intelligenz erfunden, mit all dem Schönen, das die Natur bietet, wie ein verschwindend kleiner Punkt erschien, nicht wert, beachtet zu werden, während das »Andre« riesenhaft groß und unendlich wichtig war. Ich begriff nicht, daß ich gelebt, ohne dies zu kennen, es war, als ob ich mich im Weltall verlor. – Und war doch alles nichts als ein dummer Spuk und ging vorüber wie Masern, Scharlach und Typhus vorübergehen. –

Ich war mit meinem Bericht fast zu Ende, als ein Tag kam – ein Tag, den ich nie vergessen werde, es war der 15. Februar 1891 – als ich fühlte, ich wurde wieder gesund!

Erst sagte ich es zaghaft zu den Doktoren, dann sicher und immer sicherer: »Nun bin ich nicht mehr tot, wie ich Ihnen bisher so oft gesagt, der Wille ist aufgewacht, nun kommt auch bald das Können und mit ihm das Leben!«

Ich schrieb an alle Verwandten, forderte die eingelaufenen Briefe und brachte meine Toilette in Ordnung. Bisher hatte ich wohl gern für andre gearbeitet, aber nie etwas für mich selbst.

Dann bat ich um freien Ausgang und erhielt ihn; doch damit ich auch weiter in die Berge gehen könne, gab mir der Geheimrat zwei Patienten mit, die ich beaufsichtigen und die mich beschützen sollten. Er nannte das selbst ein »Experiment«. Doch es gelang gut; Herr Braun, ein ehemaliger Offizier, der daheim eine nette, junge Frau hatte, und Herr Kostel gewöhnten sich bald an mich, ja, wir waren schließlich recht befreundet, und die freien Spaziergänge, ohne Pfleger, wirkten gut auf sie. Als das Vierteljahr, für das von Rußland aus meine Pension bezahlt war, zu Ende ging, schrieb Frau Brandt, daß sie nach acht Wochen zur Konfirmation ihres Fritz, der in Württemberg erzogen wurde, nach Deutschland kommen werde.

»Und die acht Wochen ist Maria noch mein Gast!« entschied der Geheimrat.

Diese acht Wochen waren die Blütezeit, die »Sabbatwochen« meines Lebens.


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