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I.

Heil'ge Nacht, mit tausend Kerzen
Steigst du feierlich herauf,
O, so geh in meinem Herzen
Stern des Lebens, geh nur auf!

R. Prutz.

Es war Weihnachtsabend, und die Kerzen brannten an den drei Bäumen im riesigen Festsaal der Heil- und Pflegeanstalt Helbingen, wo ich mich schon seit etwa acht Monaten aufhalten mußte, als unklar und nebelhaft die Erinnerung an die Vergangenheit, an mein früheres Leben erwachte.

War es nur möglich: ich sah den Christbaum in Deutschland brennen, so weit von der russischen Stadt K. und dem Schwarzen Meer, wo ich sieben Jahre am Mädchengymnasium deutsche Lehrerin gewesen war, und so weit auch von meiner Heimat Livland!

Nach Deutschland, wohin ich mich oft gesehnt, ohne es zu kennen, war ich also doch gekommen; aber unter welch traurigen Umständen ... Allerdings, ich war ja noch allein hergereist; aber was war nachher gekommen und was würde noch kommen!

Nein, wie früher konnte ich nie mehr werden ... nie. Mein Ich hatte sich in zwei Hälften geteilt, von dem der eine Teil mein Dämon war, der mich quälte.

Ist es nur möglich, daß es überhaupt noch ein Weihnachtsfest geben kann? dachte ich weiter. Würde es am Ende gar Frühling werden? – Nein, vorher kam gewiß der Tod und erlöste mich ... und wenn er nicht von selbst kam, so müßte ich ihn suchen; aber wo war er? ... Vielleicht im Walde, im Schnee ...

Aber was würde dazu der gute Geheimrat Felser sagen und Dr. Mai und Dr. Kreutzer, die sich mit dir so unendlich viel Mühe gegeben haben, die dich durchaus wieder geheilt in die Heimat zurücksenden möchten? dachte ich dann wieder. Heimat! hatte ich denn eine?

Nein, aber hier begraben zu sein, wo alle Menschen so gut sind, das wäre eine Heimat.

Ich weinte bitterlich; aber als die Ärzte auf mich zukamen, trocknete ich rasch meine Thränen; wozu sollten sie sehen, daß ich wieder weinte.

Ich schwieg auch beharrlich, wie sonst, als sie mir freundlich zuredeten und mir einige Geschenke überreichten.

»Sie werden nun gewiß recht bald gesund, Fräulein Prätorius,« sagte Dr. Kreutzer und »Nun Mädle munter! du sackermentscher Dickkopf du,« sagte der Geheimrat, »bist und bleibst doch ein eigensinniger Russenkopf! Aber nun ist's aus mit dem Stilldasitzen und Sinnieren, jetzt kommt Gesellschaft ins Haus und ganz besonders in eure Abteilung: der Frau Herrmann junge Töchter kommen aus Stuttgart, und alle meine vier Söhne kommen zu den Ferien. Da! – den Mediziner Rudolf kannst du schon bewundern, Maria!«

Ich hätte dem Geheimrat gern etwas erwidert, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich hätte ihm gern meine Freude ausgesprochen, daß er nun wieder wohlauf sei, da er sechs lange Wochen vor Weihnachten schwer krank gewesen war, – ich konnte es nicht, meine Lippen bewegten sich ohne Ton. Und dennoch war es, als regten sich tief innen wieder andre Gefühle in meiner Seele, als sie mich die vielen, schrecklichen Monate hindurch beherrscht hatten. Hätte mir aber jemand gesagt, daß ich wieder ganz gesund, froh und munter werden, daß ich wieder lachen würde – ich hätte es ihm nicht geglaubt.

Die vier Söhne des Geheimrats und Irma, sein vierzehnjähriges Töchterlein, sowie der angekündigte Besuch meiner Mitpatientin, Frau Herrmann, schufen über die Feiertage allerdings ein munteres Leben um uns her. Sie waren mehr in der Beletage, wo wir acht leichtesten Patientinnen untergebracht waren, als unten in der Wohnung der Eltern. – Auch über uns, in der Herrenabteilung, hörte man die jungen Felsers ihr Wesen treiben, wodurch sie uns alle wieder an das Leben, an die Freude erinnerten.

Als die ganze Gesellschaft bei uns ihre Sylvesterscherze trieb und ihr wildgewordener Hahn mit Geschrei in den Spiegel flog, mußte ich mit ihnen lachen, denn Fräulein Wundermann, eine etwas kindisch gewordene Dame, die hier ebenfalls Pensionärin war, rief in Todesängsten: »O Jesses! Jesses!« erhob sich eilig von ihrem sicheren Sitz auf dem Sofa und steuerte auf die Thür zu, besann sich jedoch hier auf ihre ewige Frage, die sie wohl zehnmal täglich jedem vorlegte, und fragte wieder in kläglichster Intonation: »Ist denn niemand da von meinen Lieben?«

Ich erschrak nachher selbst über meine Heiterkeit; darf man lachen, dachte ich, wenn man seine Pflichten im Stich gelassen hat und nichts mehr auf der Welt leisten kann?

Am nächsten Tage aber lief mir wieder die Rede mit der Zunge davon: Rudolf Felser, der Leipziger Student, behauptete mit wichtiger Miene, er sitze da, wie ein Edelstein, seine Fassung seien Fräulein Herrmann und Fräulein Marie Prätorius, echtes Gold vom Ural. – »An Fassung scheint es Ihnen allerdings nicht zu mangeln,« sagte ich rasch, »wie steht es aber mit dem Schliff, Herr Studiosus?«

»Hast du gehört, Papa?« rief Rudolf dem Geheimrat zu, der diesmal mit in unsrer Gesellschaft war.

»Bravo! Maria,« sagte lachend der Geheimrat, »geben Sie es ihm ordentlich!«

Ich war noch immer etwas scheu und diesmal wahrhaft erschrocken über mich selbst.

Als nach den Festtagen die lustigen Vögel wieder fortgezogen und das Leben in sein altes Geleise gekommen war, nahm mich mein guter Geheimrat mit frischen Kräften aufs Korn.

Bei seinem Morgenbesuch teilte er mir mit: »Heut geht's in die nahe Universitätsstadt N. Mariale! Ida von Herbenstein, deine Leidensgefährtin und Fräulein Hannchen, eure Pflegerin – alle drei sollt ihr mich begleiten.«

Wie deutlich ist mir noch diese Fahrt in der Erinnerung geblieben: die Schellen klangen lustig über den Weg bis in den Wald hinein, der Kutscher knallte mit der Peitsche, und die Federbüsche nickten munter über den Köpfen der Pferde.

Im Hotel »Zur Post« speisten wir an der Table d'hote, die Gesellschaft bestand meist aus Doktoren und Professoren, die allesamt in heiterer Stimmung waren. – Es schien mir noch alles so sonderbar; ich hätte gern deutlicher empfinden, sehen und hören mögen; aber ich war wie von einem Schleier umgeben, und es war mir, als müßte ich unter diesem Schleier leise lachen, als spiele ich Versteckens. – Zu beschreiben ist dies übrigens gar nicht.

Eines Tages bekam der Geheimrat eine Sendung aus St. Remo, ein Kistchen voll Rosen, die dort in Blüte standen – indessen bei uns allenthalben nur Schnee und Eis zu sehen war. Es waren meist Knospen, die, in warmes Wasser gestellt, bei uns aufblühen sollten. Sie machten einen eignen Eindruck auf mich, beunruhigt und doch erfreut war mir zu Mute. Als der Geheimrat mein Interesse an den Blumen sah, schenkte er sie mir alle, und nach etwa zwei Stunden hatten wir die schönste Rosenpracht in unserm Zimmer. Ich saß wie verzaubert, stumm vor ihnen, fühlte, daß mir Thränen in die Augen stiegen, beugte mein Gesicht tief hinein in den duftenden Strauß und dachte, dachte – – ich weiß selbst nicht was ... Es war, als erhöbe sich in mir eine riesengroße Frage, von deren Beantwortung alles abhing; – ich zitterte innerlich vor der Entscheidung.

»Fräulein Maria, machen Sie sich bereit, Sie fahren gleich auf die Ronneburg!« rief plötzlich in all mein Sinnen Fräulein Hannchen hinein.

Obgleich ich stets gern auf die Ronneburg, das große Gut des Geheimrats fuhr, heute wollte ich nicht recht fort.

»Tapferle! Fräulein Maria,« rief Hannchen noch einmal, und ich ergriff schnell die Rosen und bat sie, den Strauß, nun so verwandelt mit all den entfalteten Blüten, dem Geheimrat von mir wiederzuschenken.

Auf der Ronneburg blieb ich diesmal mehrere Tage, ließ mich vom Verwalter in Stall und Scheunen umherführen und interessierte mich für alles. In aller Stille redete ich einmal mit den beiden Hunden Cäsar und Waldmann russisch, als sie bellend um mich herumsprangen und ich mich unbeobachtet glaubte. Karoline, die Wirtin der Ronneburg, und der Verwalter waren davon höchlichst belustigt und ruhten nicht eher, als bis ich ihnen noch mehr von dieser »wunderlichen« Sprache mitteilte.

Nach Helbingen zurückgekehrt, ging alles wieder seinen früheren Gang: die Ärzte kamen täglich und besuchten uns wie alle übrigen Patienten, deren es noch mehrere Hundert in den andern Häusern gab; doch sahen wir die, die mit dem Geheimrat im sogenannten »Schloß« wohnten, wenig oder gar nicht.

Der Geheimrat dachte sich bald eine neue Aufmunterung für mich aus; zu seinem Geburtstag, im Februar, sollte ich Dr. Mai helfen, lebende Bilder vorzubereiten, die Proben zu leiten, die Musikstücke zur Begleitung der Tableaus auszusuchen u. s. w.

Nun gab es ein fortwährendes Herüber und Hinüber für mich und Dr. Mai. – Die Sache war auch gar nicht so leicht, jeder wollte nach seinem Kopfe handeln, und unter den Mitwirkenden gab es verschiedene »Köpfle«, welche dem meinen glichen, in denen es nicht ganz klar aussah. – Sogar Max Felser, der sich im anziehenden Alter der Flegeljahre befand, wollte seine Eigenart zur Geltung bringen, was ihm auch vollkommen gelang: bald stellte er sich bocksteif hin, ließ sich zerren und ziehen, bald schnitt er im feierlichsten Moment eine Grimasse und legte sich im Familienbilde, wo er gerade so reizend auszusehen hatte, wie er war, einen kohlschwarzen langen Bart vor, den er unbemerkt in der Hand gehalten.

Zuletzt wurde ich böse und sagte zu Dr. Mais großer Belustigung ärgerlich zu Max: »Sie haben hier überhaupt nichts weiter zu thun, lieber Max, als aufzupassen und ihren sogenannten Schnabel zu halten.«

Zum Fest gelang jedoch alles vortrefflich: Irma Felser sah als »Dornröschen« reizend aus, und auch ich soll in der »Schwäbischen Spinnstube« eine »saubere Betzingerin« abgegeben haben, wie man mich versicherte.

Der Geheimrat war so erfreut über unsre Bemühungen, daß er mit mir eine »Künstlerfahrt« nach Württembergs Hauptstadt, Stuttgart, unternahm, bei der uns Fräulein Hannchen und Dr. Mai begleiteten.

Während dieser Fahrt bemächtigte sich meines Körpers und meiner Seele jenes unbeschreibliche Wohlgefühl, das ein gütiges Gesetz der Natur den Nervenkranken zum Ersatz für alle überstandenen Leiden gewährt.

Wenn auch noch mancher Rückfall in Melancholie sich einstellte, so begann diese schöne Zeit doch jetzt schon für mich und dauerte mehrere Monate, und es verging ein volles Jahr, ehe ich wieder die vernünftige, ruhige Lehrerin wurde, die ich ehemals gewesen.

Ich verstand mich lange Zeit hindurch, besonders Männern gegenüber, nicht richtig zu benehmen, denn in rapider Geschwindigkeit machte ich wieder alle Altersstufen durch. Ich mußte wieder leben lernen, es war mir alles so neu, aber ich fühlte, daß es schön sei zu leben; von einer Heimkehr oder von Briefen wollte ich jedoch noch immer nichts hören und ich wußte auch nicht, daß ich auf dem sicheren Wege der Genesung war.

Als wir am Abend des zweiten Tages ins Stuttgarter Theater gingen, freute ich mich wie ein Kind über das damals ganz neue Ballet »Die Puppenfee«, über die Musik und die vielen eleganten Menschen. Manchmal aber biß ich die Zähne fest aufeinander, um etwas Dunkles hinabzuwürgen, das wieder kommen wollte, mich zu ängstigen; gleich darauf kostete es mich Mühe, nicht bei den Tönen der Musik aufzuspringen und zu tanzen.

»Herr Doktor, ich möchte Sie gern ein paarmal in die Runde drehn!« sagte ich in solch einer Anwandlung zu Dr. Mai, der neben mir saß.

»Thun Sie es doch!« war die belustigte Antwort.

»Ei, ei – Fräulein Maria,« sagte dann Hannchen, meine zweite Nachbarin, »das können Sie sich zur großen Ehre anrechnen, daß unser Doktor Mai, der Weiberfeind, so liebenswürdig gegen Sie ist; er hat Ihnen ja auf dem Wege ins Theater sogar den Arm gereicht, was ich sonst noch nie an ihm gesehen.«

Diese Worte zogen an mir vorüber wie eine längst vergessene alte, alte Melodie, die ich nirgend hinbringen konnte. Ebenso ging es mir, als Dr. Mai davon sprach, daß ihm »die Blonden mit blauen Augen und rosigen Wangen« mehr gefielen, als die Brünetten, wobei mich ein rascher, tiefer Blick aus seinen dunklen Augen traf.

Ich begegnete diesem Blick voll Erstaunen: war so am Ende das Leben, war es so? fragte ich mich. Mein Lieber, du hast ja nur eine Hülle vor dir, mein wirklicher Mensch ist ja längst gestorben.

Aber wie himmlisch war diese Ruhe, kein Sehnen, kein Wunsch mehr. Die Sorgen und Mühsale des Lebens lagen so unverständlich fern; mein Empfinden war so unmittelbar, frisch und fröhlich wie das eines Kindes. Weder die vergangene, noch die zukünftige Stunde zog ich in Betracht, ich ging ganz auf im Genuß der Gegenwart.

Ins Hotel zurückgekehrt, überfiel mich beim Glase Wein der Übermut. Als Dr. Mai meinte, der Wein sei nicht gut, es werde ihm so sonderbar davon – lachte ich hell auf und zitierte:

»Dem ›Knaben‹ wird so wunderlich,
So leicht und doch absunderlich.« –

Doch als wir am nächsten Tage heimfuhren, war ich wieder still und in mich gekehrt und bat endlich den Geheimrat, mich immer bei sich in Helbingen zu behalten. – Dann verfloß das Gespräch der Passagiere und das Gerassel der Räder in eine unsagbar schöne, wonnige Melodie, der ich träumend lauschte, während ich halb und halb fühlte oder hörte, wie meine Ärzte von mir sprachen, mir Hut und Schleier zurechtrückten, wie Hannchen meine Hand faßte.


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