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V.

An deine blauen Augen
Gedenk' ich allerwärts;
Ein Meer von blauen Gedanken
Ergießt sich über mein Herz.

Heine.

»Heute abend fahren Sie mit meiner Frau und Dr. Tondern ins Konzert, Maria. Freuen Sie sich schon ein wenig den Tag über darauf!«

Ja, ich freute mich. Wie würde dieses Konzert wohl ausfallen? Jedenfalls munter mit dem muntern Doktor.

O schönes, sorgenloses Leben!

Am Nachmittag ging ich in die Orangerie, um mir vom Gärtner einen Veilchenstrauß fürs Konzert geben zu lassen, und als ich ihn erhalten und an den mir so langweilig dreinblickenden Fenstern von Dr. Mais Wohnung vorüberging, that er mir leid in seiner Einsamkeit und seinem dicken Tabaksqualm ... ich sprang zu ihm, nach alter Art, hinein und wünschte ihm einen guten Tag.

»Guten Tag, Fräulein Marie! Wie geht's denn?«

»Ach, sehr gut, ich fahre heute abend ins Konzert. Sehen Sie, dazu habe ich mir soeben ein Sträußchen geholt. Wollen Sie auch was davon?«

»Bitte!«

»Da wollen wir christlich teilen, jedem eine Hälfte.«

Er sog den Duft der Veilchen ein, aber die alte Pfeife rauchte bald alle Düfte fort.

»Wie war es denn gestern auf der Ronneburg?«

»Sehr lustig, Herr Doktor, der neue Arzt ist so munter; aber bissig kann er auch sein. Wissen Sie, er sagte mir, ich stamme aus der Zeit der Kreuzzüge.«

»Das konnte er ruhig sagen, da Sie so jung sind.«

Jung? ums Himmels willen, – ich bin ja schon siebenundzwanzig Jahre alt.«

»Ja, wer's glaubt!«

»Aber das steht doch sicher in meinem Paß?«

»Nein, darin steht es nicht. Darin steht nur, daß Sie eine ins Ausland beurlaubte Lehrerin des K.er Mädchengymnasiums sind.«

»Haben Sie denn meinen Paß so genau geprüft?«

»Ja, als Arzt muß man das.«

»So, und nun sind Sie zum Schluß gekommen, daß ich wie alt bin?«

»Damit geht es mir sonderbar: im Anfang, als Sie noch die Aversion gegen Haarnadeln hatten und stets einen hängenden Zopf trugen, sahen Sie mit ihren traurigen Augen aus wie das reine Baby, dem der Milchzwieback weggeholt worden. Jetzt mit der Frisur und dem Schopenhauer unter der Frisur sehen Sie anders aus; aber dreimal täglich mindestens sind Sie wieder ein Baby.«

Ich mußte herzlich lachen. »Ein Baby mit einem Zopf!« rief ich. »Aber trotz alledem können Sie mir glauben, daß ich bald achtundzwanzig Jahre alt werde.«

»Nein, das thu' ich nicht; dann wären Sie ja ein halbes Jahr älter als unser neuer Doktor!«

»Wirklich? Ist er so jung?«

»Ja, soeben siebenundzwanzig geworden, wie er mir sagte.«

Ich wurde nachdenklich. Dann lachte ich wieder und dachte: meinetwegen mag er zwanzig sein, ich will ja nur lachen und lustig sein!

»Jetzt aber, adieu, Herr Doktor! heut bin ich ohne Erlaubnis gekommen. Adieu!«

»Adieu, Fräulein Marie! Viel Vergnügen zu heute abend! Nächstens hält der Herr Geheimrat einen Vortrag in X., dann fahr' ich mit Ihnen.«

* * *

Am Abend machte ich sorgfältig Toilette und steckte meine Veilchen an.

Wie schön war es, sich zu schmücken, – lange hatte ich das nicht empfunden. Wie schön war es, zu leben!

Gab es überhaupt noch dumpfe Klassenzimmer, Arbeit und Sorge in der Welt, in dieser schönen Frühlingswelt?

* * *

Das gewaltige Tonstück »Orpheus und Euridyke« wurde aufgeführt mit Chor- und Solopartieen. Der Saal war gedrängt voll, und unter all den Menschen saßen neben der Frau Geheimrat Dr. Tondern und ich und sahen uns lachend in die Augen.

»Dich kann man gern haben,« sprach es deutlich aus unser beider Blicken von einem zum andern hinüber.

Gern haben? dachte ich, und eine erste schmerzliche Wehmut zog mir wieder durch die Brust. Ja, gern haben; aber nicht zu sehr, denn mein Gemüt muß jetzt stark bleiben, ich muß ja wieder leben.

Und von den Wellen der Musik getragen, wogte mein Empfinden auf und ab.

Ich hatte die ganze Zeit über unverwandt das Titelblatt des Programms angestarrt, ohne es selbst zu wissen.

»Schöner Druck! nicht wahr?« tönte plötzlich des Doktors neckische Stimme neben mir.

Das war der richtige Ton; ja, lachen, scherzen, glücklich sein, nicht weiter denken, das soll meine Devise sein! Und ich blickte ihn lachend an und sagte ihm mit den Augen: »Du gefällst mir gut.«

»Süße Liebe –
Deine Wonne
Ist dem Herzen
Seligkeit – «

tönte es in diesem Augenblick mit herzbewegender Intonation durch den Saal.

»Süße Liebe!« ... wiederholte leise der Doktor neben mir, und es durchschauerte mich; aber ich wußte nicht, daß sie dennoch kam mit Macht, die Liebe, denn sie kam fröhlich, mit Jauchzen und mit Lachen.

»Fräulein, ich habe das Scharlachfieber!« sagte er.

»Nehmen Sie Chinin!« war meine Antwort,

Frau Geheimrat schien eigens deshalb einen Stuhl weiter zu sitzen, damit sich die breite Brust des Doktors so oft wie möglich an meinen Arm legen konnte, während er mit ihr Meinungen über das Konzert austauschte.

Ich zürnte ihm fast und dennoch ... ich wich ihm nicht mehr aus. Warum auch? Mein ganzes Leben hindurch war ich einsam, nur meiner Pflicht ergeben gewesen, bis mein armer Kopf es nicht mehr aushielt; warum sollte ich mich jetzt zieren und verstellen?

Ja, du fröhlicher Studentendoktor, du hast die Macht, mich zu wandeln wie du willst!

Jetzt sangen die Furien im Chor ihr »Nein«! und wieder und noch unzählige Mal auf alle Bitten des Orpheus antworteten sie ihr wütendes »Nein«!

Es irritierte mich zuletzt, und noch in der darauf eintretenden Pause klang es in meinen Ohren; aber lange hatte ich nicht Zeit zum Nachdenken, denn mein fröhlicher Nachbar scherzte schon über den Rücken irgend einer Person aus dem Publikum.

»Warten Sie, Doktor,« sagte ich zu ihm, »ich werde Ihnen auch etwas auf den Rücken schreiben, was Sie nie vergessen sollen, so lange Sie leben!«

Ich war dabei fast ernst geworden, und in mir regte sich jenes feindliche Etwas, das eigentlich dennoch stets zwischen Mann und Weib steht.

Ehe du mir den Kopf verdrehst, dachte ich, thue ich dies lieber mit dir.

Hätte ich damals in die Zukunft blicken können und gewußt, wie es nach einem Jahr, am selben Tage sein würde, ich hätte mir das alte Lied: »O lieb so lang du lieben kannst« zur Richtschnur genommen.

Bei der Heimfahrt war der Trotz wieder verflogen, und ich wich jetzt nicht mehr ängstlich zurück, wie bei der ersten Fahrt von der Ronneburg, wenn ich Dr. Tonderns Nähe fühlte. Mir wollte zwar manches Bedenken kommen, aber ich verstreute sie alle in den Wind. Noli me tangere und Mimosa lebet wohl! Homo sum!

In diesen Tagen kamen Briefe aus Rußland, unter andern auch einer von meinem K.er Arzt, Dr. Römer, der auch im Brandtschen Hause verkehrt hatte; freundliche, ernste, vernünftige Worte. –

Dr. Römer! Vernunft! wie fern lagt ihr mir. War das jemals anders gewesen?

Freilich, es war anders gewesen, ich war einst eine sehr ernste Lehrerin gewesen; aber wie mühselig war damals mein armes Ich und jetzt – – flatterte ich im Sonnenschein wie ein duftberauschter Schmetterling; nichts andres konnte ich denken, als Licht, Luft und Liebe. –

Fast alle Tage fuhr der Geheimrat mit mir aus. Mitunter nach X. auf ein Plauderstündchen im »Kaiser« oder im »Bären«, wo ihn einige gelehrte Herren erwarteten und wo beim Glase Wein klug oder fröhlich geredet wurde – je nachdem.

Einmal küßte er mir vor allen galant die Hand, nachdem ich ihm ein Butterbrot gestrichen. Er war so gut gegen mich, wie ein echter Vater und hielt mich in seinem Hause halb wie eine Tochter, halb wie einen lieben Gast, dem man alle nur möglichen Zerstreuungen und Vergnügungen bereitet.

Bald gab irgend ein Zauberkünstler seine Vorstellungen, bald gab es einen Vortrag anzuhören, überallhin wurde ich mitgenommen.

Noch jetzt frage ich mich manchmal, ob es wirklich wohl möglich sei, in so kurzer Zeit so unglaublich viel Vergnügen mitzumachen, frage ich mich, ob ich – ich selbst dieses so vollkommen anders geartete Wesen war.

Ja – es ist möglich gewesen und war wunderbar schön. Könnte ich nur einen Tag, eine Stunde davon zurückzaubern, welche Seligkeit!

An einem hellen Frühlingsmorgen schlug der Hofrat vor, ich möge doch mit meinen Spazierherren, mit denen ich nach wie vor des Morgens spazieren ging, einmal den Almberg besteigen und zu größerer Sicherheit auch Dr. Tondern mitnehmen, der sich gewiß auch gern die Gegend ansehen werde.

Außer Postel, der leider immer gern Klagelieder sang, und Herrn Braun kamen noch einige andre Herren und Damen von den Patienten mit, und in fröhlichster Stimmung schlugen wir den Weg zum Almberg ein.

Ein beschwerlicher Aufstieg, kein Schatten und durstige Kehlen; wir mußten rasten, und ich setzte mich an einem wilden Rosenstrauch nieder, der viele Knospen und Dornen, aber noch keine Blätter hatte.

»Eine Rose unter Dornen!« sagte Herr Braun.

»Nur keine Artigkeiten!« wies ich ihn ab; »aber vielleicht,« fuhr ich fort, »paßt der Vers besser auf mich:

›Dein Zünglein sticht,
Drum jeder spricht:
Dich mag ich nicht.‹«

»Nein, Fräulein Maria, der paßt nicht ganz, nur daß das Zünglein manchmal sticht, ist richtig; das übrige aber nicht.«

»Wollen wir nicht aufbrechen?« fragte ich.

»Jawohl, nur weiter hinauf in die Höh!«

Welch prächtige Aussicht gab es oben: das schöne, gesegnete Württemberger Land mit all seinen Örtern und Dörfchen nah und fern lag im Frühlingssonnenschein vor uns ausgebreitet. Das erste zarteste Grün bedeckte Thal und Hügel, und die Bäume hüllten sich in einen lichtgrünen Schleier.

Wir zerstreuten uns, und jeder suchte den schönsten Punkt.

Neben mir stand Dr. Tondern, und überwältigt von dem herrlichen Anblick kamen mir die alten Worte über die Lippen:

»O, wunderschön ist Gottes Erde
Und wert, darauf vergnügt zu sein ...«

»Drum will ich, bis ich Asche werde, mich dieser schönen Erde freun!« beendete der Doktor.

Hätte er diesen Vorsatz doch länger ausgeführt!

»O, bitte, kommen Sie hierher, Fräulein Maria und Herr Doktor! hier ist die Aussicht wunderschön,« rief uns Herr Braun zu.

Wir folgten ihm gern, aber unterwegs stellte sich der Doktor neckisch vor mich hin: »O welch reizende Aussicht!« rief er und sah mir lachend in die Augen; dann eilte er lustig voran.

Ich machte ein böses Gesicht, als ich zu den andern kam,

»Mein gnädiges Fräulein, darf ich mir erlauben, Ihnen ein Rätsel aufzugeben?« fragte Dr. Tondern.

»Gut, nachher müssen Sie aber auch eins erraten.«

»Also, was ist das: Es sitzt im Vogelbauer, ist gelb und singt?«

Alle lachten und ich mit ihnen.

»Was ist aber das: Es heißt Doktor, sieht aus wie ein Doktor und ist doch ein Student?«

Wieder schallendes Gelächter.

Der Abstieg ging schneller von statten, uns winkte in E. Erholung und Einkehr nach des Geheimrats Verordnung.

Die guten Wirtsleute der »Rose« räumten uns ihre »gute Stube« ein, und nun aß man Brot und Emmenthaler Käse und trank seinen Wein dazu. Alle redeten bunt durcheinander, nur unser Doktor schwieg nachdenklich, und als ich mich nach ihm umwandte, bemerkte ich, daß er sich in die Betrachtung meines Handschuhs vertieft hatte, der auf der Seitenlehne des Sofas lag.

»Nun, Herr Doktor,« rief ich lachend, »was gibt's da so Merkwürdiges?«

Schweigend blickte er auf, dann sagte er: »Ach bitte, sehen Sie mich nicht so an, Fräulein!«

Dies belustigte mich. »Wie soll ich Sie denn ansehen? Vielleicht am besten gar nicht!«

»Nein, das nicht, aber nur nicht so, es kränkt mich etwas darin.«

»Was schaust du mich an so wonniglich?
Hast du den Mut – so – – –«

deklamierte ich übermütig.

»O, Sie Böses!« rief er ärgerlich; »jetzt brechen wir aber auf!«

»Zu Befehl, Herr Lieutenant!« sagte ich salutierend, und wir begaben uns auf den Rückweg.

»Wollen Sie mir Ihre Photographie geben, ehe Sie fortreisen?« fragte er auf dem Heimwege.

»Nein, Herr Doktor, verzeihen Sie, aber das ist gegen mein Prinzip, unverheirateten Herren gebe ich mein Bild nicht.«

»So verpflichte ich mich, bis zum nächsten Jahr zu heiraten.«

»Gut, im nächsten Jahr sollen Sie auch mein Bild haben, aber um das Ihre bitte ich gleich. Ich möchte doch von allen meinen deutschen Ärzten noch in Rußland ein Andenken haben.«

»Nein, auch ich gebe Ihnen nicht das meinige, bevor Sie mir Ihres gegeben haben.«

»Das thut mir leid.«

* * *

Am nächsten Tage zeichnete ich das Bildnis des Buschschen Moritz aus dem Buche ab, setzte das Bild in ein Mousselinrähmchen mit Goldrand, das von einem Festbonbon herstammte und stellte das Machwerk neben mein Arbeitskörbchen.

»Sehen Sie, Herr Doktor, ich habe mir zu helfen gewußt,« sagte ich bei seiner Morgenvisite, »nun habe ich dennoch Ihr Porträt,«

Die Ärzte sprachen davon, daß Dr. Tondern nach Tübingen fahren sollte. »Haben Sie dort Verwandte?« fragte ihn der Geheimrat.

»Ja, dort wohnen sieben Cousinen vom Herrn Doktor,« fiel ich schnell ein.

Mein Übermut kannte damals keine Grenzen: kaum waren die Herren fort, so fertigte ich noch sieben Moritzbilder an und schickte sie ihm im Namen eines X.er Photographen für die sieben Tübinger Cousinen.

Dann ging ich befriedigt mit meinen beiden Herren spazieren.

Bei der Rückkehr begegnete uns in einem offenen Wagen ein schmucker, junger Offizier in Paradeuniform, mit Degen, Helm und weißen Handschuhen.

Er lächelte und salutierte, während seine Augen wunderbar gutmütig und fröhlich über uns herglitten.

»Wer war das?« fragte ich Herrn Braun.

»Unser neuer Doktor, Fräulein, haben Sie ihn denn nicht erkannt?«

»Aber in Uniform?«

»Ja, er ist Militärarzt der Reserve und stellt sich heute dem Bezirkskommandeur vor.«

Ich lachte, denn mir fiel es ein, daß ich gestern mit dem: »Zu Befehl, Herr Lieutenant!« nicht ganz unrecht gehabt hatte!

Kaum war unser Mittagessen beendet, so überbrachte man mir eine schriftliche Antwort auf die Sendung meiner »Photographien« von Dr. Tondern. Die Aufschrift lautete:

Citissime!!!
Fräulein M. Prätorius
per Expressen! Ober-Schulrätin.
Geehrter Herr Photograph!

Indem ich Ihnen für die prompte Erledigung meines Auftrages meinen ergebensten Dank ausspreche, kann ich nicht umhin, Ihnen mein Befremden auszudrücken, daß die Ihrer lieben Begleitadresse beigefügten Photographien so windiger Natur sind. (– Sie waren aus dünnem Postpapier.) Sollten die betreffenden Cousinen sich der gleichen Beschaffenheit erfreuen, so würde ich auf eine nähere Bekanntschaft, deren Einleitung ja der Zweck meines Ansuchens war, gern verzichten.

Mit verbindlichstem Dank
Ihr
Moritz ( nicht Fritz).«

Dies alles hatte auf einer Visitenkarte Platz gefunden, auf der ich endlich den wahren Vornamen des Doktors lesen konnte:

Dr. med. Heinrich Tondern«.

Also »Heinrich« heißt er, Heinrich, wie mein lieber Vetter und einstiger Kinderbräutigam aus grauer Vorzeit. – –

Mich wollte Wehmut beschleichen, aber die paßte nicht zu meiner jetzigen Stimmung, – fort damit!

Heinrich der Zweite lebe hoch!

* * *

Wenige Tage später, als mir die Schreibe-Idee schon wieder aus dem Kopf geflogen war, wurde mir zu meinem Erstaunen noch ein Brief von Dr. Tondern gebracht. Als er ankam, saß Albert Felser gerade bei uns oben und hatte mir seine Photographie verehrt. Ich las und lachte und trug schließlich die wunderliche Epistel den übrigen vor.

Sie enthielt eine Parodie auf die russischen Zustände in krausen, originellen und komischen Arabesken. Lichttalg und Spiritus, vertriebene Juden, Dynamit, Nihilisten und schließlich ein Extrazug nach Sibirien spielten darin eine Rolle. Unterzeichnet war sie »Moritzewitsch«.

Das Ganze atmete eine unausgesprochene Mißbilligung, daß man in solch einem Lande leben und dahin zurückkehren könne.

Meine erste Antwort waren nur die Worte: »Rußland, Rußland über alles!« auf einer Visitenkarte.

Ich war zu müde an dem Abend, auch wußte ich nicht, wie mein Geheimrat diese Korrespondenz auffassen würde, und um über seine Ansicht ins Klare zu kommen, zeigte ich ihm das letzterhaltene Blatt in Gegenwart des Verfassers.

Der arme Doktor schwitzte Korinthen; aber der Geheimrat lachte herzlich über alle Witze darin und sogar unser Anstaltsprediger, auf gut schwäbisch »Helfer« genannt, der auch dabei war, amüsierte sich königlich.

Dies gab mir den Mut, von der Ronneburg aus, auf die wir am Nachmittag mit Ida, Albert Felser und Fräulein Hannchen gefahren waren, durch den Proviantwagen eine zweite Antwort zu senden.

Diese bestand in einem Bildchen, das ich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte und das sieben Backfische darstellte, die unter einem Männerporträt am Kaffeetisch saßen. Es schien mir gut zu meinen Zwecken zu passen. Ich setzte darunter die Unterschrift: »Moritzbund« und an den Rand des Bildes schrieb ich »Dr. Moritz«.

Nun improvisierte ich eine Unterhaltung der sieben jungen Mädchen:

Nachdem die ersten ihren Vetter Moritz »reizend« und »bezaubernd« gefunden, behauptete eine altklug:

»Ach, Kinder, manches Mannes Herz gleicht einem defekten Gummiball, auf dem zwar jeder leise Druck eine tiefe, beileiderregende Spur hinterläßt, doch eins, zwei, drei saugt er sich wieder voll Luft und Liebe, steht – paff! – wieder rund und lächelnd da und wartet auf neue Eindrücke.«

Eine vierte fragte, ob sie wohl die hundertunderste in seinem Herzen werden könne, und die allerkleinste – auf dem Bilde saß sie abseits auf einem Bänkchen, mit einer Puppe auf dem Schoß – äußerte sich endlich so: »Ihr seid alle dumme Gänse, mir allein gehört er! Einstweilen spiele ich noch mit meiner Puppe und Vetter Moritz mit euch; wenn er aber erst eine Glatze hat und keine Vorderzähne mehr, dann ist er reif und ich gerade recht, um seine Überreste zu verpflegen. Außerdem ist die Bank, auf der ich sitze, aus purem Golde, das merkt euch!«

Hieran schloß sich eine Betrachtung über die Verderbtheit der deutschen Jugend und ein Stoßseufzer nach Rußlands Gauen, nach Spiritus und Talglichtern.

An den Schluß setzte ich zur »Versüßung aller etwaigen Gifttropfen« den bekannten Vers:

»O Fröhliche singt, weil das Leben noch mait!
Noch ist ja die fröhliche, goldene Zeit,
Noch sind die Tage der Rosen!«

und unterzeichnete mich »Tante Marie«.

Ein derartiges Hin und Her mit Zettelchen und Briefchen gab es noch in allerlei Gestalt, es war, als zählten wir statt siebenundzwanzig Jahren nur siebzehn oder fünfzehn.

Nur blieben, seitdem der Doktor gesehen, daß ich seinen Brief dem Geheimrat gezeigt, seine Antworten meist mündliche, durch Anna bestellte, welche ihm Zeitungen und Medikamente zu bringen oder von ihm abzuholen hatte und fast nie ohne irgend eine Bestellung an mich zurückkam.

Eines Sonntags während des Kegelns fragte ich ihn, warum er mir jetzt nur mündlich seine Mitteilungen mache.

»Erstens fürchte ich den kürzeren zu ziehen und dann habe ich noch andre Gründe.«

Der »kürzere« bezog sich auf eine meiner Äußerungen, in der ich ihm riet, nur nicht mir gegenüber den kürzeren zu ziehen, dann hätte er verloren für immer.

»Ich verspreche Ihnen jetzt, Ihre Briefe für mich zu behalten,« sagte ich.

»Als ob Sie das könnten!«

»Warum sollte ich das nicht können?« rief ich erstaunt.

»Jetzt können Sie es nicht, Fräulein,« erwiderte er völlig ernst, »in diesem Stadium der Reaktion nach Ihrer Krankheit kann ich Ihnen leider nicht alles sagen, was ich gern möchte ... Sie müssen auch noch eine Zeitlang lachen.«


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