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III.

Mit deinen blauen Augen
Schaust du mich freundlich an,
Du wird mir so träumend zu Sinne,
Daß ich nicht sprechen kann.

Heine

Ende Februar verließ uns Dr. Kreutzer, und eines Abends zu Anfang März fuhr Dr. Mai auf den Bahnhof, um seinen neuen Kollegen abzuholen; als sie zurückkamen, hatte Fräulein von Herbenstein durchs offene Fenster gehört, wie er nach seinem Koffer gefragt.

Sie ahmte ihm nach und lachte über sein fremdklingendes Deutsch. »Nun, wir werden ja morgen sehen, was das für ein Vogel ist,« schloß Ida, die sich in Helbingen ganz als Hauskind betrachtete. Sie wohnte daselbst bereits siebzehn Jahre lang als Pensionärin, wie sie mir eines Tages voll Bitterkeit mitteilte. Mich setzte damals das Benehmen ihrer Verwandten gegen sie in großes Erstaunen: kann denn ein so liebenswürdiger Mensch, mit einer so hübschen Begabung für den Gesang, geisteskrank sein? fragte ich mich. Damals wußte ich noch nicht, daß sie in ihrer Jugend eine allzu große Vorliebe für das starke Geschlecht und eine Neigung an den Tag gelegt, die man zarterweise mit Kleptomanie bezeichnet, und die natürlich durchaus nicht in ihr heimatliches Freiherrenhaus passen wollte.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Wir standen gerade mit unsern Frühstücksbroten am Fenster, als Dr. Mai mit dem neuen Arzt zum Geheimrat hinüberging, um ihn vorzustellen.

»Ach, wie blond!« rief ich unwillkürlich und wollte vom Fenster zurücktreten, da kehrte der junge Doktor noch einmal um und lief in seine Wohnung zurück.

Das war ein Wuchs, eine Elastizität, eine Jugendkraft! Wie ein junger Recke flog er über den Hof, ich freute mich ordentlich, ihn wieder zurückkommen zu sehen.

In der Kirche saßen beide Ärzte rechts vor uns und standen nach der Predigt zusammen auf, um hinauszugehen.

An der Kirchenthür blieben sie stehen und ließen nun alle Kranken an sich vorbeidefilieren.

Dr. Mai grüßte mich laut: »Guten Morgen, Fräulein Marie!«

Ich neigte den Kopf und ging vorüber.

Der junge Doktor fuhr mit der Hand an die Pelzkappe, ich sah ihn nicht an und hörte nur wie er leise fragte: »Wer war das?«

Die Antwort konnte ich nicht mehr verstehen.

Beim Mittagessen fragte jetzt alles: »Wie heißt er? Haben Sie ihn gesehen? Von wo kommt er? Wie alt kann er sein? u. s. w.« Was soll man auch anders thun, wenn man auf der Gotteswelt nichts zu leisten hat.

»Er heißt Traudner oder Troudner oder so ähnlich,« sagte Anna. »Heute nachmittag soll gekegelt werden, da werden wir ihn ja sehen. Man sagt, er sei erst siebenundzwanzig Jahre alt, sei aber schon vier Jahre Arzt und käme von der französischen Grenze her.«

»O nein,« widersprach Fräulein Hannchen, »aus Kassel ist er und ist zum wenigsten schon dreißig Jahre alt. Jetzt kommt er freilich aus dem Elsaß, wo er eine Zeit hindurch an einer ähnlichen Anstalt wie die unsre beschäftigt gewesen. Er soll ein tüchtiger Doktor sein.«

Um vier Uhr nachmittags ging's zum Kegeln. Zuerst kam Dr. Mai und war sehr aufgeräumt, scherzte mit mir und den übrigen und bereitete uns darauf vor, daß unser neuer Arzt gleich erscheinen werde. Da that sich auch schon die Thür auf, und er trat herein, frei und sicher, mit einem raschen Blick über die ganze Gesellschaft.

»Herr Doktor Tondern!« stellte Dr. Mai vor.

Allgemeine Verbeugung und jene gewisse verlegene Stille, die sich, dummerweise, meist bei solchen Gelegenheiten der Gesellschaft, bemächtigt.

»Anna,« sagte ich leise, »ich taufe ihn ›den langen Christian‹. Haben Sie gehört?«

Zum Kegeln nahm jeder seinen eignen Krug für das Bier mit und fast jedesmal gab es dort einen neuen zu bewundern. Diesmal war es der des neuen Doktors, auf dem ein Korporationswappen und allerlei Arabesken gemalt waren. Ich faßte den Griff und betrachtete den Krug genauer, wußte aber noch nicht, ob er einem Neuangekommenen Patienten oder dem Doktor gehöre.

Plötzlich faßte eine große, wohlgepflegte weiße Männerhand über meine hinweg ebenfalls den Griff an, und der neue Doktor fragte mich, was ich daran betrachte.

»Gehört der Krug Ihnen?« fragte ich dagegen.

»Ja, mein Fräulein.« Und noch immer die Hand auf der meinen, so daß ich sie auf keine Weise fortziehen konnte, schaute er mir in die Augen.

Verlegen werden konnte ich damals nicht; als ich aber in seine guten, hübschen blauen Augen sah, dachte ich wieder, wie so oft während dieser Zeit des Erwachens: »Ja, das ist ja das Leben – – wie sonderbar!«

Er fragte mich, woher ich sei, wie ich hierher gekommen wäre und dergleichen mehr.

Ich beantwortete alles in satirischer Weise: »Auf solchem, nicht mehr ungewöhnlichem Wege gelangte ich hierher und werde nun bald in meine Heimat zurückkehren können,« schloß ich meine Antwort.

Wie diese dunkelblauen Augensterne mich ansahen, als wollten sie mich durch und durch schauen, bis auf den tiefsten Grund der Seele.

»Der studiert seine Patienten gleich gründlich,« sagte ich auf Fräulein Hannchens Fragen über ihn.


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