Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX.

Ich seh' dein liebes Angesicht,
Ich seh' die Schatten der Zukunft nicht.

Es kam jetzt zuweilen vor, daß Dr. Tondern ernsthaft wurde und in einer solchen Stimmung fragte er mich einmal: »Wäre es nicht Zeit, daß wir vernünftig würden? Wir reden ja wie die Kinder.«

»Wenn Sie auch kein Kind sind,« erwiderte ich, »so sind Sie doch noch ein Student, Herr Doktor, und ich präsentiere mich Ihnen als Backfisch. Ich mache jetzt in rapider Geschwindigkeit wieder alle Altersstufen durch und bin glücklich bis zum Backfisch angelangt.«

Das war ein wahres Wort – ich hatte oft die Gefühle einer Fünfzehnjährigen.

Meine Doktoren schienen dies ganz in der Ordnung und dem Gang der Genesung entsprechend zu finden; nicht so aber meine Mitpatientinnen.

Nächst Frau Ring war es auch Fräulein von Herbenstein, die gute Ida, die mich einmal ganz aufgebracht einen ›Grasaffen‹ schalt.

»Kommt da aus Rußland her und stellt das ganze Haus auf den Kopf, das alberne Ding, das!«

»Und wenn sie noch schön oder besonders geistreich wäre,« ergänzte Frau Ring.

Ja, ihr hattet vollkommen recht in allem und doch – es war so und war so herrlich schön und lustig!

Habt Dank noch heute, ihr guten, lieben Geduldigen, daß ihr mich gewähren ließet, habt Dank für eure Liebe, Freundlichkeit und Nachsicht!

Als meine Ärzte diese Anfeindungen bemerkten, hielten sie mich sorgfältig von den Damen fern. Ja, bei einem neuen Ausfall Idas sagte ihr der Geheimrat streng:

»Liebe Ida, da Sie so eine Abneigung gegen Fräulein Prätorius haben, so werden Sie, so lange sie noch bei uns ist, unsre Ausfahrten nicht mehr mitmachen.«

Das schnitt mir ins Herz, und Thränen traten mir in die Augen. Die Ärzte glaubten gewiß, sie seien die Folge der mir angethanen Beleidigung; aber ich weinte um Idas willen. Ich hätte so gern, gern alle Menschen um mich her glücklich gesehen, auch war ich Fräulein von Herbenstein aus der ersten Zeit meiner Krankheit viel Dank schuldig. Als ich noch weniger Beachtung fand, war sie mein guter, tröstender Genius gewesen, der stets ein freundliches Wort für mich hatte. Und ihre hübschen Lieder haben gewiß nicht wenig dazu beigetragen, meine umschleierte Seele rascher aus ihren Fesseln zu befreien. –

Ich sprach das auch aus, aber der Geheimrat blieb fest: »Mit Mühe und Not haben wir Sie soweit gebracht, jetzt müssen Sie uns gesund bleiben, und dazu taugen keine gehässigen Weiberzungen.«

Dr. Mai ereiferte sich gegen Fräulein Ida sogar derart, daß er ganz blaß wurde. Sie hatte sich nämlich soweit hinreißen lassen, mir im Vorübergehen ein »Pfui!« zuzurufen, als ich herzlich über ein fröhliches Wort der Ärzte lachte.

Mich ängstigten Dr. Mais sprühende, schwarze Augen und sein blasses Gesicht.

»Lieber Herr Doktor, schweigen Sie!« sagte ich flehend.

»Möchten Sie nicht einige Zeit auf die Ronneburg, Fräulein Maria?« fragte mich Fräulein Hannchen.

»Wollen Sie nicht Karoline ein wenig drüben in der Wirtschaft helfen?« schlug auch der Geheimrat vor.

»Warum wollen Sie mich verbannen?« fragte ich traurig.

»Ärztlichen Beistand sollen Sie allwöchentlich zwei- bis dreimal haben! wir besuchen Sie dort, müssen ja ohnedies zu den Patienten, die in der Kolonie die Feldarbeit besorgen,« sagte lächelnd der Geheimrat.

»O, bitte, nein, lassen Sie mich hier, ich möchte Sie die letzten Wochen noch alle Tage sehen.«

Schon am folgenden Tage kam ein Brief von Frau Brandt. Sie war schon in Württemberg, in A. bei Fritz, ihrem Ältesten, dessen Konfirmation in der folgenden Woche stattfinden sollte.

»Auch Vera, Ihre Schülerin, habe ich aus K. mitgenommen,« schrieb sie, »da sie so gern zu ihres ältesten Bruders Konfirmation dabei sein wollte. Die Kleinen habe ich beim Papa gelassen. In etwa acht Tagen komme ich mit Fritz und Vera zu Ihnen. Besorgen Sie uns irgend ein Unterkommen in Helbingen, wo wir uns ungestört aussprechen können. Ich habe Ihnen viel zu erzählen und auch Vera bringt Grüße aus allen Klassen des Gymnasiums und von Ihren Kollegen. Auf baldiges Wiedersehen denn etc. –«

Da war wieder das reale Leben ›Gymnasium, Schülerin, Kollegen‹ – – wie fremd berührte mich das alles jetzt, fast wie ein körperlicher Schmerz; aber auf das Wiedersehen, nach solch einem Jahr, freute ich mich doch sehr.

Der Geheimrat entschied, daß ich die letzte Woche noch in Helbingen bleiben und dann mit Frau Brandt auf die Ronneburg fahren sollte, wo wir während der Tage ihres Besuchs uns in aller Ruhe aussprechen sollten.

»Und in der letzten Woche wollen wir unsrer Maria noch recht viel Vergnügen bereiten,« schloß der Geheimrat.

* * *

Tausenderlei Gedanken stürmten jetzt auf mich ein: Ich soll wieder ins Leben zurück, soll wieder nach K., soll womöglich wieder ins Gymnasium – ist das nur denkbar? – Wieder die gleichmäßige Abwickelung von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. – –

»Alle deutschen Verben haben die Endung en, wenn man diese Endung streicht, so erhält man die Wurzel; aus der Wurzel bildet man – – «

Schrecklich! schrecklich! – Nein, meine Stelle ist ja besetzt, davon konnte also nicht mehr die Rede sein; aber was dann?

Und K. – – alle diese Geldprotzen, die mit ihren Goldstücken klimperten und dabei so hohl im Kopfe waren. So ein Herr X. z. B., der sich über die »Gebildeten« stets lustig machte und einmal schadenfroh gesagt hatte: »Da sitzt er nu mit die Kenntnisse.«

Oder eine Frau S., die, um recht fein zu sein, von der »Treppse« und der »Schleppfe« sprach und die ihrer Ottilie »Abajourstrümpfe« und »decolletierte« Schuhe gekauft – – und zu ihrem Adolf voll Entrüstung gesagt hatte: »Du wirst doch nicht mit einer Gouvernante tanzen?«

Ja, wenn man ein reicher Seifensieder ist und sechs Pferde im Stall hat und dazu einen so großen Brillantknopf trägt wie eine Nuß, ja deshalb schon in der ganzen Stadt »Adolf mit dem Knopf« genannt wird – dann hat man Standesrücksichten zu nehmen, dann kann man nicht mit Gouvernanten tanzen. –

Und Frau Brandt, dachte ich weiter – würde sie wohl so bleiben, wie sie in der Zeit meiner Krankheit gegen mich gewesen? Würde sie mir nicht wieder sagen, daß ich häßlich sei, und daß ich eine »alte Jungfer« bleiben würde. Gerade als wäre beides meine eigne, persönliche Schuld.

Ach, all die alte, lächerliche und darum doch nicht weniger peinigende Qual stieg wieder auf, und bittere Thränen rannen über meine Wangen.

Nein, nach K. um keinen Preis mehr!

Was aber dann? Wieder diese unerbittliche Frage. Da kam mir ein rettender Gedanke: ich wollte nach Petersburg, wollte mit Hilfe der mir bekannten Inspektorin des Olga-Instituts, einer sehr einflußreichen Dame, die in den höchsten Kreisen Verbindungen hatte, eine Audienz beim Unterrichtsminister, Grafen D., erwirken, ihm persönlich mein Schicksal erzählen und um Anstellung am Gymnasium einer andern Stadt bitten.

Als ich diesen Plan den Ärzten mitteilte, waren sie alle stumm. Endlich sagte Dr. Mai halb lachend, halb im Ernst: »Rasch einen Stuhl her, ich falle um!«

»Nein, das ist mein Ernst, meine Herren, und meine Absicht werde ich ausführen, das sollen Sie noch sehen!«

Sie kannten mich nur als das spielende Kind; daß ich auch Energie und Thatkraft besitze, wußten sie ja nicht. – – Und ich habe alles ausgeführt, was ich mir damals vornahm.

»Mariale,« sagte der Geheimrat, »ehe Sie nach Petersburg reisen, fahren wir heute mittag noch auf die Ronneburg. Einverstanden?«

»Ja, Herr Geheimrat, einverstanden!«

Noch war ja die blühende, goldene Zeit,
Und so weit war mein Herz und so licht wie der Tag,
Wie die Lüfte durchjubelt von Lerchenschlag!

In mir rief zuweilen eine Stimme: O, verwöhnt mich doch nicht alle so sehr! Wenn ich in die kalte Welt zurück muß, so wird es mir ja gar zu schwer werden. Ach, könnte ich hier bleiben und dürfte nie mehr von hier fort!

Ähnliches muß auch der Geheimrat gedacht haben, sowohl was das schädliche Verwöhnen, wie auch das Dableiben anbetraf, denn er teilte mir, als wir in der Ronneburg angekommen waren, mit, daß im Städtchen Helbingen heute abend ein Ball gegeben werde, den er, seine Frau und der junge Doktor besuchen würden. – Ich sollte nicht mit.

»Soll ich ihn grüßen, Maria?« – fragte er schelmisch.

»Ja, bitte, Herr Geheimrat,« erwiderte ich errötend.

»Wie Fräulein Prätorius rot wird,« lachte Albert, der auch mit ausgefahren war, über den guten, alten Ronneburger Speisetisch herüber.

»Warum sollte sie nicht?« meinte der Geheimrat, »unser Doktor ist ein Mann, in den ein Mädchen sich wohl verlieben darf. Dazu ist er ein gescheiter, thätiger und tüchtiger Arzt. Das gäb' wohl ein nettes Pärle,« fügte er freundlich hinzu. »Ja, ja, Maria, mit tausend Mark für Spitzen und Broderien, von denen die Ring immer spricht, werd' ich wohl herausrücken müssen, – Sollen ja an verteufelt vornehme Wäsche gewöhnt sein.«

Das kränkte mich ein wenig, und ich sagte im Bewußtsein meiner neuen Selbständigkeit: »O, ich habe selbst noch eine ganze Menge Geld und werde schon allein durchkommen!«

»Nun, nun, nicht so heftig, Maria! meiner Hilfe sind Sie sowohl, als er jedenfalls sicher; denn eine solche Kraft wie die des neuen Doktors verliert man nicht gern. Muß auch im Herbst ohnehin umbauen lassen und gebe ihm dann eine größere Wohnung, damit in dem Häuschen auch das Mäuschen seinen Platz findet.«

Als sich der Geheimrat, nach alter Weise, zur Erholung zurückzog, bat mich Albert, ihm eine russische Stunde zu geben, und ich setzte mich in Positur und brachte ihm allerlei Kenntnisse bei: die Zahlen von eins bis zwanzig, alle Formen des Grußes und noch verschiedene andre Worte, die er zu wissen wünschte.

Diese erste Lehrstunde war die heiterste meines Lebens, und daß man das Russisch auch so schauderhaft und so komisch aussprechen könne, hätte ich vorher nie geglaubt.

Zum Kaffee erkundigte sich Albert beim Papa, wie alt ich eigentlich sei.

»Zweiundzwanzig,« log der Geheimrat.

»Wirklich schon zweiundzwanzig?« sagte Albert, »das hätte ich aber nicht gedacht.«

Ich mußte lachen. – Als wir nach Hause fuhren, wurden gerade alle Blattpflanzen, Bouquets, Fähnchen und sonstigen Ausschmückungen für den Ballsaal, die in X. bestellt worden waren, an uns vorübergeführt.

Mir that das Herz ein wenig weh, aber ich schluckte es tapfer hinunter.

Jetzt tanzt er mit einer andern, dachte ich, als ich mich zu Bett legte. Und immer, immer wird er jetzt mit andern tanzen und ich muß fort – so weit fort nach Rußland.


 << zurück weiter >>