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Der Berg

Um acht Uhr schlug Elisabeth Lärm. Ihre Stimme tönte so schrill, daß sogleich alles zusammenlief. Josephe kam bleich aus ihrem Schlafzimmer. Elisabeth rang die Hände gegen sie und stammelte immer nur: »Fanny … die Puppe … Fanny … die Puppe.« Gleich nachdem sie entdeckt hatte, daß das Kind nicht in seinem Bett war, hatte sie das ganze Haus durchsucht und alle Dienstleute gefragt. Bei dieser Gelegenheit hatte die von Ulrike bestochene Romana ein freimütiges Geständnis abgelegt, durch welches aber das Verschwinden des Kindes noch unerklärlicher wurde.

Josephe bewahrte die Fassung und verwies Elisabeth das aufgeregte Gebaren. Sie bemerkte den Brief, den die Puppe trug, riß ihn ab und las ihn. Sie wurde sehr nachdenklich; in dem Brief war etwas, das sie unerwartet traf, aber die Sorge nicht verringerte. Sie verfügte, daß mehrere Leute ausgesandt wurden, um die Gegend abzusuchen. Wichtig war, daß jemand in die Villa Woytich ging, der sich von Ulrike nicht gleich abschrecken ließ, sondern nötigenfalls imstande war, sie einzuschüchtern. Mit dieser Mission wurde Kasimir betraut. Er kam nach einer Stunde zurück und meldete, die Woytich habe bei der Nachricht, Fanny sei abgängig, eine so echte Bestürzung an den Tag gelegt, daß an ihrer Unschuld gar kein Zweifel gehegt werden könne. Nach allerlei unverständlichen Reden habe sie geäußert, sie werde selber herüberkommen. Da sagte Josephe zu den Leuten, die sie umstanden, in strengem Ton: »Ein für allemal: wer die Dame über die Schwelle dieses Hauses läßt, ist aus meinem Dienst entlassen.«

Dem Befehl gemäß wurde verfahren. Eine halbe Stunde danach hatte Kasimir vor dem Gartensalon einen scharfen Wortwechsel mit Ulrike, die sich nicht abweisen lassen wollte und erst nach vielem Schimpfen und zornigen und jammernden Ausfällen wieder ihrer Wege ging. Es wurde aber dann während des ganzen Tages berichtet, daß sie sich auf dem Gut und in der Nähe des Hauses herumtrieb und alle Boten abfing und befragte, die ausgeschickt wurden oder zurückkehrten.

Der Vormittag verfloß, und es wurde Mittag; Fanny kam nicht, niemand hatte sie gefunden, niemand sie gesehen. Josephes schmerzliche Unruhe wuchs mit jeder Stunde. Sie vermochte nicht zu denken und war nicht fähig, einen Plan zu fassen. Valerian sprach ihr Mut zu. Unglücklicherweise hatte er den Einfall, ihr zu erzählen, wie sonderbar sich das Kind damals benommen hatte, als Elisabeth die Nachricht von dem Selbstmord von Ulrikes Neffen gebracht hatte. Er wollte ihr damit nur vor Augen führen, wie eigen Fanny veranlagt war und was für ein bewußtes Leben in ihr steckte, daß man also nicht allzu große Angst um sie zu haben brauchte, aber Josephe ersah aus der Erzählung bloß, daß man ihr etwas verheimlicht, daß das Verheimlichte in dem Kind verhängnisvoll gewuchert hatte, und die Sorge war nicht mehr zu dämmen. Obgleich Valerian sich bemühte, Fannys Verschwinden scherzhaft und harmlos hinzustellen, machte er sich nach Tisch selbst auf, um einen Teil des Waldes abzugehen, während Exzellenz Herbst einen andern Teil zu Nachforschungen wählte. Sie kamen beide gegen vier Uhr unverrichteter Dinge wieder. Elisabeth, die Jungfer, der Gärtner Pohl, der Hilfsgärtner, verschiedene Häusler und Bauern hatten ebensowenig Erfolg gehabt. Die Gendarmerieposten im Kurort und in Riednau waren schon am Vormittag benachrichtigt worden. Josephe ließ bekannt geben, daß sie zwanzigtausend Kronen dem verspreche, der das Kind auffände oder Kunde brächte, die zur Auffindung führte. In allen Häusern, Scheunen, Wirtschaften der Gegend wurde Nachschau und Nachfrage gehalten, Radfahrer wurden auf die Landstraßen geschickt, an die benachbarten Eisenbahnstationen wurde telephoniert, und in Eckern ging niemand mehr seiner Beschäftigung nach, sondern widmete sich nur dem einen Geschäft des Suchens. Umsonst. Der Abend brach herein, ohne daß von dem Kind eine Spur entdeckt worden wäre.

Josephe saß am Tisch ihres Arbeitszimmers wie eine Figur aus Holz. Sie wollte das Geschehene in ihrem Geist durchdringen. Es fehlten die Abfolge und alle Zwischenglieder. Aber mit halluzinatorischer Kraft schaute sie ins Verborgene, und was sich dem Begreifen entzog, empfingen die Sinne. Elisabeth, von dem Erlebnis des Tages gebrochen und von der Herrin ins Verhör genommen, hatte ihr endlich auch den Zwischenfall mit Anastasia gebeichtet; Frau Pohl und Rosine hatten nachträglich manches zur Aufklärung beitragen können; das frevle Spiel lag ziemlich offen da. Nicht so, was in dem Kind vorgegangen war; da ruhte geheimnisvoll Erschütterndes in unergründlicher Tiefe, wo Josephe auch die eigene Verfehlung suchte, wo sie nach ihrer Schuld forschte und dem Dämon Verfolger gegenüberstand, der nicht mehr nennbar, nicht mehr bezeichenbar war und keines Lebendigen Züge trug. Ihr dünkte, daß sie so mit allem Tun und Sein noch niemals vor das Forum der Geisterwelt getreten war und daß nun eine Entscheidung kommen mußte von rückwirkender und das Künftige umfassender Gültigkeit.

Es war schon elf Uhr, als sie erregtes Sprechen vor ihrem Zimmer vernahm. Nach hastigem Pochen trat Elisabeth ein und hinter ihr ein Mann, ein junger Bauer, den Josephe kannte; Justler hieß er. Elisabeth war nicht fähig zu sagen, was sie von ihm gehört; sie stürzte Josephe zu Füßen und deutete auf Justler. Der berichtete, er habe am Mittag, beim Pflücken von Alpenrosen, ein Kind wie das beschriebene auf dem Berg gesehen, oberhalb der westlichen Alm. Es habe ein braunes Kleid mit weißen Tupfen angehabt, einen großen Strohhut, Sandalen und einen Rucksack. Er habe sich verwundert und das Kind angerufen; es habe sich umgedreht, habe eine Weile geschaut und sei dann weitergegangen. Nach ein paar Minuten habe er es aus dem Gesicht verloren und sich keine Gedanken mehr darüber gemacht; es trieben sich ja oft genug Kinder auf den Almen herum, die Blumen und Beeren holten; nur daß eines zum Kamm aufsteige, besonders in diesen Tagen, wo droben alles in gefährlicher Bewegung sei, hätte ihn stutzig gemacht. Da sei es aber schon zu spät gewesen, sie zu erreichen. Zu Hause habe er es erzählt, am Abend, als er heimgekehrt war; da hätten seine zwei Brüder einander bedenklich angeschaut und gerufen, das sei gewiß die Kleine vom Eckerngut, die überall gesucht werde, und hätten sich sogleich mit Laternen auf den Weg gemacht, um die Belohnung zu verdienen. Und er sei herüber zur Frau Baronin, um die Botschaft zu sagen.

Josephe erhob sich, dachte einige Sekunden nach und fragte den Mann: »Können Sie mich heute nacht noch auf den Berg führen?« Elisabeth sah sie entsetzt an. Justler kratzte sich den Kopf und überlegte. »Es hat keinen Zweck, hier zu sitzen und sich das Herz abzusorgen«, wandte sich Josephe zu Elisabeth; »an Schlaf ist nicht zu denken, so will ich lieber handeln oder mir einreden, daß ich handle. Es soll Ihr Schade nicht sein«, sagte sie zu Justler; »wenn Sie aber zu müde sind, müßt ich mit jemand anderm gehen.« Justler wehrte die Andeutung des Entgelts ein wenig beschämt ab und erklärte, ja, er wolle die Frau Baronin führen. Elisabeth, vor Aufregung blaß, äußerte ungestüm, daß sie natürlich mitgehen werde; wenn Frau Baronin ohne sie gehe, sei es ihr Tod. Josephe schüttelte etwas ungeduldig den Kopf, bat sie, keine Szene zu machen und ruhig zu Hause zu bleiben; Justlers Schutz genüge ihr, durch Elisabeths Begleitung würde nur alles beschwerlicher. »Aber wenn Frau Baronin sich zu stark erschöpft, wenn Frau Baronin zusammenbricht, Frau Baronin sind solche Anstrengungen nicht gewöhnt«, jammerte Elisabeth. Josephe achtete nicht darauf, ersuchte Justler, im Flur unten zu warten und gab Elisabeth Weisung, was sie ihr zum Ankleiden bringen solle. Elisabeth gehorchte und weinte still vor sich hin. »Ich bins, die die Schuld hat«, klagte sie leise, während sie Josephe beim Umziehen half, »ich war die Blinde, ich war die Nachlässige, ich allein hab die Schuld.« Josephe erwiderte: »Niemand hat Schuld, Elisabeth, sprechen wir nicht von Schuld.«

Bevor Josephe aufbrach, besorgte Elisabeth einigen Proviant aus der Küche und übergab ihn Justler. Sie fragte, ob die Almhütten bewirtschaftet seien. Er antwortete, die auf der Westalm stünden noch heil, die andern seien von der Steinlawine zerschmettert oder lägen unter den Felsen begraben; doch gäbe es Unterkunftsgelegenheiten noch überall. Ob kein Unglück durch die Lawine zu befürchten sei, erkundigte sich Elisabeth. Er lachte beruhigend und sagte, er kenne die Wege; aber in der Nacht? wandte Elisabeth ängstlich ein. Er entgegnete, bis er mit der Frau Baronin den Wald hinter sich haben werde, sei die Sonne längst aufgegangen. Dann, durch ein Glas Wein redselig gemacht, erzählte er, daß ihn vor der Parkhecke draußen plötzlich das Fräulein Woytich angesprochen habe; sie sei auf der Bank gesessen und habe ausgesehen wie nicht recht gescheit. Er habe ihr haarklein alles berichten müssen, und kaum daß er damit zu Ende gewesen, sei sie schon wie vom Teufel gejagt davongerannt. Er lachte in der gutmütigwissenden Art, wie alles Volk in der Gegend über Ulrike Woytich lachte. Da kam Josephe die Stiege herunter und er zündete seine Laterne an.

Er schritt voraus, Josephe folgte; zuerst mit Mühe, allmählig aber wurden Muskeln und Gelenke freier. Gesprochen wurde nicht. Es war eine warme Augustnacht. Der Mond war eben über die östlichen Gipfel gestiegen, doch schlüpfte er bald hinter Nebel. Ein schwerer silberner Saum umkränzte die unteren Wolken und zog sich in mannigfach geformten glänzenden Strahlen in den darüber liegenden Stratus. Eine Stunde lang führte der Weg über die Wiesen in gleichmäßigen Hebungen und Senkungen. Alle Farben waren erstickt, Bäume und Strünke starrten schwarz, Gewässer liefen fast lautlos, in weitem Bogen standen die Gebirge mit schlafenden Tälern und Wäldern. Gegen ein Uhr begann der stärkere Anstieg; Josephe stützte sich schwer auf ihren Stock. Bisweilen brach wieder ein Schimmer des Mondes hervor, aber das Gewölk wurde mächtiger und mächtiger und bedeckte den Himmel völlig. Auf der Höhe des Hanges, den sie emporgeklommen, bog sich der Weg in den Wald. Josephe wünschte zu rasten und setzte sich auf kürzlich geschnittenes Holz, das einen scharfen Kräutergeruch verbreitete. Im Wald schrie eintönig ein Käuzchen. Justler sagte: »Der Berg wandert noch.« Josephe antwortete: »Schon lange spürt man, daß etwas vorgeht da oben.« Und sie dachte an Valerians Behauptung, daß auch das Kreisen des Berges, wie er es nannte, durch Katastrophen im Sternenraum hervorgerufen sei.

Dann marschierten sie weiter. Justler hielt sich nun näher bei Josephe und hob die Laterne im ausgestreckten Arm, denn die Finsternis war so dick unter den Bäumen, daß man das Gefühl hatte, sie bleibe einem an den Fingern hängen, und der Weg, kaum einen Fuß breit, zwischen gewaltigen Stämmen und dichtverwachsenem Unterholz fortwährend steigend und fallend, war bald von Steinen übersät, bald durch sumpfige Tümpel unterbrochen, bald von Wurzeln durchzogen, bald mit Brettern belegt, die von der Feuchtigkeit glatt wie Seife waren. Und er nahm kein Ende. Stunde um Stunde gingen sie so, bis er in seinem letzten Teil schroff und beständig anstieg. Einmal blieb Josephe erschrocken stehen. Zwischen den Bäumen lohte eine scharlachrote Brandglut. Justler sagte: »Das ist die Morgenröte.« Und Josephe setzte sich zur Rast ins Moos und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, drang durch die Wipfel graues Tageslicht.

Nachdem sie noch eine Weile gestiegen waren, hörte der Wald jäh auf. Von der unteren Taltiefe bis weit hinan, wo Baumwuchs überhaupt starb, stand er scharfabgeschnitten gegen das kilometerbreite Bett, das sich die Steinlawine gegraben hatte. An den Ufern des unheimlichen steinernen Stromes ragten noch zu Hunderten die Leichen von Tannen, Fichten, Föhren und Lärchen heraus, zersplittert, abgebrochen wie Spreisel, zerbogen im starken Astwerk wie Drahtgeflecht, klaffte überall die braunschwarze Humuserde, krümmten sich die entblößten Wurzeln, aber die zerwühlte Steinstraße hinauf und hinunter zeigte keine Spur des Lebens, auch des zerstörten nicht; der Bach, der ehemals hier geflossen, war verschwunden, kein Tier, kein Halm, kein Moos bis zu den geborstenen und braun und gelb verschrundeten Felsen droben zu gewahren. Gigantische Blöcke und Platten waren der Kraft gefolgt, die sie talwärts gezogen, und wo der Druck von der Mitte aus nach den Seiten gewirkt, waren auch die gewaltigsten Trümmer zu Sand und Staub zermahlen. Ein kaum wahrnehmbarer Pfad führte am Rand in zahllosen Windungen empor, erst seit einiger Zeit von Bauern getreten, die auf den Almen ihr Vieh hatten. Den Berg von der andern Seite zu besteigen, wäre möglich gewesen, erklärte Justler Josephe, aber dann hätte man einen vierfach längeren Weg zurücklegen müssen, um zu der Stelle zu gelangen, wo er das Kind zuletzt gesehen hatte. Die Stelle lag von dem gestürzten Gipfel allerdings ziemlich weit entfernt, doch wenn man von dieser Seite aus, wo sie waren, die Lawine in halber Berghöhe überquerte, hatte man nur noch ein kleines Stück zu steigen, um hin zu gelangen, und gerade von dort aus konnte man das ganze Bild der Zerstörung überschauen.

Josephe blickte in einem Gefühl unsäglicher Ohnmacht hinauf. Dachte sie sich Fanny in dieser Felsenwüstenei weglos, unbekannt mit den Fährnissen und Schrecken einer völlig entherzten, ganz und gar zu Stein gewordenen Natur, vor Abgründen zurückbebend oder zitternd geschmiegt an eine steile Wand, so gefror ihr das Blut und es bedurfte der äußersten Willensanstrengung, um noch Fuß vor Fuß setzen zu können. Justler half ihr nun fast bei jedem Schritt, denn der Weg wurde höchst beschwerlich, und eine Ermattung bemächtigte sich ihrer, der sie sich kaum zu entziehen vermochte. Justler fragte, ob sie nichts zu sich nehmen wolle; sie verneinte; er riet ihr, einen Schluck Kirschwasser aus seiner Flasche zu trinken; sie schlug es aus. Die Sonne, schon hoch im Südosten, brach durch die Nebel, über den südlichen Gebirgen stieg ungeheuer weiß und groß der Gletscher empor; sie hatten sich langsam dem Umkreis der ersten und zuerst verschütteten Alm genähert, da vernahmen sie weittönendes Rufen. Justler lauschte. »Meine Brüder«, murmelte er dann, blieb stehen und spähte aufmerksam. Er erwiderte den Ruf, und die Stimme zerbrach die kristallene Stille so schneidend, daß Josephe Herzklopfen bekam. »Wenn die Frau Baronin noch fünf Minuten weiter gehen will«, sagte Justler, »so kommen wir zu der Sennhütte; eine von den Hütten steht noch aufrecht, bloß ein Stück vom Dach ist abgeschlagen. Da kann sich die Frau Baronin ausruhen, bis ich zurückkomme. Ja, meine Brüder sinds, sie haben uns schon erblickt, von oben, und ich will sehen, warum sie rufen.«

An seinem Arm schleppte sich Josephe nahezu ohnmächtig zur Hütte. Er brachte ihr einen Trunk und stellte einen Imbiß vor sie hin. Mechanisch aß und trank sie, dann sah und hörte sie eine Weile nichts mehr. Es mochte eine halbe Stunde verflossen sein, da dröhnten schwere Schritte durch die Bergstille. Ein Mann erschien im Rahmen der Tür. Er schaute sich um. Ein zweiter folgte ihm. Dieser trug eine Last auf den Armen. Es war ein menschliches Wesen. Es war der Körper von Fanny.

Blutbesudelte und blutverklebte Haare fielen über die Arme des Trägers auf der einen Seit herab, die schlaffen Unterschenkel, an denen die ungenügenden Schuhe in Fetzen hingen, auf der andern. Von der Stirn sickerte Blut, aus dem Mund quoll Blut. Die Augen waren geschlossen. Josephe stand kerzengerade im Raum. Sie wollte die Hände ausstrecken; es ging nicht; sie wollte eine Frage aus der Kehle würgen; es ging nicht. Der Erstgekommene nahm einen Arm voll von dem Heu, das im Winkel lag, und breitete es über die Pritsche, der andere legte das Kind mit aller Behutsamkeit darauf. Er sagte zu Josephe, das Kind sei nicht tot, nur bewußtlos; der andere sagte, sie hätten es auf der Nordwand gefunden; sie hätten nicht begriffen, wie es dahin gekommen sei, jeder Schritt bedeute für den Unerfahrenen den Untergang dort. In seinen Worten lag eine Art nobler Rücksicht, die den Leuten dieser Gegend in jedem Fall von Erprobung eignete. Sie hantierten mit Geschicklichkeit; Krankenschwestern hätten nicht zarter mit dem verunglückten Kind verfahren können. Verbandzeug hatten sie bei sich; jetzt kam auch Josephes Führer und brachte Wasser zum Waschen der Wunden; als Josephe aus ihrer Erstarrung erwachte, war Fannys Kopf bereits eingebunden. Ihr Gesicht war schneeweiß. Aber sie atmete, wenn auch unregelmäßig und in kurzen Stößen. »Es ist nichts Gefährliches, Frau Baronin«, versicherte Justler, der Führer, bewegt von dem Anblick des außerordentlich schönen Geschöpfes, »das kennt unsereiner, daß es nichts Gefährliches ist.«

Nach und nach gewann Josephe ein wenig Besinnung und Ruhe. Sie behorchte das Herz. Es schlug. Sie befühlte die Brust. Die war warm. Sie sagte: »Geht sofort hinunter nach Riednau. Riednau ist ja der nächste Ort. Holt den Arzt und eine Bahre. Wenn ihr zu müde seid, schickt andre. Ohne Beistand des Arztes will ich sie nicht transportieren lassen. Man könnte einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begehen. Ich bitt euch, Leute, eilt, soviel ihr könnt. Hier brauch ich euch nicht. Hier brauch ich niemand. Wasser ist genügend da, das ist gut. Ich bitt euch um Christi willen, eilt euch sehr und legt allen andern Eile ans Herz. Denkt, daß ich mit Qualen warte. Allen Dank für später.«

Sie zögerten noch, ob sie wirklich alle fort sollten, hatten aber das richtige Gefühl, daß die Frau allein zu sein wünschte. Geschehen konnte ihr nichts, helfen konnten sie wenig. So gingen sie. Es war zehn Uhr. Um fünf Uhr nachmittags glaubten sie wieder da sein zu können. Bald waren ihre Stimmen und Schritte verklungen.

Von Zeit zu Zeit erneuerte Josephe die Umschläge. In den Pausen saß sie auf einem Holzbock, weitvornübergebeugt, und preßte den Kopf zwischen den Händen. Bisweilen fuhr über Fannys Körper ein Zucken. Josephe legte ein nasses Tuch auf die Brust. Als sie die wunderbare Haut anrührte, die wie aus flaumigen Blütenblättern gemacht schien, drängte sie ein Aufschluchzen zurück. »Was hast du getan, Fanny?« flüsterte sie; und wieder: »Was hast du getan, du Seele meiner Seele?« Und wieder: »Warum denn? warum denn?« Da das Blut an der Stirn zu fließen aufhörte und das kalte Wasser immer ein Aufseufzen und leises Wimmern hervorrief, ließ Josephe den Umschlag längere Zeit liegen. Und sie kauerte auf dem Holzbock, den Kopf zwischen den Händen, regungslos, gleichsam uralt, und lauschte von ganz innen her dem gewaltigen und erhabenen Schweigen des Berges.

Zwei Stunden mochten so vergangen sein, da fiel ein Schatten auf die Schwelle und ein müd schleppender Schritt war vernehmbar. Als Josephe emporblickte, stand Ulrike Woytich vor ihr. Ihr Gesicht war ähnlich einem der Felsstücke draußen, so grau und verwittert; ihr Rock war zerfetzt, ihre Schuhe waren durchlöchert, ihre Hände hatten Rißwunden, und sie schwankte. Bei ihrem mühseligen, viele Stunden dauernden Aufstieg war sie den Brüdern Justler begegnet, die hatten ihr berichtet, daß und wie sie Fanny gefunden und hatten ihr Weg und Richtung gewiesen. Im übrigen war sie von früheren Jahren her mit dem Berg vertraut.

Sie lehnte sich an die hölzerne Wand und schaute verstört. Josephe, das Gesicht ihr zugekehrt, betrachtete sie stumm. In Sitzhöhe lief ein Balken an der Wand entlang, auf den ließ sich Ulrike tief erschöpft nieder und heftete den entgeisterten Blick auf die Pritsche, wo Fanny lag. So saßen sich die beiden Frauen lange wortlos gegenüber wie zwei Wölfinnen, die sich in der Steppe begegnet sind.

Da sagte Ulrike mit heiserer Stimme: »Geben Sies heraus, das Menschlein; Sie müssen das Menschlein herausgeben, Josephe.«

Josephe erwiderte tonlos: »Jemand spricht mit mir, den ich nicht kenne.«

Ulrike sagte: »Geben Sie das Menschlein her, Josephe. Da nützt kein Hochmut und kein Eigensinn, das Menschlein darf bei Ihnen nicht bleiben.«

»Die Person, die mit mir spricht, ist offenbar nicht mehr bei Verstand«, sagte Josephe finster.

»Bei Verstand oder nicht bei Verstand, das Menschlein müssen Sie hergeben«, beharrte Ulrike in stiller Raserei.

Da antwortete Josephe mit eisiger Bitterkeit: »Dann geben Sie mir erst mein Leben wieder zurück, Ulrike Woytich.«

Ulrike glotzte verständnislos, dann lachte sie gellend. Es war ein schreckliches Lachen. Das Lachen reißt den Menschen auf und zeigt seine Schätze oder seine Schwärze.

Josephe fuhr dumpf-gelassen fort: »Mein Leben; das ist es, was ich von Ihnen fordern kann. Mein Leben, das Sie zertreten haben, in den Kot geworfen, an die Hölle verkauft, mit aller Schmach, die die Menschenwelt aufweist, bedeckt haben. Versuchen Sie einmal, ob Sie es mir zurückgeben können, jetzt, dicht vor der Pforte, durch die wir beide bald schreiten müssen. Und wenn Sie darauf keine Antwort wissen, so wäre es besser und menschlicher, Sie schwiegen, Ulrike; Sie schwiegen bis in den Tod.«

»Versteh von alledem keine Silbe«, murmelte Ulrike; »oder soll damit etwa gesagt sein, daß die wohlgemeinte Ehestiftung zwischen der Demoiselle Mylius und dem weiland Sieur Melander ein solches Unglück gewesen sein soll? Larifari. Denk ichs doch kaum mehr. Aufgewärmter Kohl von anno Tobak. Was kommen Sie mir damit? Mir gehts nur um eins, Herrgott des Himmels, nur um eins.« Die letzten Worte stieß sie in fanatischer Wildheit heraus und bedeckte die Augen mit der Hand.

Josephe wies herrisch-mahnend gegen Fannys Lager. Sie erhob sich, schaute bang in das Gesicht des Kindes und setzte sich wieder. »Sie denken es kaum mehr, das glaub ich«, begann sie blicklos und mit einer Stimme, als hielte sie ein Selbstgespräch. »Das weiß ich, daß Sie es längst nicht mehr denken. Kein Lebender denkt es mehr. Aber wie es noch webt und wirkt und seine finstern Wellen wirft bis in diese Stunde! Wir sind hier in einer sonderbaren Einsamkeit, Ulrike Woytich, und näher bei Gottes Thron, wenn man so will, als wir beide jemals waren oder Menschen für gewöhnlich sind. Und dort liegt das teuerste und kostbarste Gut, das mir das Schicksal, seit ich von Schicksal einen Hauch in meinem Herzen und Bewußtsein spüre, anvertraut hat. Wir können noch nicht sagen, wir können nur hoffen, daß dies neue und noch blutende Unheil nicht ein neues, nicht das letzte Opfer sein muß, das ich zur Sühne zu bringen habe. Das letzte; denn darnach gäbs keines mehr. Aus diesen Gründen, Ulrike, und weil ich ahne, was mit Ihnen geschehen ist und geschieht, bin ich willens zu tun, was ich noch niemals getan, und zu sprechen, was noch niemals über meine Lippen gekommen ist. Vielleicht verstehen Sie dann. Vielleicht fangen Sie dann an, es zu denken.«

Ulrike rührte sich nicht. Betroffen von der Hoheit in Ton und Haltung Josephes lauschte sie mit gerunzelter Stirn.

Josephe fuhr fort: »Sie waren ja die Urheberin. Sie waren ja stolz auf Ihr Werk. So mögen Sie auch erfahren, wie es beschaffen war, dieses Werk. Ulrike Woytich hat ihn ja entdeckt, den Menschen aus Stahl, den Menschen aus Wachs, den, der immer so war, wie er sich brauchte. Wenn die mir am feindlichsten, die mich am unversöhnlichsten hassenden Lebensmächte sich bei meiner Geburt verschworen hätten, wie sie Josephe Mylius am sichersten vernichten und von Glück und Freude abschnüren sollten, so mußten sie mir diesen Mann zuführen. Als Gefährten diesen Mann. Es war ein Erkennen Schritt um Schritt. Als ich in der Verzweiflung darüber, daß ich die Mutter, die Liebe der Mutter verloren, das Jawort, gegeben hatte, war nur die Ahnung von dem, was ich tat, in mir; das eigentliche Gewahrwerden kam dann in tödlich langsamer Folge. Und wessen wurde ich gewahr? was sah ich? Die Lüge in Person. Die schlüpfrige, unnahbare, unfaßbare, unbeweisbare, sich selbst vergötternde und von der Welt nie gewußte Lüge. Freund des Volkes? Lüge. Redlicher Diener des Staats? Lüge. Makelloser Betrüger? Lüge. Nachsichtiger Gebieter? Lüge. Musterhafter Vater und Gatte? Lüge. Er hatte nur einen einzigen, unbezwingbaren Bundesgenossen, einen Helfer, der alle Lügen in einer aufrechterhielt und sein wahres Wesen undurchdringlich und unauffindbar machte, das war sein Lächeln. Niemals gab es ein Lächeln, es kann nicht sein, daß etwas Ähnliches je existiert hat, Lächeln, das so entgegenkommend, so freundlich, so geistreich, so zartsinnig, so verstehend, so mitleidig, so sanft war, je nach Bedürfnis so war wie seines. Ich aber habe sein Gesicht ohne das Lächeln gesehen. Es gibt Menschen, von denen man sagt, daß ihre unbedingtesten Anhänger und ergebensten Freunde bis ins Mark vor ihnen erschrecken würden, wenn sie sie nackt sähen. Ich habe Eduard Melander ohne sein Lächeln gesehen. Da standen die Zwecke deutlich lesbar auf seinem Gesicht geschrieben, die Brutalität ohne Scham, die Geringschätzung alles Übereinkommens, die Kälte des Gemüts, die Entschlossenheit zum Ziel, die ruchlose Selbstgefälligkeit, der glühende Haß gegen Widersacher und das vollkommene Nichtwissen und Abtun von göttlichen Dingen. Wie mir da zumute war; wie mir die Sinne verwelkten und die Farbe der Welt hinschwand und ich mir selber zum Schatten wurde! Aber das alles war ja nur der Beginn. Das Zusammenleben mit einem Menschen besteht aus vielen Stunden vieler Tage und der Prozeß der Erfahrung ist quälend langwierig. Enttäuschung nach Enttäuschung, Bitterkeit zu Bitterkeit, Hieb auf Hieb. Bis Sehen zum Wissen wird und Wissen zum Bild, das nicht mehr trügen kann, ist der edelste Teil der Kräfte verbraucht, und die Wege, die die Hoffnung oder die Verzweiflung anfangs noch für benutzbar gehalten hat, sind eines Tages verrammelt. Eine Ehe, wie ich sie geführt habe, macht eine Frau zum einsamsten Wesen der Schöpfung. Sie ist gesichert, sie ist reich, sie genießt Ehre, sie wird beneidet; wer vermöchte zu glauben, zu denken, daß sie sich als die Ausgestoßenste ihres Geschlechts fühlt, verraten und verloren im Kern ihres Leibes und der Seele? unrettbar mit dem einmaligen Leben verloren? Er? Was wußte er von mir außer meinen Namen? Vielleicht nur das eine, daß ich ihn ohne sein Lächeln kannte. Das verzieh er niemals. Mir entgegenzuwirken war Gesetz in ihm, das Gesetz seiner Natur. So entkleidete er sich nach und nach, enthüllte sich ganz. War ich nun schon eingeweiht, so sollten mir auch keine Illusionen bleiben. Das Gute, das ich wollte, billigte er und bewilligte er, um es heimlich zu hintertreiben. Die Generosität, die er vor der Welt zur Schau trug, verwandelte sich zwischen vier Wänden in berechnenden, höhnischen Geiz. Die Ehrerbietung, die er mir vor andern erwies, wurde eiskalter Spott, wenn ich Aug in Auge mit ihm war. Die Menschen, die zu achten ich Grund hatte, verleumdete er derart geschickt, daß mich Ekel vor ihnen ergriff. Was ich bewunderte, war ihm ein Greuel, wovor ich mich beugte, das bespie und beschmutzte er, und alles woran ich hing, das unterhöhlte er, so daß es aus Niet und Bindung ging, wenn ich danach fassen wollte. Die Ideale, für die er anscheinend kämpfte und für die er öffentlich mit Pathos und Leidenschaft in die Schranken trat, waren ihm ein Gegenstand der Belustigung und des Hohns mir gegenüber. Wenn er mich demütigen wollte, zerlegte er spöttisch das Uhrwerk der Welt, die er beherrschte und der er schmeichelte. Keinen schonte er, keiner blieb ungezüchtigt und unverdächtig, und wo er am hingegebensten schien, verachtete er am tiefsten. Er machte aus der Politik ein Glücksspiel, aus dem Patriotismus ein Geschäft, aus der Religion einen Massenbetrug, aus der Freundschaft ein Gelächter, behängte alles dies mit den Kleidern der Loyalität, der Aufopferung, der Treue, der Ehre, der Mannhaftigkeit und der sittlichen Würde, um es zu gleicher Zeit und vor meinen gepeinigten Augen aus der Hülle zu schälen und mir den wurmzerfressenen Kern zu weisen. Nur vor meinen, nur allein vor meinen. Es trieb ihn rätselhaft und mit den Jahren immer mehr, vor mir jede Scham und Scheu fallen zu lassen, vielleicht um mich zu strafen dafür, michs bis zur untersten Stufe der Vergeltung spüren zu machen, daß ich nicht blind war wie seine Kreaturen, wie seine Getäuschten, nicht blind sein konnte und es nun einmal geschehen war, daß ich den Zipfel des Schleiers gelüpft hatte, der sein Gesicht verbarg. Er schuf mir das Dasein zur Hölle, solang ich kinderlos war; er schuf es mir zur Aberhölle, als ich den Sohn geboren hatte. Er ignorierte diesen Sohn, solang er nur ein Spielzeug für Weiber war, wie er sich ausdrückte, und er kümmerte sich nicht um ihn, als er zum Verbrecher heranwuchs. Er sagte, die Fortdauer des Namens Melander sei höchstens geeignet, das Bild seiner Persönlichkeit zu trüben, laufe also seinem Interesse zuwider. Denn er galt sich als ein Repräsentant der Zeit; er hielt sich für das letzte und wichtigste Glied einer Entwicklung und nach ihm, so behauptete er, käme der Untergang. Das verlieh ihm sein Machtgefühl, seine Härte und seine beispiellose Skrupellosigkeit. Er ließ Bilder von sich malen und Statuen von sich meißeln, ohne dessen müde zu werden, und alle diese Bilder und Statuen hatten das nämliche bezaubernde Lächeln, die männliche gewinnend-gütige Miene. Daß ich, die bis zu ihrem achtzehnten Jahr gewähnt hatte, in Gottes besonderer Hut zu stehen, unauflöslich gebunden war an den Mann, der von Gott nur erfuhr, wenn er das Protektorat über eine Kirchenbaulotterie annahm, und sonst sich eine Welt der Dinge und der Sinne nach Willkür und Gutdünken einrichtete und mir den Glauben zerbrach, wie er mir die Seele durch seine bloße Existenz schon zerbrach, habe ich frühzeitig als Fügung betrachten gelernt. Ich sage: unauflöslich gebunden; denn hätte er mir auch die Freiheit gegeben, woran er niemals dachte, weil ihm mein Vermögen so unentbehrlich war wie meine Kenntnis seiner Person und geheimen Absichten und Beschaffenheit gefährlich; hätte ich sie mir auch erzwingen wollen, was er mit allen ihm verliehenen Machtmitteln verhindert und durch erbarmungslose Verfolgungen gerächt hätte: was hätte mir denn diese Freiheit wert sein sollen? wozu hätte sie mir dienen sollen? was war ich mir selber denn noch wert? Kann man zwei Leben hintereinander führen? Ich hatte nur eins, und dies war zerstört seit dem Tag, wo ich an seinem Arm zum Altar getreten war, und seit der Nacht, wo ich mit meinen Zähnen das Kopfkissen zerbissen habe. Erfahrungen sind entweder im Blut und im Geist, was sie sind, oder man hat sie überhaupt nicht gemacht. Man kann nicht nach Belieben was anderes betreiben, wenn man nur eines zu treiben vermag und das verwehrt worden ist: sich selber hinschenken und in diesem Bewußtsein dienen. Und so kam es, daß ich die Tage und die Monate und die Jahre durchgelebt habe, mit der Lüge an meiner Seite, der vollendeten geprägten unerkannten teuflischen Lüge, mit der getäuschten und genarrten Welt vor meiner Stirn und mit der Sünde und der Erniedrigung in mir drinnen. So ging es, bis er starb. Er starb in den Armen einer Dirne; bei der ist er gewesen nach einem Festmahl der ethischen Gesellschaft, deren Gründer und Ehrenpräsident er war. Es wurde vertuscht, und er blieb auch im Tod noch der Allbeliebte, der Gepriesene, das Muster der Tugend und der Wohltäter der Nation. Und ich habe wieder Tage und Monate und Jahre und Jahrzehnte durchgelebt, und die Lüge blieb an meiner Seite, die betrogene Welt vor meinem Aug, die Sünde in meiner Brust. Der Tod nimmt nichts weg, er macht nur die Form endgültig, und was er mir an Leben zurückgelassen hat, das war Lügenleben, Lügentat und Lügensaat.«

Sie verstummte. Draußen dröhnte ein herabstürzender Felsblock. Ein Bergfink ließ sich erschrocken zwitschernd auf den Sparren des zerschmetterten Daches nieder.

Nach einem schier ewigen Schweigen erhob sich Ulrike und stotterte kinnladenmahlend, mit gehässig-scheuem Blick: »Alte Geschichten. Alte vergangene Geschichten.«

Josephe gab keine Antwort.

Da machte Ulrike eine Bewegung gegen die Pritsche, streckte die Hand aus und keuchte: »Aber da … das da … das Kind … gilt das nicht? ist das keine Entschädigung? soll das aus der Welt fortgeleugnet werden?«

Josephe verstellte ihr mit einem Sprung den Weg und sagte drohend: »Hieher gehst du mir nicht! Eben weil das da gilt! Weil nichts sonst gilt! Keinen Schritt weiter! Einmal laß etwas heilig und unangetastet sein in deinem Leben, Ulrike Woytich!«

Ulrikes Augen glimmten fahl und den Kopf wie eine Schwachsinnige von einer Seite zur andern werfend brachte sie gurgelnd hervor: »Ich muß zu dem Menschlein! Weich aus, Josephe, oder es gibt ein Unglück. Zu dem Menschlein will ich!«

»Was solls?« fragte Josephe hochaufgerichtet.

»Was es soll?« fragte Ulrike außer sich zurück; »ich denk mir, es soll bei dir verkümmern. Ohne Namen und Erbteil solls verkommen, das solls, denk ich mir, das hast du im Sinn.«

Josephe lächelte. Und dieses Lächeln hatte einen solchen Ausdruck verwunderten Erbarmens, daß Ulrike, wie geschlagen davon, den Kopf senkte. Dann aber bemächtigte sich ihrer die unselige Leidenschaft von neuem, und sie ging auf Josephe zu, als habe sie die Absicht, sie von der Stelle zu reißen, wo sie stand.

»Was solls?« fragte Josephe wiederum.

»Mein süßes Fannylein will ich küssen!« kreischte Ulrike auf.

»Nicht in die Nähe eines Hauches!« erwiderte Josephe, starr wie ein Erzengel.

»Aber ich hab mein süßes Fannylein lieb«, heulte Ulrike wie von Sinnen; »ich habs lieb, und es soll mich auch liebhaben.«

»Willst dus denn zwingen?« rief Josephe mit flammenden Blicken; »immer und immer wieder zwingen? hast du denn noch nicht begriffen, daß man das nicht zwingen kann? Das kann man nicht erwerben, das kann man nicht erkaufen, das kann man nicht erschmeicheln, das kann man nicht bezahlen. Das ist Gnade. Weißt du es denn noch immer nicht, du Wollerin, du Verderberin?«

Mit schlotternden Knien, den Mund halb geöffnet, die wirren steifen Haare mit verlorener Gebärde mehrere Male von Wangen und Stirn streichend, stand Ulrike vor Josephe da, stand da vor der hölzernen Pritsche, wie vor einem Tor, durch das ihr der Eingang unerbittlich verwehrt war. Sie drehte sich um und schaute in die klirrende Mittagsöde des Berges hinaus; sie hob den Kopf und schaute durch das geborstene Dach gegen den Himmel; dann wiegte sie sich seltsam in den Hüften und flüsterte fragend, kaum vernehmlich, mit gerunzelter Stirn: »Gnade? wieso denn Gnade? das ist doch bloß ein frommes Wischiwaschi: Gnade. Wieso denn Gnade?«

Josephe nickte schwer und wiederholte: »Ja, Gnade. Alles Lieben und Geliebtwerden ist Gnade. Ihr habt es nur vergessen, ihr Menschen. Ihr habt es nur verlernt. Selber habt ihr euch ausgestoßen aus der Gnade. Sieh doch, Ulrike, wie es gegangen ist mit dir. Schau doch zurück, einen einzigen Blick wirf zurück. Tumult und Hast und Lärm, das war dein Leben. Immer hast du bloß gewollt, immer hast du gewußt. Wo aber bist du gewesen? wo war indessen dein Sein? Nirgends bist du gewesen. Niemals bist du gewesen. Deine Sucht, ja, die ist gewesen, deine Gier, deine List, dein Wahn und augenloser Trieb; deine Angst um Dinge, dein Götzendienst vor den Sachen, die sind gewesen, du aber nicht. Und nach alledem kommst du daher in der Stunde der Entscheidung und willst einen Menschen haben, eine Seele haben, ein Herz haben, Liebe haben? Liebe kann man nicht haben, Liebe muß sein.«

Ulrike preßte die Lippen zusammen. Ihre Hände zitterten. »Und wenn es selbst entscheidet, das Menschlein, selbst zwischen mir und dir entscheidet?« fragte sie mit einem furchtbaren und trostlosen Lauern im Blick.

Josephe schaute sie an und erkannte, daß Wort zu Wort um Weltenweite nicht traf. Ihr war, als schaue sie in einen bodenlosen Abgrund. Aber als sie schaudernd sich davon abwenden wollte, erfaßte sie der Jammer der Kreatur und sie verhüllte ihr Gesicht. Da war hinter ihr eine Bewegung, und als sie sich umkehrte, lag Fanny mit großaufgeschlagenen Augen da und lächelte sie matt und noch wie betäubt an. Unwillkürlich beugte sie sich herab, und das Kind schlang in herzgelöster Hingabe die Arme um ihren Hals und schmiegte den freudigbebenden Körper drängender und immer drängender an ihre Brust.

Als Ulrike dieses sah, wandte sie sich still und ging.

Die machtvolle Sonne des Berges blendete sie, und statt auf dem Pfad zurückzugehen, den sie gekommen, lenkte sie ihre strauchelnden Schritte in die Ödnis empor. Ziemlich weit oben setzte sie sich auf einen Block und starrte regungslos vor sich hin. Es dauerte viele Stunden, ehe sie sich wieder erhob, um weiter zu wandern. Sie irrte zwischen den Felsen herum und blickte tierhaft erstaunt über die unermeßliche Trümmerstätte, die Spalten im Urgestein, die Bäche goldgelben Gerölls, die eisgrauen Granitnadeln, die auseinandergerissene Haut des Gebirges. Immerfort ziellos irrend verließ sie abermals nach Stunden die Region des Grauens, und neben einer verdorrten Lärche rastend, öffnete sich ihr unvermutet der Ausblick in die Weite und Tiefe. Da lag das Tal vor ihr in seinen Stufungen, die friedlichen Wege, die Häuser, die Kirchen mit ihren Türmen, all das Grün und Blau und Rot und Grau, die Bäume, das Wasser, das Leben, der Tod, die ganze Traurigkeit und Fröhlichkeit der abendlich werdenden Welt.

 

– Ende –

 


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