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Die Gäste auf Eckern

Als der erste Schritt getan war, bewirkt von der Gewalt eines Augenblicks, der sie wehrlos fand und ihre an das Kind gerichteten Worte eigenwillig befehligt hatte, erwartete Josephe die weitere Entwicklung mit aller ihr innewohnenden Angst. Da ihr jede Beschwichtigung der Angst als Täuschung von außen oder innen erschien, war sie doppelt wachsam und vertraute nur zögernd dem, was sie sah und hörte.

Sie lächelte freundlich, wenn sie mit Fanny sprach, dabei lauschte sie angespannt auf jeden Ton oder Halbton in des Kindes Stimme, ja, horchte der Stimme noch argwöhnisch nach, wenn sie verklungen war. Gebärde, Haltung, Gang und Miene konnten keiner eindringlicheren Prüfung unterworfen werden, als sie sie vornahm, und sie war so streng gegen sich selbst und die Stichhaltigkeit ihrer Beobachtung wie unerbittlich in bezug auf das Kind.

Es war in ihr eine schmerzhafte Überempfindlichkeit gegen alles Hohle; die leiseste Schwingung davon bereitete ihr ein körperliches Leiden. Sie hatte die Menschen so wenig wahr erfunden; bis in die Augensterne hinein so angefault von Zwecksucht und Verstellung alle; sie konnte schwer glauben. So oft hatten sich die unschuldigsten Züge vor ihr mit dem Rost der Lüge überzogen; so oft, wenn Vorteil winkte, hatte sie Hände sich beflecken und falsches Spiel spielen sehen, an deren Reinheit sich kein Verdacht gewagt; sie aber hatte geschwiegen und lieber das verlachte Opfer sein wollen, als daß sie die Pein auf sich genommen hätte, das listige Gewebe aufzudecken und den, der es geknüpft, zu beschämen.

Mit freundlichem Lächeln gegen Lügner und Lügnerinnen war sie grau geworden. Ihre Erfahrungen waren bitter. Und solch ein Kind, wie lieblich es auch anzuschauen war, was konnte es nicht alles in sich tragen vom Gift der Welt. Man wußte nichts von den Stuben, in denen es geweilt, und von den Gesichtern, in die es geblickt, und von den Worten, die es gehört. Seelen sind wie Schwämme; sie saugen das Häßliche des Lebens auf, und preßt sie dann die Faust des Schicksals, so quillt verpestete Lauge aus ihnen. Sie hatte es erfahren. Das Unwahrscheinliche hatte sich da bisweilen erfüllt.

Doch mit wie unnachsichtigem, wenn auch tiefheimlichem Blick sie das Tun und Treiben Fannys verfolgte, sie fand kein Arg und Böses an ihr. Es war stets das gleiche Bild fröhlicher Geschäftigkeit, das sie darbot, ein in Fragen und Sichwundern, in Lust und schöner Bewegung entfaltetes Wesen. Sie hatte, in der Stadtwohnung noch, ein kleines Gemach für sich erhalten, und das Glück, das sie darüber äußerte, hatte Josephe trotz ihres Willens zum Widerstreben wie eine unbekannte Musik berührt. Jeden Gegenstand nahm sie in die Hand, alles bestaunte sie, redete die toten Sachen zärtlich an, schaute wieder und wieder wie trunken um sich, und als sie eines Abends im Bett lag, haschte sie nach Elisabeths Hand und fragte, ob das alles auch wirklich wahr sei. Was sollte man darauf antworten? War es wahr, weil es greifbar war? oder Schein, weil es nur für dieses Kind so viel bedeutete? So dachte Josephe, die mit gesenktem Haupt an der Tür stand.

Sie war gegen alle Leute im Haus gefällig und sprach mit ihnen in der ihr natürlichen Weise, von dem würdigen Kasimir angefangen bis zu dem schmutzigen Küchenmädchen. Sie kannte nicht den Unterschied zwischen Befehlenden und Dienenden, und wenn er augenfällig wurde, wunderte sie sich bloß und nahm ihn für ihre Person nicht an. Dieser bis zur Feinheit ausgebildete Zug übte eine unmittelbar gewinnende Wirkung; die Folge davon war, daß alle im Haus Angestellten sie am ersten Tag lobten, am zweiten liebten, am dritten verwöhnten und ihr jeden Wunsch von den Augen absahen. Seit sie da war, dünkte es ihnen, als sei in die dunklen Korridore Helligkeit gedrungen und als harrten die verschloßenen Säle darauf, daß wieder festliche Lichter in ihnen angezündet würden. Es genügte schon, daß in den gar zu ernsthaften Räumen ein Geschöpf herumging, welches lachte, mit Mund und Herz lachte, und die Schwülnis einer Welt, die sie insgesamt zu ersticken drohte, wich für die Dauer des ungewohnten Schalls und seines Nachklangs.

Aber Josephes Argwohn blieb. Ihr anmerken konnte ihn niemand, auch Elisabeth nicht; vielleicht, daß Fanny selbst ihn manchmal spürte; ein ungewiß flimmernder Blick des Kindes bezeugte es, und oft wenn Fanny das Wort an sie richtete, geschah es zaghafter als bei andern. Josephe konnte nicht vergessen und nicht verwinden; das Unheil lag im Gedächtnis wie ewige Krankheit; sie konnte nicht davon abstehen, die Züge des Vaters und des Großvaters in diesem Antlitz zu suchen, und die Furcht vor einer Bestätigung der Furcht griff sie physisch so sehr an, daß sie, von schwerer Migräne befallen, einige Tage vor der festgesetzten Reise nach Eckern bettlägerig wurde. Qualvoll bohrte der eine Gedanke: ist es möglich, daß das Blut jenes Bösen, das ihm eingeboren ist, nicht weiterträgt ins dritte und ins zweite Glied? kann Melandersches Blut das Böse von sich tun, auslöschen und verwandeln, oder ist nicht bloß Trug und Verführung, was so scheint?

Sie hätte den Herrgott bedrängen mögen mit der Frage; sie hätte den Himmel aufreißen mögen, um sich Antwort zu verschaffen; denn Menschen konnten sie ihr nicht geben.

Da geschah etwas, das ihr Gemüt jählings umstimmte und der Anlaß war ein geringer. Es war spät am Vormittag, der Arzt war dagewesen, die Schmerzen im Kopf waren kaum erträglich. Elisabeth huschte ins Zimmer, besten Gardinen fest zugezogen waren, so daß tiefe Dämmerung herrschte; sie erkundigte sich, ob die Frau Baronin ein Begehren habe und ob es noch nicht bester gehe. Josephe hatte die Augen geschlossen, ihre bleichen Hände waren auf der blauen Atlasdecke leblos hingebreitet. »Sagen Sie doch Ilka draußen, daß sie keinen solchen Lärm beim Abstauben macht«, flüsterte sie gequält; »wenn sie nur ein wenig geräuschloser hantieren könnte.«

»Ich habe es ihr schon hundertmal gesagt, Frau Baronin. Ich werde veranlassen, daß sie mit der Arbeit aufhört.«

Ein Dialog, der seit drei Tagen mit denselben Worten geführt wurde, und Elisabeth ging, um das Getöse, nicht viel lauter übrigens als das Scharren einer Maus, abzustellen. Kurze Zeit, nachdem sie hinausgegangen war, den Raum erfüllte düstere Ruhe, öffnete sich eine andere, die kleine Tapetentür, und herein kam Fanny. Sie sah sich großäugig um, sie konnte in der Dunkelheit nichts unterscheiden und ging auf Zehen, trotzdem ein dicker Teppich die Schritte dämpfte, auf das Bett zu. Sie setzte sich dort auf einen Schemel und schwieg. Schweigend saß sie und hielt die Hände im Schoß. Josephe gewahrte sie erst nach einer geraumen Weile, obschon ihr Kopf sehr erhöht lag; sie hatte die Augen geschlossen gehabt, und das Kind war vollkommen lautlos erschienen. »Guten Morgen, Fanny«, flüsterte sie. »Guten Morgen Frau Baronin«, antwortete das Kind. »Willst du etwas? Hat dich wer geschickt?« fragte Josephe mit angestrengter Stimme, denn jedes Wort tat ihr einzeln weh. »Nein«, war die helle Erwiderung, »ich wollte nur sehen, wie es dir geht, Frau Baronin.« Josephe lächelte ein wenig, denn dieses Du in Verbindung mit dem Titel war doch seltsam drollig. Sie hatte nicht erlaubt, daß man es ihr abgewöhne; sie wollte alles maßregelnde Erziehen vermeiden und vorläufig abwarten, wie sich die Natur des Kindes der Umgebung selbsttätig anpaßte. Das schien ihr das beste.

Es verging nun wieder eine Weile, da begann Fanny von ihren kleinen Erlebnissen im Hause zu erzählen, ganz vor sich hin eigentlich, mit einem umflorten Stimmchen, und in behutsamer Rücksicht alle starken Betonungen unterlassend. Sie schilderte ein Gespräch mit Kasimir; dann die erste Stunde bei dem Lehrer, den man für sie aufgenommen und der ihr gefiel, weil er so viel Geschichten wußte; dann von einem komischen Streit mit Elisabeth, die behauptet hatte, sie könne ihr zehn Minuten in die Augen sehen, ohne zu lachen, während sie bereits nach einer halben innerlich geprustet und die Lippen krampfhaft geschlossen habe; ferner von einem Hund, den sie in Yverdon gekannt, und der die Türen im Haus nicht nur geöffnet, sondern auch ordentlich wieder zugemacht habe; dann: was sie sich ausdenke, wenn sie abends im Bett liege und nicht gleich einschlafen könne; daß sie mit ihren Händen Schattenbilder an der Wand hervorzubringen vermöge, zum Beispiel ein Kamel mit einem Höcker und eine Gans mit offenem Schnabel; daß sie manchmal darüber nachsinne, wie es sei, wenn man sterbe; ob die Welt dann noch da sei oder nicht; daß sie früher geglaubt habe, jeder Tote bekäme einen Stern vom Himmel mit in sein Grab und der Himmel sei nur ein riesiger Spiegel von all den Sternen unter der Erde.

Sie stellte keine Fragen, aus Schonung und Bedacht; sie wollte offensichtlich die Kranke zerstreuen, darum verweilte sie bei keinem Gegenstand. Es war ein kunterbuntes Geplauder, unverbindlich und mühelos, wie wenn man einen Korb lustiger kleiner Blumen ausschüttet, und es pulste Leben darin, Fühlen, Schauen. Es war eine richtige geordnete, gut regierte Miniaturwelt mit den Erfahrungen aus erster Hand, und jedes Wort war so wunderlich neu, als wäre es noch nie in einem Menschenmund gewesen. Wenn sie Himmel sagte, war es der wirkliche unendliche Himmel, und wenn sie Traum sagte, hatte es etwas sehr Geheimnisvolles zu bedeuten und war nicht ein abgeriebenes und zerkautes Ding. Wie schön und unschuldig das noch war, wie nahe das Wort seinem Sinn und seinem Bild!

Und als Josephe so zuhörte und zuhörte, milderte sich die Spannung ihrer Nerven mehr und mehr; der eiserne Druck wich von der Schädeldecke, und das marternde Sausen in den Ohren verging. Eine glückliche stumme Verwunderung nahm von ihr Besitz; sie atmete leichter; sie beugte den Oberkörper ein wenig aus den Kissen, stützte den Kopf auf den Arm und lauschte, lauschte; und wie sie die Augen auftat zu einem neuen Blick, so tat sich das Herz auf. Von dieser Stunde an war Fanny eine andere Gestalt für sie; von dieser Stunde an begann sie sie zu lieben.

Aber das war etwas, wofür ihr Begriff und Umschreibung fehlte. Es überfiel sie mit erschütternder Gewalt. Es war wie das Erwachen des Siebenschläfers, der eine Welt verwandelt findet und die Sprache der Menschen nicht mehr versteht. Man hatte davon gehört, man hatte davon gelesen, man hatte davon gewußt; man hatte es hingenommen als eine der zahllosen Formeln aus der Sphäre des Übereinkommens und der Verträge, mit einem Inhalt von unbekannten Freuden, die zu teilen und zu spüren sie längst verzichtet hatte. Da so viele an die Existenz dieser Liebe glaubten und so viele auf die eine oder andere Weise sogar das Leben damit erfüllten, so hatte sie auch daran geglaubt; mehr war es nicht gewesen. Mit achtzehn Jahren hatte sie die Mutter verloren, den Menschen, den allein sie geliebt hatte. Aber die Josephe, die am Sarg der Mutter geweint hatte, war schon eine ganz andere gewesen, keine liebende mehr. Nichts hatte sie zurückbehalten aus ihrer Jugend, nichts herübergerettet als einen wandelnden Leichnam. Dreieinhalb Jahrzehnte befohlener Weg, fühlloses Tun, würgende Last, schleppende Qual, Verdorrung und grenzenlose Vereinsamung. Sie hatte vergeßen, daß es Liebe gibt. Das Gefäß der Liebe war zersprungen, der Inhalt ausgeronnen, die Scherben vom Walzwerk der Jahre zermahlen. Nicht Mann, nicht Weib, die Liebe von ihr empfangen, ihr Liebe geboten hatten oder nur Antrieb und Wunsch dazu; kein betrauertes oder umkränztes Bild der Liebe hing in den durchschrittenen Räumen; Dürre des unfruchtbaren Tags hingegen und Schrecken der verhärmten Nacht.

Auf einmal war Liebe da. Manna, das aus der Höhe fiel. Wunderquell, der aus dem Stein sprang. Aber die ausnehmenden Kräfte von Josephes Natur waren so tief hineingedrängt und hinabgezwungen in innerste Schächte, daß sie nicht mehr emporzulangen wagten und sich mit staunender und furchtsamer Stummheit begnügten. Nur kein Zeichen geben; nur sich nicht verraten; jedes Greifenwollen nach der Frucht konnte Enttäuschung werden. Sich verschließen; sich abwenden und verbergen; und daß die Hand nicht zuckte und daß das Auge nicht aufglühte. Das war das starre Verbot, das sich Josephe setzte und das durch keine Fülle, keine Flamme und keine Erscheinung zu brechen war. Hinter allem die Furcht; das Grauenvolle der erlebten und gewußten Welt; Furcht vor erwidertem Gefühl und Furcht vor nicht erwidertem; Furcht vor der Zärtlichkeit und Furcht vor der Frage; Furcht vor der Erinnerung und Furcht vor der Zukunft. Unbefreibar Gebundene.

Doch umgab sie das Kind mit vermehrter Sorgfalt. Elisabeth, die jedes Hellerwerdens in dem Verhältnis inne wurde, war zufrieden. Sie zeigte es, und Josephe wurde nervös und zog sich still zurück, wenn Elisabeth begierig darauf wartete, daß sie ein gutes Wort über Fanny sagen sollte.

Bei der Übersiedlung nach Eckern war Fanny von unbändiger Lebendigkeit. Die zahllosen Kisten und Koffer erregten ihre laute Verwunderung, die Unruhe im Haus erschien ihr als etwas Festliches und ihr Gesicht war von früh bis abends so gespannt, als erwarte sie den überraschenden Schluß eines Märchens, das sie erlebte. Während der Fahrt konnte sie sich nicht sattsehen an den Landschaften und dazwischen schwatzte sie unermüdlich. Spät nachmittags in Eckern ging sie dann wie betäubt von Seligkeit durch die Räume des weitläufigen Hauses, besah die Remisen, den Stall, den Tennisplatz, die Blumenbeete, den Kranz der Hügel und Wälder, und als am Abend Elisabeth kam, ihr Gutenacht zu sagen, sprach sie errötend, wie wenn sie Abbitte für begangenes Unrecht hätte leisten wollen: »Ich hab gedacht, Eckern und das alles gibt es gar nicht in Wirklichkeit; das sagt ihr nur so, hab ich geglaubt.« Fünf Minuten später schlief sie, und der Ausdruck in dem schlummernden Gesicht dünkte Elisabeth so schön, daß sie die Baronin herzurief, damit sie es betrachte. Josephe willfahrte ihr und ging gleich wieder weg; aber als Elisabeth das Zimmer verlassen hatte, kehrte sie zurück und schaute lange Zeit in die schlafenden Züge. Schließlich faltete sie die Hände.

Valerian de Groot sollte erst am Ende der Woche eintreffen. Er hatte sich doch noch zu zwei Konzerten bestimmen lassen und hatte in Berlin und Amsterdam gespielt. Am dritten Tag nach Josephes Ankunft, man war noch mitten im Ordnen und Aufräumen, kam Exzellenz Herbst, den Josephe eingeladen hatte, den Sommer in Eckern zu verbringen. Er war einer der wenigen Freunde, die sie besaß, ein zartgebauter kleiner Greis, ausgezeichnet durch Bildung und makellosen Charakter. Auf ihm lastete schweres Geschick, das zerstörend in sein Leben gegriffen und wie alle Welt, so auch Josephe erregt und ihm zugekehrt hatte. Die gewohnte Umgebung in der Stadt, der Anblick mitleidiger und neugieriger Gesichter war unerträglich für ihn geworden und Josephe hatte so lange in ihn gedrungen, bis er ihr Anerbieten, Eckern als schützenden Aufenthalt zu wählen, angenommen hatte.

Der Verlauf des Geschehnisses, wie er sich von außen zeigte und wie er in mehr oder weniger verschleierter Form auch von den Zeitungen dargestellt worden war, war dieser. Er war Sektionschef im Ministerium des Äußern gewesen und hatte in glücklichen Familienverhältnissen gelebt, mit einer klugen, heitern Frau und zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Den Sohn hatte er im letzten Jahr des Kriegs verloren. Nach dem Sturz des Kaiserhauses hatte er, seinen Anschauungen getreu, den Dienst quittiert. Er hatte keine Schätze gesammelt. Aus mäßiger Wohlhabenheit war er durch die allgemeine Katastrophe rasch in kläglich übertünchte Armut geraten. Er ertrug dies alles mit Würde: Verlust des Sohnes, Verlust des Amtes, Verlust des Vermögens. Da kam der nicht zu verwindende Schlag. Die Tochter, ein schönes neunzehnjähriges Mädchen, Marie Helene hieß sie, die bei einer Filmgesellschaft eine Art Sekretärinnenposten versah, und durch die Beisteuer ihres Gehalts die Führung der kleinen Wirtschaft erleichterte, war eines Tages in Beziehung zu einem Mann getreten, einem stellen- und erwerbslosen Kinoschauspieler namens Rutowsky, der einen höchst verhängnisvollen Einfluß auf sie gewann, ihre eigentliche Natur austilgte und sie binnen kurzer Zeit zur Dirne und Verbrecherin machte. Er hatte vier Jahre an der Front gedient und schwere Verwundungen erlitten, darunter einen Kopfschuß. Verwildert und mit Gott und Menschen zerfallen, kam er aus dem Krieg zurück, ein Lungerer, Feind alles Bestehenden, entschlossen zu allem Bösen. Marie Helene lernte ihn im Bureau kennen, als er um Beschäftigung fragte. Unerklärlicherweise verfiel sie ihm widerstandslos. Ihre ganze Natur kehrte sich um, Entschlossenheit wurde Schwermut, Fröhlichkeit Trübsinn, Offenheit Trotz und Lügenhaftigkeit. Der Vater, befremdet, geängstigt, forscht nach der Ursache; sie bleibt ihm nicht verborgen. Er untersagt Marie Helene den Umgang mit Rutowsky. Sie verweigert den Gehorsam. Die Mutter bittet, beschwört; sie will nicht hören. Sie bleibt wochenlang vom Haus weg, man macht ihr Vorhaltungen; sie rast. Sie bestiehlt die Eltern und ohne sich um deren Entsetzen zu kümmern, packt sie ihre Habseligkeiten zusammen und zieht zu Rutowsky in eine Kammer in die Vorstadt. Sie wird seine Geliebte und seine Magd. Ihren Posten hat sie verloren. Um Geld zu verdienen, läuft sie sich die Füße wund. Die Not wird drückender. Rutowsky zwingt sie, auf die Straße zu gehn. Wenn sie sich weigert, schlägt er sie, und wenn er sie halb bewußtlos geschlagen hat, fällt sie ihm zu Füßen und küßt seine Hand. Das alles ist durch Zeugen erhärtet. Sie erfährt, daß er bereits wegen Raubes im Gefängnis gewesen ist. Es erschüttert ihre Verbundenheit nicht im geringsten. Er gerät in die Kreise von Professionsverbrechern und faßt den Plan zu einem nächtlichen Einbruch bei einem Juwelier. Marie Helene soll die Aufpasserin machen. Sie wagt sich nicht zu sträuben; in der Stunde der Tat ist sie an seiner Seite. Aber die Polizei ist benachrichtigt; während sie am Haustor Wache steht, wird er bei den Vorbereitungen drinnen verhaftet. Und sie bleibt an seiner Seite. Sie befolgt das für den Fall der Verhaftung vorgesehene System des Leugnens; sie weicht nicht mit einem Hauch und Blick davon ab und benimmt sich wie die erfahrenste Genossin und Helfershelferin von Dieben.

Seit vier Monaten befand sie sich nun in Haft. Das Gericht suchte Beweise und neue Zeugen, denn die Meinungen über das Ausmaß von Schuld, das ihr zuzuschreiben war, schwankten und aus Rutowskys dunkler Vergangenheit kamen beständig neue Delikte ans Licht. Man sprach natürlich von Hypnose und verbrecherischer Beeinflussung, und viele Federn waren wie gesagt geschäftig, ein Ereignis auszuschmücken und sensationell zuzurichten, das sie als charakteristisch für die Zeit und das Absterben des moralischen Bewußtseins auch in den gebildeten Ständen bezeichneten. Aber keine Schilderung und Kritik warf einen erhellenden Strahl in das Geheimnis dieser abgründig verlorenen Seele, die mit Brauch und Sitte, Herkunft und Ehre gebrochen hatte, um eines Menschen willen, der der Auswurf des Geschlechtes war. Sie bewies keine Reue, war zu keinem Geständnis über sich selbst zu bewegen, und es schien, als habe sie auch keine Erinnerung an ihre frühere behütete Existenz bewahrt.

Die Mutter hatte es nicht zu überleben vermocht. Mit einemmal war sie zusammengebrochen. Als man Marie Helene die Nachricht brachte, zuckte sie nicht mit der Wimper. Der alte Mann, der mit großer Liebe an der Tochter gehangen, Spätfrucht der Ehe, wollte sie im Gefängnis besuchen; sie weigerte sich, ihn zu sehen. Die öffentliche Verhandlung war für den sechsundzwanzigsten Juni anberaumt; dies vor allem hatte ihn bewogen, nach Eckern zu flüchten und sich dort zu verbergen, trotzdem er gewärtig sein mußte, als Zeuge geladen zu werden. Er hatte mit Preisgabe seiner letzten Mittel den geschicktesten Verteidiger für sie bestellt; nun wartete er.

In Eckern verließ er kaum sein Zimmer. Bisweilen am Abend überredete ihn Josephe zu einem Spaziergang. Sie sprachen dann, langsam über den Weg schreitend, in halben Sätzen und mit großen Pausen von der Vergangenheit. Um Valerian de Groot von allem zu unterrichten und ihm über die Haus- und Tischgenossen, die er vorfinden würde, Aufklärung zu geben, holte ihn Josephe am Tag seiner Ankunft von der Station ab. Doch war sie zu klarer Berichterstattung so wenig fähig, daß de Groot, beunruhigt von der Aussicht auf neue Menschen und Begegnungen, ihr im Wagen eine Szene machte. Sie habe ihm Friede und Abgeschlossenheit versprochen, sagte er, und statt dessen setze sie ihn vor die Notwendigkeit, mit tragischen Figuren und interessanten Kindern unter einem Dach zu Hausen. Das sei es nicht, was er sich gewünscht, gerade dessen sei er müde, und er habe der Welt und ihrem aufdringlichen Wirrsal mit einem Fußtritt den Abschied gegeben, bevor er hiehergekommen. Er werde also, um nicht seine alte Freundin zu beleidigen, drei Tage bleiben und wieder abreisen. Er benahm sich wie ein ungezogener Junge, und trotz ihrer Bestürzung mußte Josephe lächeln. Doch als er, noch schmollend und geärgert, auf dem breiten Wiesenplan und die Landschaft krönend das stattliche Haus hinter der Schutzwehr von Bäumen erblickte; als er dann in die für ihn bereiteten Zimmer mit den hellen Möbeln und Vorhängen trat; als er seine Bücherkisten gewahrte, die bereits angekommen waren; als Elisabeth herbeieilte, um ihn schüchtern-freudig zu begrüßen und hinter ihr ein anmutig-zartes Gestaltchen auftauchte; als Josephe wie um Absolution bittend mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand: da stieß er sein gutmütiges Lärmgelächter aus, packte Josephes beide Hände und rief, indem er sie schüttelte, er vermute, daß sie die Unannehmlichkeiten wieder einmal dilettantisch übertrieben habe und werde sich für seine Person an die Annehmlichkeiten halten.

Seine Gegenwart allein brachte schon einen andern Lebensrhythmus auf dem Gut hervor. Unwillkürlich huldigte man ihm und unterordnete sich seinem Urteil. Er sah sehr scharf und er sah sehr schnell und äußerte seine Meinungen schonungslos, aber nicht immer ließ er sich zur Äußerung herbei und man fürchtete dann, was er verschwieg, mehr als was er sagte. Er hatte die Gewohnheit, dem Partner im Gespräch mit höflicher, fast übermäßig höflicher Aufmerksamkeit zu lauschen, während sein durchdringender Blick unausgesetzt in den Augen des Sprechenden ruhte; Josephe hatte davor oft solche Angst, daß sie plötzlich den Faden verlor und ihn verwirrt anstarrte. Das schmeichelte ihm, denn er war herrschsüchtig; es reizte aber zugleich seine Spottlust.

Die Geschichte der alten Exzellenz, die ihm Josephe erzählte, hörte er mit sichtlicher Bewegung an, ohne etwas zu sagen. Josephe war in sein Zimmer gekommen, um ihm beim Auspacken der Bücher zu helfen, eine Arbeit, die er mit pedantischer Gründlichkeit vornahm. Man hatte noch ein Regal aufstellen müssen, da es an dreihundert Bände waren. Als ihm Josephe am Abend vorher verwundert bemerkt hatte, sie verstehe nicht, wozu er so viele Bücher habe kommen lassen, zumal ja auch im Hause eine Bibliothek sei, hatte er hochmütig dozierend geantwortet, Bücher erzeugten in ihrer Gesamtheit erst eine Atmosphäre, in der sich der geistige Mensch wohlfühle; man müße sie auch nicht alle lesen oder gelesen haben, aber man müße sie von Angesicht kennen wie gute Gefährten; auch genügten nicht zehn und zwanzig, sondern wie in einer Landschaft die Bäume müßten sie den Eindruck der Vielfältigkeit, ja der Verschwendung machen. Fanny, ihm gegenüber, sah ihn mit offenem Munde an, und er verbeugte sich vor ihr wie vor einer Dame; die Ironie war hinter der Ernsthaftigkeit kaum zu merken.

Jetzt hockte er auf dem Teppich, mit unterschlagenen Beinen wie ein Türke, sichtete die Bände, stellte sie rings um sich auf, und die Sonne fiel auf seine silbergraue Mähne. Während ihres Berichts ließ er die Hände ruhen und schaute mit dem Ausdruck eines Kindes gespannt zu ihr empor. »Man darf natürlich vor ihm nicht darüber sprechen«, schloß Josephe ihre Erzählung; »wir enthalten ihm sogar die Zeitungen vor, damit er den Verhandlungstermin nicht zu früh erfährt. Daß er als Zeuge wird erscheinen müssen, ist ein Unglück. Er kann selbstverständlich die Aussage verweigern und wird es auch, aber man muß sich nur ausmalen, was das bedeutet, mit ihr vor den Schranken zu stehen.«

De Groot senkte schweigend die Stirn.

»Besser Kinder sind nicht, als sie sind so«, murmelte Josephe unvorsichtig.

Da sah er sie mit einem bösen Blick an, verschränkte die Arme und schüttelte langsam und lang den Kopf.

»Ist das Ihre Ansicht nicht?« fragte Josephe und die Farbe der Beklommenheit stieg in ihre Wangen.

Mit einem Ruck stand er auf den Füßen. »Meine Ansicht?« grollte er und zog die Schultern bis an die Ohren; »was soll meine Ansicht in einer Welt von Mördern wiegen? Den Tod zu preisen, weil er mir eine Schwierigkeit erspart hat, das verlange man nicht von mir. Man hat Kinder, das heißt, man hat Wege; man lebt Unsterblichkeit; man steht mit Wurzeln in der Erde, auch wenn man oben entblättert und welkt. Mag es sein, wie es will, mit Unglück, mit Schande, mit Kummer, der das Herz abfrißt, alles besser als in das schwarze Nichts hineinstarren, das sich Tod nennt.«

»Verzeihen Sie mir, lieber Freund«, flüsterte Josephe.

Er blieb vor ihr stehen und sah sie forschend an. Sie wich dem Blick aus und fuhr fort: »Ja, ich bitte um Verzeihung, aber ich tue es nicht, weil mich Ihre Worte überzeugen. Mich hat die Erfahrung etwas anderes gelehrt. Genau das Gegenteil hat sie mich gelehrt. Ich konnte nicht … nein, zu dieser Anschauung konnte ich mich nicht aufschwingen. Es gab Zeiten, wo mein glühendster Wunsch das eine war, nur das eine … begreifen Sie …« Sie hielt inne und preßte die Hände zusammen.

Valerian, der nur das Alleräußerlichste von den Schicksalen Josephes wußte, Andeutung und Gerücht wie fast alle, die mit ihr und um sie lebten; der Einblick nicht erstrebt hatte, weil er nicht geheischt worden war; der sich naher Teilnahme entschlagen hatte, weil die Freundin ihn mit ihren Lasten verschonen gewollt und weil sie zu stolz war, zu wortarm, zu schamhaft und zu gedemütigt; der in seinem königlichen Egoismus nicht gesehen und gespürt hatte, was sich dem einfachen Gefühl hätte aufzwingen müssen: er ahnte auf einmal das lebenslang verhehlte Leiden; es schlug ihm wie eine Flamme aus den Augen der Frau entgegen.

Er war ergriffen, aber mit eigentümlicher Strenge fragte er: »Und hätten Sie alle Verantwortungen auf sich genommen, wenn Sie zufällig die Macht gehabt hätten, Ihren Wunsch zu erfüllen?«

»Es ist nicht derselbe Mensch, der wünscht und der, der tut«, gab Josephe zurück. »Damals: ja. Ich hätte es auf mich genommen …« Sie stockte. Mit leiserer Stimme fügte sie hinzu: »Heute allerdings wäre ich um vieles ärmer als ich bin.« Und auf seinen erkundenden Blick sagte sie dumpf, mit einer Gebärde nach draußen: »Das Kind«.

Er fuhr fort, stumm zu fragen. Sie ging vor ihm auf und ab, die Augen zu Boden geheftet, und sprach. Am liebsten hätte sie ihr Gesicht von ihm abgewendet und in die Wand hineingesprochen. Nicht daß sie ihm die ganze Vergangenheit erschloß; das wollte sie nicht und konnte sie nicht. Sie erklärte ihm nur die Anwesenheit des Kindes und die Umstände, die es zu ihr geführt hatten. Sie war im Zweifel, ob sie richtig handelte, wenn sie ihm seinen wahren Namen und seine Herkunft verschwieg, und sie begehrte zu wissen, wie er darüber dachte. Sie entwickelte ihm ihre Gründe. Der eine war, daß sie in dem jungen Wesen keinen Anspruch erwecken und züchten wollte, weder Herzensanspruch noch Besitzanspruch; das sollte für die Zukunft keine Beeinträchtigung bedeuten; es sollte nur bewirken, daß das Kind unbefangener, unbeschwerter und im Innern völlig auf sich ruhend heranwuchs. Der gewichtigere aber war der, daß sich Josephe selbst dadurch einen Herzensanspruch versagte, einen Besitztitel tieferer Art; das ließ sie in verwirrten und fast wehen Worten durchblicken. Und Valerian erkannte, daß es eine Askese war, die sie sich auferlegte. In ihrer Angst vor dem Leben und erfüllt von einem bangen Aberglauben gegen ihr Verhältnis zum Glück, empfand sie es als eine Quelle des Unheils, wenn sie einem Menschen ihr Gefühl zuwandte; nicht entschlagen wollte sie sich einer Pflicht und Last, sondern sie von einem andern Wesen fernhalten. Er hatte Mühe, sich in eine solche Vorstellungswelt zu versetzen, die seiner Natur nicht sympathisch war, aber hier stieß er schon beim sanftesten Einwand auf eine unbesiegliche Starrheit, und sie ging so weit, mit schmerzlicher Entschlossenheit zu versichern, daß sie das Kind an demselben Tag aus dem Haus geben würde, wo es von der Blutsverwandtschaft Kenntnis erlangte. »Seh ich auch von allem übrigen ab, der Name Melander trägt einen Fluch in sich«, sagte sie; »wer den Namen führt, kann kein Glück bringen und kann nicht glücklich sein.«

Valerian war erstaunt und widersprach nicht mehr. Nach einer Pause fragte er, ob sich Fanny nie nach ihren Eltern erkundige und sich über deren Verschwinden nicht irgendwie geäußert habe. Josephe verneinte; weder des Vaters noch der Mutter habe sie bis jetzt mit einer Silbe Erwähnung getan. Es sei auffallend und es scheine dem ein Vorsatz zugrunde zu liegen, aus dem man schließen könne, daß das Kind im Innern viel gereifter sei, als es wirke; Elisabeth sei der Meinung, es sei den Eltern mit völliger Gleichgültigkeit gegenübergestanden, was ja viel für sich habe, wenn man die Vernachlässigung, die es erfahren, in Betracht ziehe; sie selbst vermute, daß Fanny aus verletztem Stolz schweige und daß in ihrer Seele eine Ahnung davon sei, was es mit Vater und Mutter für eine Bewandtnis habe. Sie verschweige es vor sich, und ein nicht zu fassendes Wunder sei es, wie ein Kind, das ohne Liebe, ja ohne zärtliche Betreuung aufgewachsen, so habe werden können, wie dieses geworden sei.

Valerian sagte gedankenvoll: »Manche behaupten, die Liebe der Eltern sei eine Kette an den Füßen der Kinder und eine Mauer um ihr Herz. Es ist möglich. Es ist sehr möglich. Wir von einer vorübergegangenen Epoche scheinbarer Humanität Getäuschten, ein paar tausend Menschen in jeder der großen Städte Europas, haben wahrscheinlich die Wagschale des Gefühls überlastet. Das hat unsre Welt verweichlicht und entformt. Nun rächen sich Schicksal und Geschichte und alles schlägt in Bestialität um.«


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