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Ländliches Idyll

Die alte Postkarre, von einem lebensmüden Klepper gezogen, rasselte gegen das Ried hinauf. Sie wurde hauptsächlich zur Brief- und Paketbeförderung benutzt; für allenfallsige Passagiere gab es nur zwei Plätze, nämlich auf dem Bock neben dem Kutscher Sauerbrand, der heuer sein achtundzwanzigstes Dienstjahr auf dem ehrwürdigen Vehikel absolvierte, wie er den beiden weiblichen Fahrgästen von Zeit zu Zeit in reichhaltigen Variationen versicherte. Diese wußten es ohnehin, da sie oft genug mit ihm desselben Weges gefahren waren, und er wiederum wußte, daß sie es wußten, denn er kannte sie; wenigstens die eine von ihnen kannte er bis in die Nähe der Vertraulichkeit; aber es war notwendig zu reden, um sich als umgänglicher Mensch zu erweisen und die Eintönigkeit der Fahrt mit fachlichen Bemerkungen zu würzen. Die Frauen schienen freilich nicht aufgelegt zu Gesprächen, denn es regnete in Strömen, und ein Dach hatte die Kutsche nicht.

Bisweilen blieb der Gaul stehen, als ob er über etwas Wichtiges nachzudenken hätte, und schnüffelte ein wenig in das Tannendickicht am Wegrand, kehrte dann den triefenden Kopf wieder ab und entschloß sich zu neuer Kraftanstrengung. Dies veranlaßte Sauerbrand jedesmal, ihm beifällig zuzunicken; der moralische Sieg, den das Tier über seinen schlaffen Organismus erfocht, flößte ihm Achtung ein. Die ältere der beiden Frauen hingegen konnte sich einer mit rauher Stimme hervorgestoßenen Beschimpfung nicht enthalten und äußerte, lieber möchte sie in einem Leichenwagen transportiert als lebendig auf solch greulichem Rumpelkasten braun und blau geschleift werden; das Roß sei zu öffentlicher Betätigung ganz und gar nicht geeignet, sondern gehöre vielmehr auf den Schindanger; aber daran erkenne man nur, was sich der gebenedeite Staat alles gegen seine schafsgeduldigen Untertanen herausnehme, es wundre sie nur, daß man nicht mit viereckigen Rädern fahren müsse. Wozu Sauerbrand halb verletzt, halb nachsichtig schwieg und in seinem philosophischen Gemüt die Betrachtung anstellte, das gnädige Fräulein Woytich befinde sich wieder einmal in bedauerlich schlechter Laune und man habe Meinungsverschiedenheiten mit ihr sorgsam zu meiden.

Die unzufriedene Dame auf dem Bock sah folgendermaßen aus. Sie trug eine pfannkuchenähnliche Kopfbedeckung, in Stoff und Farbe völlig unbestimmbar, von der eine Art Hühnerfeder schräg in die Luft stach. Um den Hals hatte sie zum Schutz gegen die Unbilden der Witterung ein Wolltuch von ebenfalls nicht zu bezeichnender Farbe gewickelt. Ihre hagere Gestalt war oben mit einem Kleidungsstück umhüllt, das an eine Jägerjoppe erinnerte und an welchem, von seiner nicht sehr reinlichen Beschaffenheit abgesehen, die Mehrzahl der Knöpfe fehlte; unten von einem fadenscheinigen, an den Knien beinahe durchgewetzten Rock. Man hätte nicht vermuten sollen, daß diese wenig kostbare Adjustierung eines Regenschirms bedurft hätte; dennoch war ein solcher aufgespannt, aber wahrscheinlich nur aus mürrischer Zerstreutheit, denn er zeigte ein halbes Dutzend Löcher und Risse, einen davon hinlänglich groß, um in den wolkenverhängten Himmel und einen Teil der unerfreulich nassen Landschaft einen orientierenden Durchblick zu gewähren. Indes die eine Hand dieses Instrument von zweifelhafter Zweckdienlichkeit hielt, umfaßte die andere einen Polsterschemel, der beim Tapezierer neu überzogen worden und zum Schutz gegen den Regen in altes Zeitungspapier verpackt war.

Endlich war das traurige Gefährt am Tor der Villa angelangt, die in angenehmen architektonischen Formen auf halber Höhe am Wald thronte. Sauerbrand half zuerst Fräulein Woytich galant vom Bock, dann der Begleiterin, ihrer Schwester, die mit dem Titel Frau Rätin angeredet wurde. Ihr verstorbener Mann, ein Magistratsbeamter, hatte es in den Zeiten der Monarchie zum kaiserlichen Rat gebracht.

Fräulein Woytich humpelte eilig zum Eingang und brüllte mit gewaltigem Stimmaufwand durch den Vorgarten gegen das Küchenfenster: »Kreszenz! Kreszenz! Wo steckt denn die Person! Lassen Sie uns nicht warten in drei Teufels Namen! man zergeht ja wie Zucker dahier!« Ein unwilliges Knurren wurde vernehmbar und nach einiger Weile erschien die Gerufene gemächlichen Schritts, eine ziemlich böse aussehende Magd von etwa fünfundvierzig Jahren. Es wurden nun die Gegenstände abgeladen und ins Haus geschafft, die man unten im Ort eingekauft hatte: ein Korb Äpfel; ein zweiter Korb mit Konservenbüchsen und grünem Salat; eine schmutzige Ledertasche, in der zwei Laibe weißen Brotes, eine Flasche Essig, ein Kilo Salz und ein Kilo Zucker verstaut waren, und schließlich ein umfänglicher Ballen, enthaltend Kerzen, allerlei billige Teigwaren, ein Paket Zündhölzer, Pfeifentabak und mehrere Romane aus der Leihbibliothek. Fräulein Woytich verteilte die Fracht zwischen Kreszenz und ihrer Schwester Anastasia; sie selbst trug den Schemel unterm Arm und wandte sich an Sauerbrand, um das Fahrgeld zu entrichten.

Kaum hatte dieser die zu zahlende Summe genannt, sechzehnhundert Kronen, so fing sie wie am Spieß zu schreien an, obwohl sie, wie sich Sauerbrand im stillen sagte, die Taxe und ihre regelmäßigen Erhöhungen genau kennen mußte. Beschwichtigend leierte er sein Sprüchlein her: wie schwer die Zeiten seien; wie teuer das Brot; wie unerschwinglich der Hafer; was ein Hufeisen heutzutage koste, dafür hätte man früher eine Dorfschmiede samt dem Bürgermeister drei Tage lang traktieren können. Aber das alte Fräulein wollte von alledem nichts hören. Sie sagte, sein Hufeisen und sein Hafer ginge sie nichts an, das möge er mit seiner Rosinante abmachen; sie hieß ihn einen Beutelschneider und Luftikus, und mit einer Fülle von Kraftausdrücken und exaltierten Gesten schwor sie Stein und Bein, daß sie erstens keinen Heller zahlen, zweitens ihn wegen preistreiberischer Forderung gerichtlich einklagen werde. Sauerbrand kratzte sich den Kopf, zeigte eine ratlose Miene, heuchelte Mitgefühl mit dem aufgeregten Seelenzustand seiner Schuldnerin; diese nun, nachdem sie ihrem cholerischen Ärger genügend Luft verschafft, zog ein schmieriges und zerfetztes Portefeuille aus der Tasche des Lodenkittels und entnahm ihm, kurzsichtig niedergebeugt, während durch die Schirmlöcher der Regen auf ihre gelben Hände tropfte, einen Schein nach dem andern, reichte dem schmunzelnden Sauerbrand einen nach dem andern, fluchte dabei leise vor sich hin und murmelte greuliche Lästerreden über das lumpige Geld, das Zettelgeld, das Schundgeld, das genau so unappetitlich und auf den Betrug hergerichtet sei wie die ganze gottverlassene Jetztzeit. Sauerbrand, der das Lied oft von ihr gehört hatte, stimmte ihr mit schlauer Bekümmernis bei, und sie schlurfte gegen das Haus.

Sie beeilte sich, damit von den gekauften Viktualien nichts verschwinde, ehe sie sie hinter Verschluß gebracht. Die zwei da drinnen, es war ihnen nicht zu trauen, der Schwester nicht und der Kreszenz nicht. Jene war immer hungrig; was hatte ein altes Weib von über sechzig hungrig zu sein? von dieser war anzunehmen, daß sie bei jeder Gelegenheit stahl wie ein Rabe. Wem war überhaupt zu trauen? Die menschliche Gesellschaft: eine Verschwörung von Blutsaugern, Schwindlern und Idioten, oben die gewaschenen und eleganten, unten die bettelhaften und krätzigen.

Es war aber noch kein Raub geschehen. Sogar die Zahl der Äpfel stimmte: zweiundvierzig. Wunder Gottes, dachte Ulrike Woytich, biß die Hälfte von einem herunter und reichte Anastasia den übrigen Teil. Die fand ihn aber zu sauer und warf ihn in den Kamin, worüber sie von Ulrike angefaucht wurde. Zu den Lebensmittelanschaffungen hatte sich Ulrike entschlossen, weil man zu Ende der Woche einen Gast erwartete, Anastasias Sohn Philipp Gentili, der die Geldgeschäfte seiner Tante besorgte. Sonst lebte man frugal in der Villa Woytich; Malzkaffee, Kartoffeln und das staatliche Brot, damit wurde die Ernährung in der Hauptsache bestritten, denn Ulrike Woytich huldigte der Ansicht, daß jede Krone, die man überflüssigerweise für die Lüste des Magens verausgabe, noch dazu für andre verausgabe, ein Stück Leben und Lebensfrieden koste.

Sie holte ihre kurze englische Pfeife aus der Schublade des Mahagonitischchens am Fenster, stopfte sie mit dem billigen Knaster, den sie mitgebracht, und nachdem sie sie in Brand gesetzt, überließ sie sich von neuem, heftig paffend, dem Zorn über den Preis für die Postfahrt. Sünde und Verbrechen nannte sie es. Ihre Augen blitzten. Das noch unergraute, aber starre und verfitzte Haar fiel im Eifer der Rede in Strähnen auf die niedrige Stirn. Das kluge, belebte, leidenschaftliche, wenn auch durchfurchte und verwüstete Gesicht verzerrte sich, und aus dem Lippenwinkel, unter der Pfeifenspitze hervor, sickerte der Speichel der Wut. Ziffern, Ziffern, Ziffern. Kreszenz steckte den Kopf zur Tür herein, um zu sehen, was der Lärm bedeute. Anastasia hatte ihre unscheinbare Gestalt demütig in die Sofaecke gekauert und hörte furchtsam zu.

Ziffern, Ziffern, Ziffern. Preise, nichts als Preise. Verwünschungen gegen alle Forderer von Preisen. Ein mit grimmiger Emphase herausgewürgtes, hervorgebelltes Verzeichnis von Preisen; Schuhpreisen, Holzpreisen, Eintrittspreisen, Mietpreisen, Wirtshauspreisen, Metzgerpreisen, Milchpreisen. Darstellung der unverschämten Willkür; Anrufung der himmlischen Gerechtigkeit und Verhöhnung der irdischen; händeringende Klage über die Verworfenheit des gegenwärtigen Geschlechts und Prophezeiung schrecklichen Endes; jammernde Rückschau auf glücklichere Jahrzehnte und wildes Bedauern, daß man nicht den Strick genommen oder sich ins Wasser gestürzt, bevor diese Ära der Vernichtung begonnen hatte.

Das dauerte eine halbe Stunde. Es war als speie die steril gewordene Menschheit ihren Ekel an sich selbst, ihre Verzweiflung über sich selbst aus ihrem greisenhaften Mund.

Anastasia aber dachte: wie lange wird sie noch so toben? wie lange wird sie uns noch hinters Licht führen mit ihrem sinnlosen Geschrei? Jetzt ist sie bald sechsundsechzig; wie lange wird sie noch auf ihren Reichtümern hocken und uns drangsalieren, mich und den fleißigen Philipp, der einfältig genug ist, ihr die Kastanien aus dem Feuer zu holen und ihr immer noch mehr Geld zuzuschanzen? wann wird uns das alles gehören, das Haus und die Möbel und die Teppiche und Uhren und Bilder und das Porzellan und das Silber? Wenn man wenigstens wüßte, wo sie ihr Testament versteckt hat, damit man sich überzeugen könnte, ob uns wirklich alles zugeschrieben ist, wie sie immer versichert. Ihr kann man nicht glauben. Wie lang wird man noch warten müssen? Vielleicht überlebt sie mich. Vielleicht überlebt sie auch den Philipp. Solche wie Ulrike, die sterben nicht. Woran sollte sie auch sterben? Sie ist gesund wie ein Fisch. Franz, der liegt am Tode. Severin, den deckt schon das Grab. Ulrike, die wird ewig leben.

Das waren die nicht eben schwesterlichen Erwägungen der furchtsamen und demütigen Anastasia, während sie sich fröstelnd in die Sofaecke schmiegte.


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