Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auszug mit Sack und Pack

Josephe hatte zwei Bedingungen gestellt, nachher, als Christine sie kommen ließ und sie weinend umarmte: möglichst rasche Trauung und Vermeidung jeder Festlichkeit.

Christine sprach mit Ulrike darüber und diese rümpfte die Nase. »Kaprizen«, sagte sie verdrießlich; »mag sie aus ihrer Hochzeit eine pompe funèbre machen, das ist ihre Sache. Eduard hat gewiß nicht den Ehrgeiz, im Viererzug zur Kirche zu fahren.«

»Warum aber die Eile?« fragte Christine; »warum möglichst rasche Trauung?«

»Mein Gott, manche Wasserscheue haben das an sich. Sie drücken sich so lang herum, bis sie endlich mit einem Satz ins Wasser springen, sogar vom hohen Trampolin. Vielleicht hat sie sich auch anders besonnen, was weiß man denn bei einem so launenhaften Wesen, und kanns nicht erwarten, bis sie der Gatte in seine Arme schließt.«

»Ich wünschte, Sie hätten recht«, seufzte Christine, »mir kommts nicht so vor.«

Christine überredete sich in diesen Tagen zu einer freudigen Geschäftigkeit und Anteilnahme. Es lastete aber in der Tiefe ihres Gemüts ein nicht zu lockerndes Gewicht, über das sie hinwegsah und von dem sie nichts wissen wollte. Gegen Melander bezeigte sie eine ergebene, ja fast bedrückte Zärtlichkeit. Wenn er sprach, hing sie an seinen Lippen, wenn er einen Wunsch äußerte, trachtete sie nur danach, ihn zu erfüllen. Sie überhäufte ihn mit Geschenken und schon vom leisesten Lächeln des Dankes fühlte sie sich hinreichend belohnt. War sie in Gesellschaft von beiden, Josephes und seiner, so glitt ihr Auge ohne Unterlaß prüfend, forschend, fragend von einem zum andern, und jede der anmutigen Gebärden Melanders, jedes seiner runden, geschliffenen Worte, jede Liebenswürdigkeit, die er Josephe erwies, das beständige geduldige, bittende Werben um die Schweigsame und nicht Lächelnde rührte sie und bereitete ihr eine schmerzliche Lust und sorgenvolle Erregung.

Josephe kümmerte sich weder um die Aussteuer noch um die Wohnung. Sie saß bei der Mutter und unterhielt sich mit ihr; sie saß bei ihrem Verlobten und unterhielt sich mit ihm oder vielmehr hörte ihm zu. Außer daß ihr Gesicht fahl und ihre Augen glanzlos waren, hatte sich nichts an ihr verändert. Ihr Betragen gegen Melander war etwa das eines Menschen, der mit einer gewissen angestrengten Hartnäckigkeit einem kopfzerbrechenden Studium obliegt; oft betrachtete sie ihn mit zusammengezogenen Brauen und erschrak, wenn er seinerseits, unangenehm berührt von diesem eindringlichen Blick, sie anschaute und mit geschmeidiger Verwunderung fragte, ob sie etwas auf dem Herzen habe.

Nein, sie hatte nichts auf dem Herzen, durchaus nicht. Es gehörte jedenfalls nicht geringer Mut dazu, eine solche Erkundigung bei ihr anzustellen, denn sie sah aus, als ob ihr dieses Organ, Herz, abhanden gekommen sei und sie nun, etwas verstört und ruhelos, in der Welt herumirre, es zu suchen und wieder an sich zu bringen. Am meisten Interesse, ja Neugier und Spannung zuweilen, zeigte ihre Miene, wenn Melander über Menschen redete, mit denen er in Amt und Beruf zu tun hatte, wenn er sich über seine Erfahrungen verbreitete und mit trockenem Sarkasmus und flinkem Witz heikle und schwierige Verhältnisse überlegen darstellte. Er erinnerte sie dann irgendwie an Franz Woytich; wie dieser eine meisterliche Fingerfertigkeit auf dem Flügel entfaltete, so beherrschte Melander die Klaviatur der Lebensrealitäten und der Charaktere. Nicht selten widersprach Josephe, fragte mit einem Anflug von Spott oder schüchternem Eigensinn oder kindischem Trotz und wenn sie dann besiegt war, was in der Regel geschah, sah sie sich erstaunt um und schlug verlegen die Augen nieder.

So kam der Vorabend der Trauung heran. Es war den Tag über unfreundliches Wetter gewesen, der Abend war schwül, obschon der Himmel sich aufheiterte. Josephe zog sich zu früher Stunde zurück; die Bitte der Mutter, sie möge noch ein wenig bei ihr bleiben, hatte sie kopfschüttelnd abgeschlagen. Als sie über den kargbeleuchteten Korridor in ihr Zimmer ging, stand neben der Tür Anastasia und schaute unbeweglich, mit sonderbar finsterm und bösem Blick vor sich hin. Josephe stutzte; da sagte Anastasia: »Ist es erlaubt, Fräulein Josephe, daß ich zwei Worte mit Ihnen spreche?«

Josephe, ziemlich überrascht, denn ihre Beziehung zu Anastasia war stets die äußerlichste gewesen, forderte sie auf, ihr zu folgen, und lud sie, als sie im Zimmer waren, zum Sitzen ein. Jedoch Anastasia blieb an der Tür stehen.

»Es drückt mich was, Fräulein Josephe, und es muß heraus«, fing sie mit einer widrig-süßen Stimme an; »auch auf die Gefahr hin, daß Sie schlecht von mir denken, muß ichs sagen. Man ist nicht gern eine Denunziantin, und Vorteil hab ich auch keinen davon, wenn ich die eigene Schwester verrate, aber ich kanns eben doch nicht länger mit mir herumtragen. Meine Chancen im Leben stehn freilich nicht so gut, daß ich was riskieren darf, besonders gegen Ulrike nicht, die hier im Hause Regen und Sonnenschein macht und michs schwer büßen lassen würde, erführe sie, daß ich ihre Heimlichkeiten vor Ihnen aufdecke …«

»Was gibt es? wozu die vielen Worte? was wünschen Sie?« unterbrach Josephe das unheilvoll klingende Gerede mit einer ihr sonst fremden Schroffheit.

»Nun, ich glaube«, flötete Anastasia beleidigt, »ich tue nur meine Pflicht, wenn ich das Fräulein, bevor ein so verantwortungsvoller Schritt wie der morgige geschieht, in aller Bescheidenheit darauf aufmerksam mache …«

»Nichts, nichts, nichts«, fiel ihr Josephe zum zweitenmal mit einer gebieterischen Handbewegung ins Wort; »Sie sollen nichts sagen. Ich will nichts hören. Nichts. Nichts.«

»Also sind Sie bereits unterrichtet?« fragte Anastasia mit eigentümlich tückischer Miene. »So wissen Sie es also? Dann allerdings brauche ich mich nicht zu bemühen. Dann bleibt mir nur eines übrig: mich zu wundern. Das darf ich doch? das ist doch wohl verstattet? Ich meinte bloß, da sogar die Verlobungszeit nicht respektiert worden ist und man sich nicht gescheut hat, verschwiegene Zusammenkünfte …«

»Genug!« rief ihr Josephe drohend zu, »keine Silbe mehr! oder Sie haben es zu bereuen.«

»Ich bitte. Ich bitte«, murmelte Anastasia plötzlich demütig und verbeugte sich.

Um Josephes Mund zuckte es geringschätzig. »Ich danke Ihnen für die freundliche Absicht«, sagte sie kalt und zitternd. »Ich möchte jetzt allein sein. Gute Nacht, Anastasia.«

Anastasia preßte die Lippen aufeinander, warf einen frommen Blick zur Decke empor und entfernte sich in ihrer geräuschlosen Art.

Lange Zeit stand Josephe, ohne sich zu rühren. Sie hatte gewußt und sie hatte nicht gewußt. War zwischen dem einen und dem andern ein Unterschied? Wissen und Nichtwissen konnte man gegeneinander tauschen und nichts war verändert. Es war, als lausche sie in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft hinaus. Von da und von dort strömte Traurigkeit auf sie ein. Wie schließ ich mich zu und wie verberg ich mich? Das war die Frage, die sie sich beständig stellte und die grauenhaft an jenes Wort der Mutter aus dem Traum ihrer Kinderzeit erinnerte.

Sie hatte sich gefügt, aber nicht gebeugt. Und so begann ihre Seele zu erstarren. Denn soll eine Seele im Fluß des Irdischen und im Fluß des Göttlichen bleiben, so muß sie sich beugen. Während sie, im Bette liegend, Stunde um Stunde, und mit einer dunklen Wollust beinahe, über sich, über die Menschen und über das, was mit ihr vorging, grübelte, wurde sie der Demut verlustig und stürzte in eine lieblose, eisige Einsamkeit.

Sie schaute in die Finsternis und dachte und dachte und sann und sann. Allmählich verengerte sich der Kreis der Gedanken und ballte sich wie Rauch, der sich zur Gestalt formt, zum Bildnis Ulrikes zusammen. Ulrike füllte den Raum, Ulrike war die Welt. Ulrike war die Schranke, an der sich das sehnende Herz zerstieß und die freie Blutswoge zerschellte; Ulrike war das Verdichtete der bekannten und unbekannten Menschheit. Ulrike war die Stimme von außen und von unten, denn die von oben war verstummt; Ulrike war das Gesetz und die Schickung.

Der Tag graute ins Fenster, der Morgen kam. Man rief sie, man drang ins Zimmer, man brachte Gewänder, man kleidete sie an. Sie ging zum Wagen hinab; sie fuhr; sie stand an der Seite eines Herrn in der Kirche und Menschen waren wie Nebelflecke. Sie war wieder zu Hause, sie wurde beglückwünscht, sie setzte sich zu Tisch, sie rüstete sich zur Abreise, sie verabschiedete sich. Christine umarmte sie. Sie lächelte vollkommen leer. Vor Ulrike stand sie einen Augenblick weiß wie Kalk. Ulrike riß sie stürmisch an sich und zerdrückte mit dem Zeigefinger eine Träne.

Die Hochzeitsreise nach Konstantinopel und Griechenland war für Melander zugleich eine amtliche Reise. Er hatte dort Verhandlungen mit den Regierungen zu führen und war mit großen Vollmachten versehen. Die erste Nachricht erhielt Christine aus Athen, Gruß auf einer Karte. Drei Wochen später kam abermals eine Karte, auf der Rückfahrt schon, aus Neapel. Dann eine von Quarnero, wo sie sich eine Woche aufhalten wollten.

Diese Karte mit den paar dürren Worten hielt Christine lange in der Hand. Ihre Augen hatten einen bohrenden Ausdruck wie bei einem Menschen, der sich an etwas erinnern will und es nicht vermag.

»Sehen Sie nur, Ulrike«, sagte sie, »Josephe hat eine ganz andere Schrift als früher.«

Ulrike beugte sich über die Schulter ihrer Herrin. »Wieso? ich sehe nichts«, erwiderte sie. »Ein bißchen spitziger, ja, ein bißchen steifer. Aber das kommt vor; wenn die Fräuleins heiraten und haben nicht den Schwung und die Phantasie dazu, werden sie manchmal spitz und steif, nicht bloß auf dem Papier.«

Christine äußerte nichts mehr, aber sie fuhr fort, die Schriftzüge zu studieren.

Am Abend vor dem Schlafengehen sagte sie: »Ich weiß nicht, mir ist so sonderbar heute. Bleiben Sie doch in meiner Nähe, Ulrikchen. Ihr Zimmer ist so weit weg, da fühl ich mich so verlassen.«

Ulrike lachte. »Sie werden mir doch nicht hypochondrisch werden«, gab sie zur Antwort; »schlafen Sie sich ordentlich aus, und morgen beraten wir dann über unsern Sommerreiseplan.«

In der Nacht, gegen drei Uhr, erwachte Christine mit einem gräßlichen Schrei. Ihr war, als habe ihr Herz einen Sprung bekommen. Sie läutete Alarm. Nanette erschien, gleich darauf Anastasia, diese lief zu Ulrike hinüber und holte sie.

Als Ulrike kam, saß Christine aufrecht, die Hand an die linke Brust gedrückt, das leichenfahle Gesicht mit Schweiß bedeckt. »Zum Arzt!« rief Ulrike schrill. Sie goß Wasser in ein Becken, näßte ein Tuch und wollte es Christine auf das Herz legen.

Da schaute ihr Christine mit einer unbeschreiblichen, von Sekunde zu Sekunde wachsenden Angst ins Gesicht. Auf einmal streckte sie den rechten Arm gegen sie aus und stammelte: »Nicht anrühren. Gehn Sie. Um Gotteswillen, gehn Sie fort. Ich kanns nicht aushalten. Gehn Sie hinaus!«

»Na was denn? kommen Sie doch zur Besinnung!« fuhr Ulrike sie an.

»Um Gotteswillen, hinaus!« ächzte Christine.

»Aber ich bins ja, ich, Ulrike«, sagte Ulrike aufs höchste betroffen.

In verzweifelter Qual wandte sich Christine an Nanette. »Sagen Sie ihr, daß sie gehen soll, Nanette. Wenn sie nicht auf der Stelle hinausgeht, muß ich sterben.«

Nanette selbst erschrocken und verwundert, redete Ulrike zu, die an eine vorübergehende Umnachtung glaubte und murrend und kopfschüttelnd das Schlafzimmer verließ.

Mit kurzen Atemstößen verlangte Christine Papier und Bleistift, kritzelte in größter Hast den Wortlaut einer Depesche an Josephe hin und beschwor Nanette, den Diener damit unverzüglich auf die Hauptpost zu schicken.

Es geschah.

Indessen kam der Hausarzt. Ulrike ging draußen auf und ab und wartete auf seinen Bescheid. Seine Miene verriet nichts Gutes, als er zu ihr trat. Er erklärte, es liege eine Lähmung der Aorta vor, die jede Stunde, ja jeden Augenblick zum Tod führen könne, doch sei es auch nicht ausgeschlossen, daß das Leben noch einige Tage weiter flackere. Die Angehörigen seien jedenfalls zu verständigen.

Aber Ulrike war schläfrig; sie sagte sich: es wird nicht ganz so schlimm sein, wie der Quacksalber tut, und ging wieder ins Bett. Erst nach dem Aufstehen, ziemlich spät am Morgen, sandte sie Telegramme an Esther, Aimée und Lothar ab. Hierauf ging sie zuversichtlich zu Christine, in der Meinung, der wunderliche Anfall von heute morgen sei vorbei und vergessen.

Kaum aber hatte sie die Schwelle überschritten, als Christine wie vom Blitz getroffen in die Höhe fuhr und in wildestem Entsetzen, von einem wahrhaften Grauen gepackt beide Arme ausstreckte. »O Gott, da ist sie wieder!« schrie sie mit mark- und beinerschütternder Stimme; »was will sie denn von mir? warum kommt sie denn? fort! fort! fort!«

Ulrike erbleichte bis unter die Haarwurzeln. Sie kehrte eilig um, schloß die Tür, blieb draußen, ihr Unbehagen bekämpfend, eine Weile stehen, schaute gegen den Himmel und sagte bitter: »Das ist nun der Dank.«

Etwas später beugte sich Nanette, von Ulrike hiezu angeleitet, über die Kranke und fragte zaghaft: »Was haben Sie denn auf einmal gegen Fräulein Ulrike, gnädige Frau? Sie war doch Ihr Augapfel, Ihr ein und alles? Was ist denn nun auf einmal?«

Mit beiden Händen den Arm des Mädchens umklammernd, ganz nahe seinem Gesicht, flüsterte Christine scheu: »Sag nichts. Sie hört alles. Schweig, ich bitte dich. Ich glaube, sie hat mir das Herz stückweise herausgenommen und gegessen. Ich darf nicht hinter mich und nicht vor mich schauen, aber wenn ich sie sehe, graut mir vor mir selber. Aber schweig, ich bitte dich.«

Ulrike ging in die Küche, erteilte ihre Befehle, schickte den jüngeren Diener mit Aufträgen in die Stadt, dann begab sie sich auf ihr Zimmer, zündete eine Zigarette an und entnahm der Kommodeschublade den sorgfältig dort aufbewahrten Bogen Papier, auf welchem viele Male, von Christines Hand geschrieben, mit ihrem vollen Namen unterzeichnet, der Satz zu lesen war: dies gehört meiner teuren Ulrike Woytich.

Den Bogen zerschnitt Ulrike mit Bedacht und Gemächlichkeit in ebenso viele Teile, als es einzelne Sätze waren, und als sie damit fertig war, legte sie die Abschnitte aufeinander, holte aus einer andern Lade ein Fläschchen Gummi arabikum und einen Pinsel hervor und mit all den Utensilien versehen stieg sie in das obere Stockwerk.

Droben in den Zimmern und Sälen, Nebenräumen und Korridoren fing sie an, alle Dinge, auf die sie schon seit langem ein Auge geworfen und die sie seit langem für sich bestimmt hatte, mit den Zetteln zu bekleben.

Sie ließ sich Zeit. Den Sehnsuchtswalzer vor sich hinsummend, schritt sie prüfend wie ein Händler von einem Stück zum andern. Ihr sichtender Blick wählte mit kennerischer Strenge: Tische, Schränke, Stühle, Sessel, Betten, Kommoden, Konsolen, Sofas, Taburetten, Spiegel, Bilder, Vasen, Marmor- und Bronzestatuen, Teppiche und Kandelaber. Sooft ihr ein besonders schöner Gegenstand vor Augen kam, verwandelte sich das Summen in ein leises freudiges Pfeifen, und sie überlegte, ob die Besitzergreifung gewagt werden könne. Bei der Auswahl verfuhr sie derart, daß nicht zu viele ärgerliche und auffällige Lücken entstanden, wenn die Sachen fortgeschafft waren. Das Vakuum mußte vermieden werden; sie hatte Respekt vor dem Vakuum. Da es aber eine Flucht von sechzehn Räumen war, in denen sie mit trefflicher Erwägung ihre Liebesplakate anbrachte, verloren sich die von ihr erkorenen Gegenstände in der luxuriösen Menge.

Bei dieser Beschäftigung war es Mittag geworden. Der Vizekonsul kam wie gewöhnlich zu Tisch, andern Geladenen hatte sie absagen lassen. Ulrike teilte dem Bruder mit, wie es um Christine stand, und vor allem, wie es mit ihr bei Christine stand. Sie ersuchte ihn, ihr noch heute und um jeden Preis eine Wohnung zu mieten, sie verlasse morgen mit dem frühesten das Haus, da sie keine Lust habe, den eintreffenden Sprößlingen zu begegnen. Sie werde die Wohnung nicht sogleich beziehen, vielmehr ein halbes Jahr oder auch länger auf Reisen gehn, sich ein wenig in der großen Welt umtun und zusehen, wo sie sich da oder dort nützlich machen könne. Doch müsse sie wisten, daß sie im Notfall ein Heim und eine Zuflucht habe, auch brauche sie eine gesicherte Stätte für ihre Erwerbungen, für die Möbel, die Kisten und Koffer.

Franz Woytich nickte verständnisvoll. Er erkundigte sich, was mit Anastasia geschehe.

»Sie wird in die Wohnung gesetzt, sie bekommt ein Gehalt und hat auf die Sachen aufzupassen«, erwiderte Ulrike in ihrer prompten Art, über das Schicksal der Geschwister zu bestimmen.

»Komm am Abend«, sagte sie zum Schluß, »aber wenn ich bitten darf im Frack. Ich will meinen Freunden ein kleines Abschiedsfest geben. Ich werde die Einladungen gleich schreiben und ein paar Leute damit wegschicken. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«

»Und wer sind die Auserwählten?« fragte der Vizekonsul schmunzelnd.

»Schön, halten wir Kriegsrat«, versetzte Ulrike gutgelaunt, »kleine Heerschau über die Intimen.« Sie nahmen nebeneinander am Tisch Platz und Ulrike, den goldenen Krayon in der Hand, führte das Protokoll. Hauptmann Kröner; Botschaftssekretär von Philippsborn; Baron Hartwich; Ritter von Cocheran; der Maler Ittstein; der Schauspieler Merz. So, das genügte, es war eine angenehme Zahl, und wenn einer vergeben oder verhindert war, hatte es nichts auf sich.

»Jetzt hab ich zu tun«, sagte Ulrike und entließ den gehorsamen und nützlichen Bruder.

Schon vor Tisch hatte sie Weisung gegeben, Kisten und Koffer in hinlänglicher Menge zu beschaffen. Ihr Faktotum, der alte Diener Niklas, hatte die Aufgabe übernommen und entledigte sich ihrer zu Ulrikes Zufriedenheit. Das Packen besorgte sie allein. Man konnte dabei keine Zeugen brauchen. Es dauerte den ganzen Nachmittag.

Alles, was sich mit der Zeit an Gaben und Geschenken angesammelt hatte und was sie sonst mit schwer zu bestreitendem Fug als ihr rechtmäßiges Eigentum betrachten konnte, fand in den geräumigen Behältnissen seinen Platz; die Kleider, die Stoffe, umfängliche Rollen Linnen und Chiffon, Steppdecken aus Atlas und Decken aus Damast, Tischdecken, Tafeltücher, Webereien, Spitzentücher; ein silbernes Tafelservice, eine Delfter Garnitur, silbernes Eßbesteck für zwanzig Personen; gestickte Polster, zahlreiche Nippes und Bibelots und kleiner Wandschmuck der kostbarsten Art; Bücher; Vorhänge, Miniaturen, Elfenbeinschachteln, Uhren, Dosen, Schnitzereien, Radierungen, antike Münzen, und nicht zuletzt die wunderbare alte Puppe aus dem Myliusschen Laden.

Als endlich alles richtig und verläßlich verstaut war, nagelte sie mit Hilfe der zwei Diener die Kisten zu und malte eigenhändig mit schwarzer Farbe die Initialen U. W. auf die sieben Deckel.

Sodann kleidete sie sich für den Abend um.

Der Vizekonsul kam als erster. Er teilte ihr mit, daß er ihren Auftrag ausgeführt habe; die von ihm gemietete Wohnung befinde sich in einem ruhigen und vornehmen Hause, preiswürdig und sogleich zu beziehen.

»Das hast du brav gemacht«, sagte Ulrike; »morgen früh kommt der Spediteur und morgen Abend bist du, à la fortune du pot selbstverständlich, mein Gast. Dann wollen wir über die Zukunft sprechen.«

Sie hatte sichs angelegen sein lassen, ihre Freunde in großem Staat zu empfangen. Die Friseurin hatte aus ihrem reichen Haar eine imposante Krone erbaut. Das taubengraue Kostüm aus Seidensamt war mit Spitzen besetzt und tief ausgeschnitten. Um den Hals trug sie eine goldene Kette mit goldnem Medaillon, in den Haaren das Diadem. Die Korallen, die sie seit früher Jugend und bis vor kurzem als Ohrgehänge getragen, waren entfernt und hatten zwei zarten Perlen Platz gemacht.

Sie besaß eine unvergleichliche Büste: kräftig, schmiegsam, von sinnlichem Leben blühend. Die Haut war wie Aprikosenflaum. Das gebräunte, von Sorglosigkeit strahlende Gesicht mit den dunklen lachenden Augen und dem üppigen Mund, der bereit war, alles Süße und Schmackhafte, was das Dasein bot, zu verzehren, wirkte auf die Gesellschaft, die sich vollzählig versammelt hatte, wie ein Elixir. Niemand nahm Anstoß daran, daß die Dame des Hauses nicht zugegen war, niemand machte sich Gedanken über die Seltsamkeit dieses Herrensoupers in den Räumen der Frau Christine Mylius. Ulrike gab ein Fest; Ulrike wußte ohne Zweifel, was sie tat; man konnte sich auf Ulrike verlaßen. Die gnädige Frau ist unpäßlich, hieß es, sie wird vielleicht noch erscheinen. Aber Ulrike zwinkerte mit den Augen und schüttelte leise den Kopf.

Sie plauderte, scherzte, tändelte, spottete, vertrieb denen die Grillen, die nicht in freier Laune gekommen waren, machte die Beschwerten leicht und ermunterte außerdem nach rechts und links zum Zugreifen, denn der Tisch bog sich unter der Last der Gerichte, der Braten, Gemüse, Salate, Hummern, Fische, Früchte und Süßigkeiten, der Weine und des Champagners. Franz Woytich spielte mit gewohnter Virtuosität ein Operettenpotpourri; der Schauspieler erzählte Kulissen- und Alkovengeschichten; das Gelächter ergoß sich in Katarakten.

Um Mitternacht erschien der alte Niklas und flüsterte Ulrike ein paar Worte ins Ohr. Sie zuckte lächelnd die Achseln und fuhr in einem begonnenen Satz fort.

Er hatte ihr mitgeteilt, daß Josephe angekommen sei.

 

Drüben, weit drüben, durch viele Räume von diesem Schauplatz der Lustbarkeit getrennt, wie in einem andern Land, lag Christine und wartete in qualvoller Bangigkeit. Leise gingen ihre Dienerinnen ein und aus; zuweilen trat der junge Arzt, der die Nachtwache übernommen hatte, an ihr Bett und wechselte den Eisbeutel oder reichte ihr die Medizin. Sie lag mit geschlossenen Augen und in Pausen hob ein schmerzlich-erregter Seufzer ihre Brust. Manchmal öffnete sie die Lider weit, blickte saugend gegen die Tür und lispelte langgedehnt den Namen Josephe.

Da endlich, endlich; Kleiderrauschen; hastiges Raunen, hastiges Schreiten; ein kleiner weher Ruf; eine schmale kindliche Gestalt: da war sie endlich.

»Zu mir«, bat, stammelte Christine weinend und umschlang sie fester, immer fester; »ganz, ganz nah zu mir!«

Und Josephe: »Bist dus wieder? hab ich dich wieder? meine Mutter? wieder meine Mutter?«

Und Christine: »Kannst du verzeihen? sag nur das eine: kannst du verzeihen?«

Und Josephe: »Still, o still.«

 

Ulrike und ihre Gäste befanden sich in Hochstimmung. Ulrike hatte ein Notizbuch in der Hand und schrieb, häufig unterbrochen von Protesten, Anrufungen, Lachen und Applaus, die Namen derer auf, die während der nächsten Jahre abwechselnd ihre Reisemarschälle sein sollten und wollten. Da war vorgesehen: der Hauptmann für Italien; Philippsborn für Frankreich; Hartwich für die nördlichen Länder; Herr von Cocheran für Tunis und Ägypten; Ittstein für die Schweiz und andre gebirgige Gegenden; nur der Schauspieler, fett und bequem, wünschte zu Hause zu bleiben und seine Dienste zu lokalisieren.

Es entstand ein lustiger Streit; jeder wollte finden, daß ihm der andere die besten Bissen und Aussichten wegschnappte, jeder bezeichnete den Posten des andern als Sinekure und Bevorzugung. Schließlich erhob sich Ulrike, überschaute die frohen Gesichter der Tafelrunde, klopfte an ihr Glas und sprach:

»Die Zugvögel sind mir immer als die leidenschaftlichsten und mysteriösesten Tiere der Erde vorgekommen. Vielleicht gehören sie gar nicht der Erde allein an und haben Nester auch auf andern Sternen. Wenn ich euch nun für eine Weile entschwinde, meine Vielteuern, so härmt euch nicht um mich, aber sorgt auch dafür, daß euch nicht mein Andenken verdunkelt wird. Merkt eins: über Ulrike Woytich kann nichts Endgültiges ausgesagt werden. Sie ist nicht, was sie scheint, aber sie hält oft mehr, als sie verspricht. Wir können schön sein, wir können artig sein, wir können blöde sein, wir können Kleopatras, Messalinen oder Lukretias sein, wir werden immer sein, was wir in den Herzen unserer Freunde von Anfang an waren. Und wenn die Krittler und Nörgler ihre hochweisen Häupter schütteln; und wenn alle die, die ihre Mitmenschen bei lebendigem Leib einscharren, ihr Sterbesprüchlein leiern; und wenn die alten Tanten zetern und die Vettern und Basen das Kreuz schlagen: laßt euch nicht irre machen, denn wahrlich, ich sage euch mit Sganarelle:

Auf dieses Musterbild gießt Fülle eures Lichts,
und wenn ihr alles seht, so glaubt von allem – nichts.«

Mit anmutiger Gebärde ergriff sie den Sektkelch und man jubelte ihr zu. Der Vizekonsul spielte den Krönungsmarsch aus dem Propheten.

 

Um sechs Uhr morgens schon rollte der Möbelwagen vor das große Auffahrtstor. Ulrike, munter wie ein Wiesel, überwachte den Transport ihrer kostbaren Habe über die Stiegen und Korridore. Fortwährend schallten ihre warnenden Zurufe durch die sommerliche Morgenstille des Hauses: »Stoßt mir nicht den Mahagonikasten an die Mauer! Gebt mir zum Donnerwetter auf den Renaissancespiegel acht! Die Tischplatte ist aus Malachit; gnad euch Gott, wenn ihr sie fallen laßt!« Namentlich beschwor sie die Leute zu Dutzenden von Malen, die angeklebten Zettel nicht zu beschädigen, und schimpfte in wahren Fuhrmannsausdrücken, sooft ihren umsichtigen Anweisungen zuwidergehandelt wurde. Die Kisten und Koffer kamen zum Schluß.

Eine Stunde lang gab es ein lärmendes Auf und Ab, hastiges Reden, Fragen, Fluchen und Poltern, dann breitete sich wieder Ruhe über die verlassenen Räume.

Ein Lederköfferchen in der Hand tragend, trat Ulrike vor das Haus, schaute wohlgefällig zu, wie die Türen des riesigen Wagens verschlossen wurden, spannte den Schirm auf, da es zu regnen begann, und als sich das schwere Gefährt in Bewegung setzte, ging sie auf die andre Seite der Straße.

Nach einigen Schritten drehte sie sich um und blickte an der Front des schönen Palastes empor. Ihr Auge eilte von Sims zu Sims, bis es an jenem Fensterpaar haften blieb, hinter welchem, wie sie vielleicht dunkel empfand, eben jetzt Christine, die Herrin und Freundin, in den Armen Josephes ihre Seele aushauchte.


 << zurück weiter >>