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Zweiter Teil


Der Einwand gegen Gott

An einem Abend Ende Februar 1921 erhielt die Freifrau Josephe von Melander in ihrem Stadtpalais, wo sie sich um diese Jahreszeit befand, einen versiegelten Brief, dessen Inhalt sie in die lebhafteste Bestürzung versetzte und die unheilbare Wunde wieder aufriß, die noch keine Stunde aufgehört hatte zu brennen.

Der Brief lautete wie folgt:

 

»Liebe Mutter! Du wirst nicht wenig überrascht sein, ein Schreiben von meiner Hand zu empfangen, und ich vermute, daß Deine Überraschung keine angenehme sein wird; aber das ist nicht zu ändern, was zu tun ist, muß getan werden, und ich stehe unter Zwang. Du hast fünf Jahre lang nichts von mir gehört, ein Umstand, den Du anerkennen mußt. Die letzte Nachricht, die ich Dir sandte, war aus Genf, wenn ich mich recht entsinne. Ich bat Dich damals um etwas Geld, wir waren ganz abgebrannt, aber Du hattest nicht die Gewogenheit, meine Bitte zu erfüllen. Du geruhtest überhaupt nicht zu antworten. Anna hat mir den vergeblichen Fußfall nie verziehen; sie war rasend, als ich es ihr gestand, und äußerte Dinge über Dich, die mich schamrot machten. Aber ich mußte schweigen. Es war mein Vorsatz, eher an den Straßenecken zu betteln, als noch einmal Deine mütterliche Nachsicht anzurufen. Wenn ich diesem Vorsatz jetzt untreu werde, so geschieht es nicht meiner eigenen, in Deinen Augen unwürdigen Person wegen, sondern um unseres Kindes willen ist es, daß ich an Dein vielleicht doch noch nicht völlig erstarrtes Herz appelliere. Um mich verständlich zu machen, muß ich weiter ausholen.

»Ich kann und will Dir nicht verhehlen, daß es uns seit jenen Genfer Tagen hundeschlecht ergangen ist. Die Zeitungen, für die ich etwa ein halbes Jahr lang als Berichterstatter tätig war, lösten Knall und Fall die Verbindung mit mir; entweder genügten ihnen meine Arbeiten nicht, was kein Wunder gewesen wäre, denn Ekelhafteres als mit der Feder sein Brot verdienen kenn ich nicht auf der weiten Gotteswelt, ganz abgesehen von dem geistigen Pöbel, mit dem man dabei in Berührung kommt; oder es sickerte was von der Vergangenheit durch; es gibt ja überall Schufte, denen es nicht paßt, wenn ein Gestrauchelter sich anschickt, wieder zu marschieren. Genug, es ging bergab mit uns. Anna versuchte es mit ihren alten Soubrettenkünsten, ich verlegte mich auf die Börse, auf die Seifenagentur, auf kleine Dienstleistungen bei den Gesandtschaften. Der Krieg brachte einen da manchmal in odiose Situationen, aber schließlich, man mußte fressen und hatte für Weib und Kind zu sorgen. Ich will Dich nicht langweilen mit den verschiedenen Stadien meiner Not und Erniedrigung; Du wirst natürlich sagen, daß sie selbstverschuldet waren, und dagegen ist nichts einzuwenden. Selbstverschuldet, ja; aber der Mensch, wie er aus dem Mutterleibe kommt, hat sein Lebensgesetz, bedenke das. Einige Male wandte ich mich um Hilfe an Onkel Lothar nach Berlin. Weißt Du, was er mir nach dem dritten Briefe schrieb? Er werde meine Aufführung im Auge behalten, ließ er sich herbei zu antworten, und wenn während eines Jahres keine Klage über mich ruchbar würde und ich außerdem gewillt sei, mich von Anna scheiden zu lassen, sei er bereit, mich probeweise in seiner Dresdner Filiale anzustellen. Ich habe in meinem Leben nicht so herzlich gelacht. Wer, der zwischen Nordsee und Alpen den Namen Lothar Mylius kennt, ist im Zweifel, was sich dahinter und hinter seinem Reichtum an Lastern verbirgt, an gemeinsten Geschäftskniffen, an Wucher und Ausbeuterei? So sind sie alle. Bis zum Platzen geschwellt von Moral, und sticht man mit der Nadelspitze hinein, so entweicht Gestank. Eine solche Gesellschaft muß untergehn.

»Zur Sache. Vor fünf Monaten beschlossen wir, nach Wien zurückzukehren. Es war nicht eben schwer. Unter dem Namen, den ich seit dem Wandel meiner Umstände angenommen, Annas Mädchennamen, wie Du Dich ja erinnern wirst, habe ich hier gelebt, unerkannt bis zum heutigen Tag, wo ich die gastlichen Mauern meiner Vaterstadt wieder verlasse. Wenn Du den Gang antrittst, zu welchem Dich zu bewegen der Zweck dieser Zeilen ist, so hast Du in der Fünfhauserstraße 158 im fünften Stock nach Stephan Heinroth zu fragen, oder vielmehr nach seinem Töchterchen Fanny. Ich kann mir Dein Entsetzen ausmalen, wenn Du vernimmst, daß ich nach allem, was vor acht Jahren geschehen ist, monatelang in dieser Stadt geweilt habe. Aber das Damals gilt nicht mehr, denn ich bin nicht mehr derselbe. Ich bin Heinroth. Ich habe mir sogar den Schnurrbart abrasiert, woraus Du ersehen kannst, wie ernst es mir mit meinem Inkognito war. Kämpfe und Entbehrungen haben entstellende Furchen in mein ehemals so glattes Melandergesicht gemeißelt. Es war also kein Wagnis. Die Heimat rief, ich war wie gewöhnlich zu schwach, um zu widerstehen. Und noch etwas rief, ich will ehrlich sein: die aufgelockerte Welt, Möglichkeiten, von denen man früher nicht einmal träumen durfte, die aber jetzt allen Spittelweibern so vertraut sind, daß ihnen bei der bloßen Erwähnung das Wasser im Mund zusammenläuft. Was für eine Veränderung! Welche Siedehitze der Existenz, was für ein Jahrmarkt der Schurkerei und des Menschenhandels, wirklich, es ist eine Lust zu leben. Meine guten Landsleute sind wahrhaftig nicht blind an der Zeit vorübergegangen, das muß man ihnen lassen. Sie haben profitiert. Die alte Kokotte Wien hat alle Furcht und Scham von sich getan und ist zur frechsten, kupplerischsten, zuchtlosesten Messalina geworden, die Europa je erblickt hat. Warum nicht zugreifen? warum sollte meines Vaters Sohn da zögern und sich zieren? warum sich nicht auch ein wenig umgarnen lassen und der freigebigen Lustdirne etwas von ihren unrechtmäßig erworbenen Schätzen abluchsen? Also trieb ich meinen dürren Glücksklepper an die Futterkrippe. Man überschätzt mich noch nicht, wenn man mir ein bißchen Witz und Schliff zugesteht. Dies beides und ein neuer Frack und das Abenteuer konnte beginnen. Ich wurde Klavierspieler in einer Bar. Das war ja schon als ich ein behüteter kleiner Baron war mein bestes Talent. Anna fand unterdessen Beschäftigung als Maniküre. Wie fortgeschritten doch die Zivilisation ist; es gibt keine schmutzige Schlächtersgattin und kein unappetitliches Polackenweib mehr in dieser Metropole, die nicht auf glänzende Fingernägel hielte. Ich aber nutzte die Zeit und schloß förderliche Bekanntschaften und erwarb allerlei Gönner und man ließ mich hie und da aus der vollen Schüssel naschen und ich lauerte und guckte ins Räderwerk ihrer Manipulationen und paßte den Moment ab und habe nun die Ehre zu melden, daß der große Coup gelungen ist. Ich werde wieder ein Herr sein. Doch ist mir dabei der Boden unter den Füßen heiß geworden, und leider gebieten die Umstände, daß ich mit meiner treuen Begleiterin ein anderes Jagdrevier aufsuche. Ans Wandern sind wir gewöhnt. Weitere Aufklärungen kann ich Dir nicht geben, werden Dich auch kaum interessieren. Zur Furcht besteht für Dich kein Anlaß. Den Schlummer eurer herrlichen Gesetze hab ich diesmal nicht gestört. Sollten etwelche Leute Lust verspüren, es hinter mir zu tun, so werden sie sich bald eines Bessern besinnen. Sie haben sich selber die Finger verbrannt. Wir wollen uns in die Neue Welt begeben; Brasilien soll ein schönes Land sein, und gegen das gelbe Fieber kann man sich impfen lassen, höre ich. Daß ich Dir keine Visite gemacht habe, wirst Du mir kaum vorwerfen, da Du entschlossen bist, unversöhnlich bis ans Grab zu sein. Zur Stunde, da Du dieses liest, sind wir schon über alle Berge. Das Kind mußten wir zurücklassen. Es hätte unsere Bewegungsfreiheit gehemmt. Auch würde die Unrast unseres Lebens verhängnisvoll für ein neunjähriges Mädchen werden. Es war ein schwerer Entschluß, und ich leugne nicht, daß ich dabei auf Deine Hilfe gerechnet habe. Nimm Dich des Kindes an. Laß es nicht entgelten, was seine Eltern Dir zugefügt haben. Ich wage zu behaupten, daß Du Freude an ihm erleben wirst. Sonst will ich nichts zu seinem Lobe sagen; das Wort des Vaters würde ja nur Dein Mißtrauen wecken. Fanny weiß nichts von Dir. Sie kennt ihre noble Abkunft nicht. Da sie vier Jahre lang bei fremden Leuten in Yverdon am Neuchateler See gelebt hat, war für sie wenig Gelegenheit, den Namen Melander zu hören, auf den zu verzichten Ihr mich gezwungen habt. Wenn auch Anna in ihrem berechtigten Zorn nicht leicht zu bewegen war, die Aufklärung zu unterlassen, mir zuliebe hat sie es getan, meinem Stolz zuliebe, ein Wort, über das Du vielleicht verächtlich lächelst, aber es war doch so, daß ich vor meinem eigenen Kind nicht die Rolle des verlorenen Sohnes spielen wollte. Lösch mich völlig aus Deinem Herzen aus, wenn Du es für ratsam hältst, ich habe nichts dawider, ich winsle nicht um Gnade, aber zieh Deine Hand nicht von Fanny ab. Gott mag wissen, ob und wann ich sie wiedersehe. Nimm Dich ihrer an. Überspringe, wenn es hiezu dienlich ist, in der Stufenfolge der Generationen die Person und den Namen: Stephan.«

 

Das Blatt entfiel der Hand der Baronin. Totenbleich saß sie in ihrem Sessel, und das ohnehin reglose Gesicht gefror ganz.

Alles wurde wieder wach, alles stand wieder auf aus der schwer gelebten Vergangenheit, all das Schauerliche, Erbärmliche, Entwürdigende, das in dem Namen eingeschlossen war.

Die frühen Kämpfe; Wehr gegen Leichtsinn und Trägheit; die spielerische Tücke; der unbesiegliche Hang zur Lüge. Und sie allein mit ihm; in jedem Beschluß, in jeder Enttäuschung allein. Der Vater in fürstlicher Gleichgültigkeit augenlos, ohrenlos, nervenlos für die heranwachsende Gefahr. Damals hatte sein bestaunter Aufstieg begonnen; der Adel wurde ihm verliehen, Orden und Ehrenzeichen regneten über den Allbeliebten, von allen Vergötterten herab. Zu groß, zu hochmütig, zu beansprucht, sich mit einem Kinde zu beschäftigen, zu verwöhnt vom Geschick, um Übles zu fürchten, wies er jede Mahnung ab, verhielt sich feindselig gegen die Beängstigungen der Mutter und beschützte die bösen Neigungen des Sohnes in verkapptem Widerpart gegen die Gattin.

Sein unerwarteter, im ganzen Land betrauerter Tod dann: Erlösung für Josephe. Bittere Qual, sich dies heute noch, nach neunzehn Jahren, sagen zu müssen. Aber nun war die Verantwortung nicht mehr abwälzbar. Der Vierzehnjährige verwilderte erschreckend. Hatte auch vordem der Erzieher gefehlt, so war doch die eiserne Hand des Vaters, sein kalter Blick, seine stumme Herrschgewalt und Autorität wirksame Hemmung gewesen.

Auf einmal wucherten die schlechten Triebe ins Ungemessene. Worte fruchteten nicht mehr. Tausende und Tausende verschwendete der Halbwüchsling. Weigerte man ihm Summen, so trug er Wertgegenstände fort, stahl Schmuck und Geld, borgte von Untergebenen. Strenge verlachte er; Würde war nicht vorhanden für ihn; Lehrer waren ihm ein Spott; Scheu und Glauben besaß er nicht; Liebe war ihm nicht gegeben, nicht einmal zarte Regung; was er suchte, war Genuß, Ausschweifung, Spiel, Betäubung bis zur Tollheit, bis zur Selbstzerstörung. Josephe dachte an ihren Bruder Lothar, wie der als Knabe gewesen; waren da Blutströme hinübergeflossen in den Späteren, geheimnisvoll rachsüchtig, und mußte sich hier furchtbar vollenden, was dort durch Zucht und Erkenntnis noch in letzter Stunde vor dem letzten Verderben bewahrt geblieben war? Anfangs tröstete die Ähnlichkeit, bald aber schwand die Hoffnung auf gleichen Verlauf, denn das Melandersche Blut war mächtiger. Melandersches Blut; ein Ding und Element, das nur sie kennen konnte, nur sie allein von allen Menschen auf Erden.

Es wurde ärger. Es wurde so, daß sie oft glaubte, ihrem Leben ein Ende machen zu müssen. Szenen Tag für Tag; Forderungen von frecher Ungebührlichkeit; Wechsel, daß man die Wände des Hauses damit hätte tapezieren können; Aufsehen in der Gesellschaft; polizeiliche Erkundigungen und Warnungen. Im Alter von zwanzig Jahren hatte er viermalhunderttausend Kronen vertan, und die gerichtlichen Alimentationsklagen zählten nach dem Dutzend. Von keiner Seite Hilfe. Die Schwestern, wo waren die, was trieben die! phantastisch ausgelebt, sagenhafte Figuren in fremden Ländern; der Bruder egoistisch leer jede Gemeinsamkeit meidend; keine vertraute Person in vielen Jahren.

Sie schickte den Mißratenen auf Reisen. Er verausgabte das Zehnfache dessen, was ihre Generosität ihm zugebilligt. Er trat in den Heeresdienst; eine Weile schien es besser zu werden; sie atmete auf. Da kam das Verhältnis mit Anna Heinroth, einem Mädchen von beflecktem Ruf und dunkler Vergangenheit, das noch dazu fünf Jahre älter war als er. Sie erlangte eine geradezu unheimliche Macht über ihn; jedermann stand vor einem Rätsel, da sie weder schön, noch anziehend, noch begabt war. Seine Verschwendung stieg ins Wahnsinnige. Binnen wenigen Monaten hatte er sein ganzes Erbteil vergeudet. Der Einfluß jenes Weibes trat in jeder Äußerung hervor; sein Benehmen gegen die Mutter war das eines betrunkenen Reitknechts. Verdächtigungen, Vorwürfe, Wutausbrüche, Drohungen, Überfälle zu jeder Stunde des Tages und der Nacht; plötzlich, wie ein Donnerschlag, die Nachricht, daß er die Person geheiratet. Josephe weigerte sich, sie zu empfangen. In diesem Punkt blieb sie unerbittlich. Alles spitzte sich zur Katastrophe zu. Mit der Offizierslaufbahn war es natürlich nach der Eheschließung zu Ende. Gerüchte von Unregelmäßigkeiten tauchten zudem auf; um des Namens willen, des Vaters willen, verdienten Herrenhausmitglieds, dessen hohe Leistungen noch im Gedächtnis der Regierenden waren, hatte man davon abgesehen, ihn zur Rechenschaft zu verhalten. Er machte Schulden über Schulden. Josephe zahlte nicht mehr. Von Gläubigern und Geschädigten bestürmt, ließ sie ihn auf den Rat ihres Anwalts entmündigen. Er drang zur Abendzeit ins Haus, mit dem Revolver fuchtelnd, drohte, sie und sich zu erschießen, sie blieb steinern, da erpreßte er durch einen heuchlerischen Tränenstrom noch einmal eine große Summe. Kurz darauf beging er Urkundenfälschung. Eine Stunde vor der Verhaftung gelang es Josephe und ihrem Advokaten, nachdem sie eine ungeheure Kaution erlegt und beim Justizminister, einem ehemaligen Freund des Barons Eduard, gewesen waren, der Exekutivbehörde in den Arm zu fallen. Der Minister befahl Stephan zu sich. Er erschien, zerknirscht und trotzig, zitternd und verstört. Der Minister diktierte die Bedingungen, während Josephe halb ohnmächtig neben ihm saß. Eine letzte Abfertigung wurde gewährt. Jede Rückkehr aus dem Ausland, jede Verfehlung zog sofortige Sühne der verbrecherischen Tat nach sich. Da mußte er sich fügen. Da wurde Ruhe. Jahrelang war er verschollen.

In jener Zeit wußte Josephe nicht mehr, was Schlaf ist. Und in den Jahren, die folgten, fand sie Schlaf wenn nicht durch Medikamente nur bisweilen durch Zufall und Gnade. Dann durfte sich kein Fuß im Hause regen und keine Stimme flüstern.

Bei der Geburt dieses Einzigen hing ihr Leben an einem Faden. Die Kunst berühmter Ärzte rettete sie. Als sie genesen war, wagte sie das Kind nicht anzufassen. Als sie seiner als eines Lebendigen, ihr Zugehörigen, inne wurde, wagte sie es nicht zu lieben. Sie wagte nicht zu lieben: das drückt alles aus, was ihre Natur an Trübung und Ahnungslast zu tragen hatte. Nach fünfjähriger Ehe hatte sie ihn empfangen. Am Ende dieser fünf Jahre wunderte sie sich, daß sie noch existierte. Ihre Seele war wie mit einem Hammer zerhackt.

Dies war: man hatte es an sich gespürt; man hatte Tag um Tag und Stunde um Stunde damit verbracht. Man hatte geschwiegen und schwieg noch immer und würde voraussichtlich schweigen bis in die Ewigkeit. Da standen Möbel und hingen Bilder, die es gesehen hatten. Worte waren in die Tapeten hineingeschlüpft und moderten drin; die rückgreifende Erinnerung fand bloß Schutt; zwischen ihr und der Welt war unaufhebbare Einsamkeit wie meterdickes Eis.

Den Brief krampfhaft in den Fingern knitternd, erhob sie sich und schritt auf und ab. Zum zweitenmal wollte sie ihn nicht lesen. Der Geschmack von Zynismus, Roheit und Hohn, den sie davon behalten, machte sie elend. Aus wirren Überlegungen und verzerrten Erscheinungen schälte sich der Gedanke an das Kind heraus, das er ihr auf den Weg warf, der Verworfene. Sie schauderte. Aus ihm entstanden, dem Fluch ihres Daseins, der verkörperten Rache für die sündigste Schwäche, deren ein Weib schuldig werden kann, und es nehmen, pflegen gar, das hieß einen neuen Ring an die Kette des Leidens schmieden und Verschuldung ins Endlose fortsetzen. Was sollte von dorther anderes kommen als Unglück und Schlechtigkeit? Melandersches Blut, noch dazu vermischt mit dem vom Abschaum der Gosse.

An der goldgepreßten Tapete über dem Schreibtisch hing ihr Porträt, gemalt von Meisterhand, Frau von achtundzwanzig Jahren. Eine Norne. So hatte noch keine ausgesehen mit achtundzwanzig Jahren, welk und freudlos, die, umworben und über die gemeinen Geschicke erhöht, in beneidetem Reichtum lebte.

Schräg darunter, auf einem Ebenholzpostament, Eduard Melanders Büste, modelliert von Meisterhand, noch als Vierzigjähriger jugendlich schön, gewinnendstes Lächeln um die schmeichlerischen Lippen, die heitere Stirn unnahbar thronend, Schild des Vertrauens. Was soll man von Menschengesichtern erfahren, fragte sie sich bitter, wenn nicht einmal dem schauenden Abbildner offenbar wird, was hinter ihnen wohnt und geschieht? Er und sie eines Namens, im heiligsten Bund: Gott hätte es nicht zulassen dürfen. Das war ihr Einwand gegen Gott seit sechsunddreißig Jahren.

Sie öffnete die Tür und ging in den Nebenraum, wo es finster und kalt war, und ging weiter durch drei, vier finstere und kalte Säle des alten Myliusschen Palastes und haderte und wollte sich die Verpflichtung abfeilschen, die ihr der Brief auferlegte, und suchte einen Ort, wohin der Ruf nicht drang.


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