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Die Siegerin zu Füßen des Besiegten

Die alte Therese wurde entlassen und erhielt Lohn und Kostgeld für die Kündigungsfrist, eine Großmut, die sich Ulrike hoch anrechnete, da man nach ihrer Meinung Vorwände genug hätte finden können, um sich dieser Pflicht zu entziehen.

»Flennen Sie nicht«, sagte sie zu der untröstlichen Alten, »alles in der Welt hat mal ein Ende, auch ein Posten bei Mylius kann nicht ewig dauern.«

Am selben Vormittag trat eine perfekte Herrschaftsköchin ein. Es konnte nicht nur nicht die Rede davon sein, daß diese hohe Person Zimmer aufräumte, Betten machte und Kleider reinigte, sondern sie beanspruchte auch noch ein Küchenmädchen zur Hilfe. Bisher hatten die Töchter einen Teil der Hausarbeit geleistet; Ulrike verbot es nun; auch Christine durfte sich nicht mehr in Wirtschaftsangelegenheiten mischen; sie sollte sich schonen und gepflegt werden. Am Nachmittag erschien ein schmuckes Stubenmädchen namens Nanette, das zugleich das Amt einer Zofe versah.

Die Unterbringung der drei Leute war nicht leicht. Köchin und Stubenmädchen hatten sich in die Kammer zu teilen, das Küchenmädchen mußte in der Küche schlafen. Ulrike sagte zu Christine: »Wir müssen uns nach einer menschenwürdigen Wohnung umsehen. Man tritt einander auf die Füße, das ganze Jahr kein Strahl Sonne, Geist und Körper verkommen. Wir brauchen«, sie zählte an den Fingern ab, »neun, zehn, elf, zwölf Zimmer, Gesellschaftsräume ungerechnet.«

»Zwölf Zimmer? Gesellschaftsräume?« stammelte Christine; »Sie phantasieren, gute Ulrike. Wie wollen Sie denn das Mylius beibringen? Ist mir doch schon himmelangst davor, was er zur Vermehrung des Personals sagen wird, und zu allem andern, was bis zu seiner Rückkehr geschehen soll. Haben Sie denn gar keine Furcht?«

»Nicht im geringsten«, erwiderte Ulrike; »die meisten Tyrannen werden feig wie die Möpse, wenn der, den sie anknurren, ihnen gleichfalls die Zähne zeigt. Wär ich meiner Sache nicht sicher, so verdiente ich Prügel, weil das, was ich tue, Ihre Lage nur verschlimmern würde. Alles wird wie am Schnürchen gehen und auf ein bißchen Glück zähl ich auch.«

Ihre Kühnheit riß die Vernunft mit, und sie stürzte sich trotzig in die Gefahr. Als Kind hatte sie bisweilen den Kopf ins Ofenloch gesteckt, um den Flammen näher zu sein; als die Mutter sie einmal dabei überraschte, biß sie die Erschrockene in die Hand. Sie hatte ein impertinentes Zutrauen in den Einfall der letzten Stunde; ihre Lieblingsfabel war die von dem Mann im Brunnen, der zwischen dem Verderben unten und dem Verderben oben sich an süßen Beeren labt.

Die Wirtschaftsmaschine hörte auf zu knarren. Reibungen entfielen, die der Mangel an Dienst und Beistand hervorgerufen hatte. Mißstimmung wich dem Behagen. Die Zimmer waren gut durchwärmt. Dinge, die man brauchte, wurden einem zugetragen. Die Speisen waren von ungewohnter Reichhaltigkeit und Schmackhaftigkeit. Die Vorratskammer füllte sich von einem Tag zum andern mit Leckerbissen: Südfrüchten, Konfitüren, Schokolade, Pasteten, Wild, Geflügel, jungen Gemüsen und Büchsen mit Kaviar. Hatte man Appetit, so befahl man und es wurde serviert.

Für die Mädchen wurden Kleiderstoffe und Toiletten ins Haus geliefert; auch für Christine. Mäntel, Schlafröcke, Hüte, Seidenstrümpfe, gestickte Batisthemden, Schuhe und Handschuhe aller Sorten und für jeden Bedarf. Sie standen davor und wußten sich nicht zu fassen. Lothar bekam eine ganze Ausstattung, das Eleganteste und Teuerste, was in Modegeschäften zu haben war. Die Worte versagten sich ihm. Als ihm Ulrike ankündigte, er solle wöchentlich zehn Gulden Taschengeld erhalten, führte er einen Indianertanz auf. Er ging herum und raunte: »Was ist denn los? Hat Ulrike ein Gesetz erlassen, daß das ganze Jahr Weihnachten sein soll? Oder ist alles bloß eine dumme Zauberposse?«

»Auch ich versteh es nicht recht«, flüsterte Esther, »verstehst dus, Aimée?«

»Es kann leicht sein, daß wir träumen«, antwortete diese.

Wenngleich von Ulrike vorbereitet, das Wirkliche und Greifbare stand doch in zu schroffem Gegensatz zu allem Bisherigen, als daß ihr Erstaunen nicht ungemessen hätte sein sollen. Erst jetzt fingen sie an zu glauben.

Ulrike sagte zu Christine: »Sie sehen, was die Kinder entbehrt haben. Schenkt einem diese Freude nicht mehr, als der ganze Quark wert ist?«

Und sie schürte neue Wünsche, reizte zu neuen Begierden, versprach immer höhere Erfüllungen und wurde fast böse bei jeder Regung des Genügens. »Verzichtet und gedarbt habt ihr nun hinlänglich«, sagte sie; »jetzt ist nicht mehr die Zeit, bescheiden zu sein. Trinkt in vollen Zügen.« Eine Lehre, die nicht zweimal gepredigt werden mußte.

Josephe wunderte sich still. Zu still und unbeteiligt geht mir die herum, dachte Ulrike, auf die muß man ein Auge haben; und nicht nur das, man muß sie auch beschäftigen, man muß ihr Interesse an einen festen Punkt ketten. Und sie sann und sann, bis sie auf eine schimmernde Spur geriet.

Doch eilte alles Tun der nächstwichtigen Entscheidung zu. Es war ein Dienstagabend, als Mylius zurückkehrte. Daß das Haus anders war, als er es verlassen, mußte er beim ersten Blick merken. Schon seine äußerliche Lebensordnung war durch die Wandlung betroffen: er hatte das Schlafzimmer für sich allein; Christines Bett war in den Salon hinübergeschafft worden.

»Ein Provisorium«, sagte Ulrike lächelnd. Er starrte sie an.

»Wieso Provisorium?« stotterte er.

»Provisorium bedeutet, daß man eine Schwierigkeit durch ein unzureichendes Mittel so lange beseitigt, bis sich ein besseres bietet«, erklärte Ulrike mit liebenswürdigem Eifer.

Er starrte sie an.

Nanette, zierlich knicksend, brachte heißes Wasser in einem schönen neuen Krug. Er starrte diese fremde Person an. »Ein hübsches Kind, nicht wahr?« fragte Ulrike heiter; »aber Sie werden sich zum Abendessen richten wollen. Auf Wiedersehen bei Tisch.«

Sie lächelte ihm zu und verschwand.

Er sah ihr mit offenem Munde nach. Er zog Rock und Weste aus, fuhr mit der Hand über die Stirn, versank in Sinnen. Er vergaß, daß er in Hemdärmeln war, verließ das Zimmer, ging durch die Wohnstube, in der sich niemand befand, dann durch den Flur zur Küche. Er nahm wahr, daß neues Kupfergeschirr über dem Herd hing und eine neue hellbrennende Lampe von der modernen Art mit Runddocht auf dem Anricht stand. Köchin und Küchenmädchen grüßten landesüblich devot. Er starrte sie an. Er ging weiter.

Als er die Tür des ehemaligen Salons öffnen wollte, kam Ulrike heraus. Sie maß ihn mit verwundertem Blick; das Wollhemd, das er trug, war nicht besonders rein, auch die Hosenträger waren alt und fleckig. »Sie können nicht zu Ihrer Frau«, sagte Ulrike mit einer bedauernden Kopfneigung, »sie ist nicht wohl.« Er starrte sie an und kehrte wortlos um. Einige Schritte, und er stand vor Josephes Kammer. Er zögerte, drückte auf die Türklinke, blieb auf der Schwelle stehen. Josephe saß zwischen Ofen und Schrank auf einem Schemel, anscheinend in tiefe Gedanken verloren. Sie fuhr empor. »Was wünschst du, Vater?« erkundigte sie sich freundlich. Er wollte eine Frage an sie richten, unterließ es aber, da Ulrike im Korridor war, schüttelte den Kopf und betrat wieder das Wohnzimmer. Dort standen Esther, Aimée und Lothar am Fenster und führten ein lebhaftes Gespräch. Lothar äugte scheu zum Vater hin. Mylius stutzte. Er sah, daß die jungen Mädchen wie auch der Knabe neue Kleider trugen, Kleider, deren Neuheit förmlich prahlte; Aimées Füße staken in lackledernen Halbschuhen mit blitzenden Agraffen; Esther hatte einen rosa Gazeschleier über die Schulter geworfen; der Junge sah aus wie ein Geck, der zum Rennen fährt. Was ist das? fragte sich Mylius; sind sie allesamt rasend geworden? Und was für muntere Gesichter sie haben; die roten Wangen, die glänzenden Augen; und was soll das feine Porzellan auf dem Tisch? Geschliffene Gläser? Wein? Mineralwasser? Blumen? Bin ich bei mir oder wo bin ich?

Ein Gong ertönte im Flur. Nanette, wie eine kleine Rokokofee, brachte die Suppenterrine. »Wir warten auf Sie, Herr Mylius«, hörte er Ulrikes mahnende Stimme.

Er wankte in sein Zimmer zurück. Provisorium, dachte er stirnrunzelnd, ist sie bei Verstand? Gong, Stubenmädchen, Wein, Mineralwasser, Blumen … Abermals fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. Mechanisch leerte er den Krug mit heißem Wasser in die Schüssel und begann sich zu waschen. Plötzlich jedoch hörte er auf, mit der eingeseiften Hand das Gesicht zu reiben, die Augen erweiterten sich, der Blick wurde wild und irr, und er packte den Krug und schleuderte ihn zu Boden, daß er in zahllose Scherben zersplitterte. Zugleich stieß er ein gräßliches Gebrüll aus, wie ein Tier, das gestochen wird.

Draußen entstand Bewegung. Schritte eilten herbei, Stimmen wurden laut. Ulrikes Stimme beherrschte die andern. »Darf man hinein?« fragte sie. Er antwortete nicht, rannte auf und ab wie ein Tier, das gefangen ist. Ulrike trat ein, nachdem sie zuerst vorsichtig gespäht und denen draußen gebieterisch zugewinkt hatte, daß sie sich entfernen sollten. Mylius warf ihr einen zornfunkelnden Blick zu, ergriff das Handtuch, tauchte es ins Wasser, reinigte das Gesicht von Seifenschaum, trocknete sich mit der ungenäßten Hälfte des Tuches ab, schlüpfte mit ingrimmiger Hast in seinen Rock, stellte sich dicht vor Ulrike hin, bohrte seine trüben, von Blutäderchen durchzogenen Augen in ihre makellos klaren und schrie mit der Stimme eines Tieres, das sich bis zur Tobsucht erbost: »Erklärung! Rechenschaft! Sofort! Erklärung! Rechenschaft!« Und klopfte mit der linken geballten Faust auf die rechte.

Ob er nicht zuerst essen wolle? fragte Ulrike ruhig; man könne sich ja nachher besprechen. Nein, fauchte er, er wolle nicht essen; ehe er sich an den Tisch mit Wein, Mineralwasser und Blumen setze, wolle er Aufklärung und Rechenschaft haben. Er brauche sich nicht an den Tisch zu setzen, antwortete Ulrike sanft; sie werde ihm alles bringen; wenn er sich gekräftigt und den Hunger gestillt habe, werde er sie mit kühlerem Blut anhören können. Unter dem Einfluß des makellos klaren Blickes verstummte er. Sie ging hinaus und kam nach wenigen Minuten mit einem Servierbrett zurück, auf dem sich ein Teller mit Suppe und ein Teller mit Fleisch und Gemüse befand. Mylius hatte sich unterdes nicht vom Platze gerührt. Sie stellte das Brett auf ein rundes Tischchen, rückte einen Sessel heran und forderte ihn mit einer einladenden Handbewegung auf, sich zu setzen. Ihre vollkommene Ruhe bezwang ihn; die makellos klaren Augen, wie braunes Email anzusehen, schlugen ihn nieder. Er sank auf den Stuhl und fing an, die Suppe zu löffeln. Ulrike nahm einen andern Stuhl, setzte sich ihm gegenüber und schaute ihm mit einem Ausdruck von Wohlwollen zu, der ihm als der Gipfel der Frechheit erschien. Das Fleisch ließ er stehen. Finster fragend richtete er den Blick auf sie.

Ohne die Stimme zu erheben, sagte Ulrike: »Frau Christine hat in ihrer Not einen Ausweg gewählt, der ihr erlaubt vorkam. Sie hat eine Hypothek auf ihren Vermögensanteil aufgenommen. Sie konnte sich nicht mehr anders helfen.«

»Das ist eine Lüge«, stieß Mylius hervor, »eine zweifache Lüge; das tut Christine nicht von selbst, und wer in aller Welt gibt Hypotheken ohne Sicherheit und Pfand?«

»In diesem Falle bot der Name Mylius ausreichende Sicherheit«, erwiderte Ulrike kalt.

»So ist es ein Wuchergeschäft«, schäumte Mylius, »ein Wuchergeschäft mit Wucherzinsen.«

»Wir haben es mit einem anständigen Manne zu tun«, sagte Ulrike, »Sie müssen nicht gleich das Schlechteste denken.«

Mylius' Gesicht verzerrte sich. Er knirschte: »Ich anerkenne keine Forderung, von wem sie auch sei. Ich habe keine Einwilligung gegeben und zahle keinen Heller.«

»Sie irren sich«, versetzte Ulrike fast liebreich; »Ihre Verpflichtung besteht vor dem Gesetz, und Sie werden zahlen. Im übrigen handelt es sich um eine Summe, die für Sie gar nicht in Betracht kommt.«

»Ah! Ah! Ah!« machte Mylius und rieb sich die Hände wie ein Wahnsinniger, »die Dame hat mich also verraten. Die Dame hat mich wie ein ganz gemeiner Ohrendieb ausgehorcht, um das Geheimnis an die große Glocke zu hängen. Natürlich, natürlich; je höher der Kirchturm, je schöner das Geläut. Die Dame glaubte mich zu übertölpeln, mir die Würmer aus der Nase zu ziehen und ihren Spott an mir zu haben. Die Dame täuscht sich aber. Gewaltig täuscht sich die verehrungswürdige Dame. Ich gehe zu Gericht. Ich weise nach, daß ich das Opfer eines beispiellosen Betrugs geworden bin. Ich beantrage, daß die betrügerische Transaktion für ungültig zu erklären ist. Ich treibe es zum Prozeß. Ich gehe durch alle Instanzen. Ich lasse es auf einen öffentlichen Skandal ankommen. Ins Gefängnis werdet ihr gesteckt. Mit Schimpf und Schande wird man der verehrungswürdigen Dame die Beute wieder abnehmen. So wird es sein, genau so …« Er hielt inne, er geiferte, er erstickte fast.

»Wenn Sie zu vernünftiger Überlegung fähig wären, würden Sie einsehen, was für einen Unsinn Sie da zusammenreden«, sagte Ulrike verächtlich. »Sie wissen sehr gut, daß von einem Betrug keine Rede sein kann. Jeder Richter wird Sie mit Ihrer Klage nach Hause schicken und wird sagen: der Mann ist im Oberstübchen nicht ganz in Ordnung. Sie wissen ferner sehr gut, daß Sie für alle Schulden Ihrer ehelich angetrauten Gattin aufzukommen haben. Sie können höchstens verhindern, daß sie neue Schulden macht, aber dazu müssen Sie sie erst entmündigen lassen. Um die Entmündigung durchzusetzen, müssen Sie beweisen: entweder daß sie geistig nicht zurechnungsfähig ist, oder daß sie nach dem Urteil sachverständiger Personen und gemessen an Ihrer Vermögenslage, einen verschwenderischen Aufwand treibt. Probieren Sies einmal; die Ärzte und die Sachverständigen möcht ich sehen, die Ihnen dabei helfen. Und wie es mit den Töchtern und mit dem Sohn steht, wenn sie majorenn geworden sind, ob Sie denen den Pflichtteil vorenthalten können, wie Sie sich einzubilden scheinen, das käme auch auf den Versuch an. In diesem gelobten Lande dürfen ja die Menschen ihre Kinderschuhe erst mit vierundzwanzig Jahren ausziehen, ein staatserhaltendes Prinzip wahrscheinlich, alle haben dumm zu bleiben, bis Sie das Zipperlein kriegen; immerhin, bei Esther und Aimée rückt der Zeitpunkt langsam heran. Ich sage Ihnen, daß Frau Christine aufhören wird, sich zu rackern und Ihrem gemästeten Säckel zu Gefallen das Aschenbrödel vorzustellen; daß Sie sie standesgemäß erhalten, ihr die schwerverdiente Ruhe verschaffen und eine gesunde, geräumige Wohnung zubilligen werden, in der sie behaglich existieren und, wenn sie Lust hat, auch Leute empfangen und bewirten kann. Ja, das werden Sie tun, wenn Sie sich auch mit Händen und Füßen sträuben; wenn Sie mich auch am liebsten durchs Fenster auf die Straße werfen möchten. Aber mich werden Sie nicht los. Setzen Sie Himmel und Erde in Bewegung; ich folge Ihnen wie Ihr Schatten. Ich bin der von Ihrem Gewissen aufgestellte Gläubiger, und ich werde meinen Wechsel so lange präsentieren, bis Sie ihn auf Heller und Pfennig bezahlen. Weisen Sie mir die Tür! Tun Sie es doch! Führen Sie Prozeß gegen die Gattin, gegen Ihr Fleisch und Blut, gegen Recht und Vernunft, gegen die ganze Welt, tun Sie es doch! Wir wollen sehen, wie weit Sie damit kommen und wer zuerst klein beigibt. Nur zu! Wir fürchten uns nicht. Wir sind auf alles gefaßt.«

Sie hatte sich erhoben, und ihre Augen funkelten ihn mit zigeunerinnenhafter Wildheit lachend an. Aus seinem Gesicht verlor sich die Farbe. Der Blick floh unstet von einem Gegenstand zum andern. Mechanisch griff er nach Messer und Gabel und schnitt ein Stück Braten ab, ließ das Besteck wieder fallen und knickte zusammen, wobei sein Rücken rund wurde. Er schluckte heftig, langte nach dem Wasserglas und trank es leer.

»Das Einfachste ist, Sie entschließen sich zu einem Akt der Hochherzigkeit«, fuhr Ulrike in harmlosem Plauderton fort; »die gekrönten Häupter machen es nicht viel anders: wenn eine Rebellion derartigen Umfang gewonnen hat, daß die Krone zu wackeln beginnt, erlassen sie eine allgemeine Amnestie, und am nächsten Tag schreit das Volk wieder Hurra. Retten Sie, was noch zu retten ist, und am Hurra solls nicht fehlen. Aber was hat man vom Hurra? Sie werden praktischere Vorteile haben. Sie werden erfahren, wie einem Mann zumut ist, der in einer schönen, geordneten, glücklichen Häuslichkeit verhätschelt und verwöhnt wird. Sie werden wie von einem Alp befreit aufatmen; Sie werden leben, nachdem Sie dreißig Jahre lang bloß vegetiert haben; man wird Sie achten und lieben; man wird Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Sie werden wirklich besitzen, woran Sie sich bisher unter Furcht und Zittern nur wie in einem bösen Traum geklammert haben, und ich«, bei diesen Worten trat sie nahe an ihn heran, legte beide Hände auf seine Schultern und ihre Stimme wurde einschmeichelnd, »ich werde Ihre Magd sein, Ihre Hüterin, Ihre Freundin. Ist das nichts? Ist das zu wenig?«

»Der Teufel! der verfluchte, falsche, doppelzüngige Teufel!« entrang es sich Mylius; »was stellt er mit mir an, der wortbrüchige, ehrvergessene Teufel in Weibsgeftalt. Nun wird er mich peinigen Tag und Nacht, mich beschwatzen um mein Hab und Gut und mir die brennende Hölle zu kosten geben.« Er vergrub den Kopf in den Händen und wiegte ihn nach rechts und links wie ein Pendel. Es war ein Ausdruck der Schwäche, der Entmutigung, des Zusammenbruchs, als solcher auch von Ulrike erkannt, denn hinter ihm stehend lächelte sie fast mitleidig. In der Haltung und der hervorgemurmelten klagenden Verwünschung lag eine bizarre, grimassenhafte, armselige Tragik, die Ulrike im Bewußtsein ihrer Macht genoß. »Was für absurde, ungerechte Reden«, sagte sie leise und vorwurfsvoll, »schämen Sie sich.«

Mylius fuhr herum und streckte den Arm gegen sie. »Aus dem Haus, Elende!« schrie er; »verlassen Sie auf der Stelle mein Haus! Unterstehen Sie sich nicht, mir eine Silbe zu antworten! Aus dem Haus!«

Ulrike zuckte die Achseln und erwiderte geringschätzig: »Führen wir vielleicht ein Schauerdrama in einem Winkeltheater auf, Herr Mylius? Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich bin Ihre bezahlte Kreatur nicht, die Sie fortjagen können, ich bin Ihr Sprößling nicht, den Sie züchtigen können. Ich habe aus freier Wahl und Neigung meine Dienste Ihrer Familie gewidmet, die mich nötig hat, und die Menschenpflicht befiehlt mir, auf meinem Posten zu bleiben. Denken Sie in Ruhe über alles nach, was ich Ihnen gesagt habe, und wenn Sie ernsthaft mit mir verhandeln wollen, brauchen Sie mich nur zu rufen. Wünsche wohl zu schlafen.«

Mit grünglühenden Augen sah ihr Mylius nach. Als sie draußen war, erhob er sich, eilte zur Tür und drehte mit haßerfüllter Gebärde den Schlüssel um. Hände auf dem Rücken, wanderte er nun stundenlang im Dreiviertelkreis um das Bett herum. Warte nur, Teufel, ich werde dich schon auf die Knie zwingen, das war der Gedanke, der eintönig immer wieder in seinem Hirn aufstieg wie eine trübe heiße Blase. Dieser Gedanke wurde Sucht, alles überwältigende Begierde, formlos gärender Wahn. Er sah, wie sie sich vor ihm demütigte und um Gnade bettelte; er hörte die dunkel gurrende Stimme, die gebrochen war und nur den schmeichlerischen Klang noch hatte, indes er die in ihr enthaltene Reue und schmerzliche Zerknirschung einschlürfte wie perlendes Getränk.

Er wanderte die ganze Nacht hindurch, und am Morgen noch zogen die müden Füße willenlos den Dreiviertelkreis. Er ging in seine Gewölbe, Wirkung vieljähriger Gewohnheit, und wanderte dort von Raum zu Raum. Er ließ den Blaubebrillten die Kunden bedienen und kümmerte sich nicht um die Bücher und Fakturen. Er kehrte mittags nach Hause zurück, Wirkung vieljähriger Gewohnheit, betrat aber das Zimmer nicht, in welchem gegessen wurde, sondern wartete, bis ihm das Stubenmädchen, widerwärtige Figur, auf dem Servierbrett die Mahlzeit brachte. Scheu wie ein Einbrecher schlich er dann wieder davon, kam in den Laden, wanderte von Raum zu Raum, suchte um sieben Uhr das kleine Kaffeehaus auf, verharrte in finsterer Ungeduld auf seinem Stuhl, bis es acht Uhr schlug, und ging abermals nach Hause. Abermals erschien die widerwärtige Figur gleich einem verzerrten Kleinbild jener andern, maßlos Gehaßten, und er rührte nun keinen Bissen an. Den Judasfraß mag ich nicht fressen, sagte er zu sich selbst. Am nächsten Abend brachte er ein großes Paket mit Lebensmitteln heim: Wurst, Käse, getrocknete Fische und Brot. Er leerte ein Fach des Wäscheschranks und stopfte die Viktualien hinein. Darauf nahm er, vor dem Schrank stehen bleibend, einen frugalen Imbiß zu sich. Es wurde an die Tür geklopft. Er antwortete nicht. Nach einem zweiten Pochen betrat Ulrike das Zimmer.

»Ich wollte fragen, ob Ihr Zorn gegen uns nicht schon ein wenig verraucht ist«, erkundigte sie sich in bescheidener Haltung, ohne sich von der Tür zu entfernen.

Er antwortete nicht.

»Es wäre an der Zeit, daß Sie sich mit Ihrer Frau aussprechen«, fuhr Ulrike fort; »der Zustand ist für Frau Christine und für die Kinder recht unerquicklich.«

Keine Antwort.

Ulrike wartete wohl eine Viertelminute lang, ehe sie den furchtbaren Schlag führte, der der Zweck ihres Besuches war. »Auch fühle ich mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß wir das Palais des verstorbenen Herzogs von Chamfort gemietet haben«, sagte sie mit gezirkelter Gelassenheit; »am ersten Mai beziehen wir das Haus. Es ist nicht teuer, wenn man die Lage und die großen Verhältnisse bedenkt. Remisen und Stallungen, zahlreiche Wirtschaftsräume, gekachelte Küchen, fünf oder sechs Badezimmer, Marmorsaal und anderthalb Joch Park.«

Keine Antwort, nur Erstarrung. Der untersetzte kleine Mann vor dem Schrank hätte ebensogut aus Wachs sein können. Die Augen stierten glasig in das Nahrungsmitteldepot. Ungeheuerlich, was er hörte. Sein Gehirn drehte sich in Schrauben.

Die Stimme fuhr fort zu sprechen. Sie verbreitete sich über weitere Einzelheiten der neuen Wohnung. In Mylius überstürzten sich formlose Trümmer von Gedanken. Das Chamfortsche Palais gemietet; er wußte, was das war; ein Herrschaftssitz für Lebensführung größten Stils. Er hatte Lust, laut herauszuplatzen. Der Schlund brannte wie von Alkohol.

Man muß sich vielleicht mit ihr verbünden, dachte er; man muß ihr ins Gewissen reden, das Ungeheuerliche zu verhindern suchen; vielleicht kommt sie zur Einsicht. Er atmete schwer. Zu Kreuze kriechen also? wühlte es in ihm; die Einsicht dürfte nicht fehlen, aber die Bosheit, die Bosheit, die ist stärker als alles andere.

Im Notfall kann man ja zu äußersten Maßregeln greifen, war die nächste Erwägung; ich gehe zum Polizeipräsidenten, erlege eine Summe für die Armen, sagen wir tausend Gulden, bitte ihn um seine Unterstützung, und man schafft sie über die Grenze. Wenn es aber mißlingt? Die Leute sind oft feig und scheuen den Skandal. Hofratsnichte und so. Es könnten sich auch liberale Einflüsse geltend machen. Bei alledem bleiben die Schulden bestehen, die bereits auf meinen Namen laufen. Und die anwachsen, von Tag zu Tag anwachsen, barmherziger Gott! Wie wäre es, wenn man die Familie fortschickte, in eine andere Stadt spedierte? Oder wenn man dem Frauenzimmer selbst einen gewissen Betrag anbieten, sich von ihr loskaufen würde? Es läuft ja sicher auf eine ordinäre Erpressung hinaus.

Aber gerade dieser Gedanke, der Rettung verhieß, flößte die lähmendste Furcht ein.

Währenddem sagte Ulrike, immer in der gleichen bescheidenen Haltung und in herzlich besorgtem Ton, auch er müsse, schon aus Gesundheitsrücksichten, sein Leben gründlich ändern. Er brauche Menschen, er brauche Zerstreuung. Amüsantere Gesellschaft als die ihre könne sie ihm ja vorläufig nicht verschaffen; leider; aber späterhin sei nichts leichter als das. Hübsche Frauen, verführerische hübsche kleine Frauen. Junge Welt überhaupt. Da habe man zum Beispiel die Bekanntschaft eines Grafen Lex gemacht; er sei schon ein paarmal im Haus gewesen; lustiger Bursche, voll von Späßen und Tollheiten; die Mädchen interessierten sich ausnehmend für ihn. Ferner sei da ein junger Freund von ihr, Eduard Melander, den sie vorstellen wolle; eine Nummer eins; profund gescheit, bildhübsch, von tadellosen Manieren, Dozent der Nationalökonomie und Persona grata beim Bankpräsidenten von Wallersheim. Und noch jemand sei da, den sie vor allem im Auge habe, ihr Bruder Franz. Er verlasse jetzt seinen Posten in Madrid, und sie habe ihm geschrieben, er möge seine Herreise beschleunigen. Der unterhaltendste Mensch, den sie kenne; beliebt in den höchsten Kreisen der Gesellschaft und ein Meister des Klavierspiels. Sie erzählte eine Geschichte, die es bewies. In Paris hätten einmal Anton Rubinstein und er die Berceuse von Chopin abwechselnd hinter einer spanischen Wand gespielt und keiner der Zuhörer hätte unterscheiden können, wer am Flügel saß.

Mylius dachte: angenommen, ich wende mich an einen Advokaten; er wird sagen: Sie besitzen also soundsoviele Millionen und wünschen die Familie vom Zinsengenuß auszuschließen; was für einen Zweck verfolgen Sie damit? Ich schlage sie zum Kapital, erwidere ich; fünf Prozent von dreimalhunderttausend Gulden sind fünfzehntausend Gulden, und so hecken die Gulden, ohne daß ich nur den Finger rühre, immer neue Gulden. Leuchtet das nicht ein? Die Wirtschaft, die Erhaltung der Kinder, alles zusammen hat mich bisher etwa viertausend Gulden im Jahr gekostet; das übrige hat geheckt; können Sie das nicht begreifen? Er begreift es vielleicht wirklich nicht. Er stellt sich gegen mich und verrät mich am Ende auch noch. Die ganze Welt ist gegen mich. Alles ist verloren.

»Die Kinder sind heute abend im Theater«, sprach Ulrike weiter; »ich hab ihnen eine Loge genommen. Nur Josephe ist zu Hause. Mit Josephe hat man einen schweren Stand; sie macht sich aus keinem Vergnügen was. Frau Christine hat sich zur Ruhe begeben. Sie klagt beständig über Kopfschmerzen. Sie muß im Juni fort, nach Nauheim oder Aix-les-Bains, später ins Engadin. Sie hat viel Versäumtes nachzuholen.«

Bei jedem Wort fast zuckte Mylius wie bei einem Nadelstich zusammen.

»Sie haben es hier kalt«, fuhr Ulrike fort, »die Glieder erstarren mir schon. Kommen Sie doch ins Wohnzimmer hinüber, dort ist es behaglicher und wir können ebensogut plaudern. Spielen Sie Pikett? Wir könnten eine Partie Pikett spielen, das lenkt ab. In London hab ich jeden Abend mit Sir Edward Craffts gespielt; dafür nannte er mich seine Sorgenverscheucherin. Es ist kinderleicht; in einer Viertelstunde haben Sies inne, wenn Sies noch nicht können.«

Sie ging auf ihn zu und bot ihm lächelnd den Arm. Er rührte sich nicht. Da fixierte sie ihn, bückte sich ein wenig und sah ihm aufmerksam in die roten, wimperlosen Augen. Ihre Züge nahmen den Ausdruck der Besorgnis an.

»Das gefällt mir nicht«, sagte sie kopfschüttelnd; »Ihre Augen gefallen mir nicht. Wenn mich nicht alles trügt, ist irgend etwas mit Ihrer Leber nicht in Ordnung. Lassen Sie mal sehen; halten Sie eine Sekunde still; die Iris ist ganz gelb; und der Blick: so schwimmend, so gespalten. Das sind sichere Anzeichen. Aber Sie brauchen nicht zu erschrecken; es ist eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert, wenn Sie sich schonen. Dazu brauchen wir nicht einmal einen Arzt. Am Morgen ein Glas Karlsbader Wasser, dann ein bißchen Bewegung, und strenge Diät. Darauf versteh ich mich aus dem Effeff. Ich habe ja fünf Monate lang eine leberleidende Dame gepflegt, die gute Lady Pomfret in Tettenham. Vor allem ist Aufregung zu vermeiden. Aufregung ist Gift. Keine Zornausbrüche, keine Szenen, keine plötzlichen Wallungen.«

Bis zu dieser Stunde hatte sich Mylius niemals um seine Gesundheit gekümmert. Er hatte niemals über seinen Körper und dessen Funktionen nachgedacht und niemals das geringste Unbehagen verspürt. Die angebliche Entdeckung Ulrikes machte ihn stutzig, hauptsächlich weil sie ihn so unerwartet traf und weil Ulrike einen so ängstlichen Eifer zeigte. Es wollte ihm jetzt allerdings scheinen, als habe er gewisse Beschwerden außer acht gelassen, gewisse Mahnungen unterdrückt, und er erbleichte bei dem Gedanken, eines seiner Organe könne in aller Stille von einem Leiden befallen sein, das möglicherweise unheilbar war. Wie alle gesunden Männer hatte er seine Natur für gefeit gegen Krankheiten gehalten, und Ulrikes Worte erregten daher, je länger er sie überlegte, eine desto größere Bestürzung in ihm.

Da er sich noch immer nicht rührte, ergriff sie seine feuchtkalte Hand und zog ihn mit einem aufmunternden Laut aus der Versteinerung. Er ging mit ihr, und seine Züge boten das Bild eines inneren Sturmes und einer Niederlage, der sich Scham und Entmutigung gesellte. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, hieß ihn im Lehnstuhl Platz nehmen, und als sie bemerkte, daß seine Füße noch in den schweren und schmutzigen Stiefeln steckten, kehrte sie zurück, um seine Hausschuhe zu holen. Sie kniete nieder, schnürte die Bänder auf und zog die Stiefel herunter. Er trug Fußlappen, die nicht ganz sauber waren; keine Spur von Ekel verriet sich in ihren Mienen. Er sah sie mit düsterer Verwunderung an, wie sie vor ihm kniete. Sie lächelte. Er wandte erschrocken den Blick wieder ab.

Da gewahrte Ulrike, daß Josephe unter der Türe stand. Sie war leise eingetreten und schaute stumm und ernst auf die vor dem Vater kniende Ulrike.

»Suchst du was, Josephe?« fragte Ulrike stirnrunzelnd.

Josephe schüttelte den Kopf und ging wieder hinaus.


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