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20.

Der alte Herr, der so freudig von hinnen gegangen, lag in seiner Gruft. Richter wohnte in der Stadt, wo ihn Alles täglich noch an eine trübe Vergangenheit gemahnte, eifrig beschäftigt, seine Verpflichtungen in Amerika zu lösen und über eine neue Zukunft zu denken, in die er an der Seite einer der edelsten Frauen eintreten sollte.

Seine alten Freunde umgaben ihn mit warmem Interesse. Richter's Genie war bei dem Fortschreiten der großartigen städtischen Werke oft vermißt worden. Er war täglich bei den Arbeitern zu sehen und fand Manches nicht in seinem Sinne fortgeführt. Indeß neue Pläne entwerfend, jeden Nachmittag auf dem Wege nach Auershof, wo die in tiefe Trauer gehüllte Gestalt Helminens ihn bereits auf der Veranda erwartete, verstrich ihm die Zeit; der traurige Eindruck, den er aus manchen Berührungen davon getragen, verblaßte mehr und mehr; er fand in Helmine eine empfängliche Seele, die alle seine Gedanken mit reichem Verständniß aufnahm, eine thatlustige Natur, der das Schaffen und Denken ein Bedürfniß; und wenn Ballmann wie gewöhnlich jetzt Nachmittags einen flüchtigen Besuch gemacht, kehrte er stets von seiner Promenade in der Ueberzeugung heim, diese beiden urkräftigen Menschen mit ihren gesunden Herzen und ihrem auf gegenseitiger ehrlicher Zuneigung beruhenden Einklang seien ein mustergültiges Paar, dem ein Hühnengeschlecht entsprossen müsse und in dessen ehelichem Glück kein Nagel, keine Niete werde wanken können.

Richter hatte es nicht verschwiegen bleiben können, bis zu welcher Stufe des Elends sie gesunken, in der er einst, blind genug, die Bedingung seines Lebens gesucht. Es war ihm sogar Eins nicht erspart geblieben, was er täglich gefürchtet – er hatte ihr begegnen müssen in einem der entlegensten, ärmsten Stadtviertel, wohin ihn mit einigen Kollegen neue Baupläne geführt.

Er hatte die Demüthigung erleben müssen, daß die Letzteren sie zuerst gewahrten und erkannten, wie sie am Gartenrain auf der Holzbank unter einer hohen Ulme verlassen dasaß, beim Herannahen der Männer aufgescheucht sich entfernte und hinter dem Strauchwerk des verwilderten Gartens verschwand.

Er fühlte sich beschämt. Der Gedanke an die Gefallene hatte ihm schon manche trübe Stunde bereitet. Mit Helmine aber hatte er über die Möglichkeit, ihr aufzuhelfen, nicht zu sprechen gewagt. Er suchte am nächsten Tage Ballmann auf, den ehemaligen Allerwelts-Anwalt, der aber schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie, lieber Freund,« sagte er »es ist wohl kein Mensch so tief gesunken, daß er nicht der Einsicht seiner Schuld, seiner Schande zugängig wäre, aber wie unsere Gesellschaft einmal aufgebaut ist, nutzt es ihm nicht, selbst wenn der liebe Gott in eigener Person ihn bei der Hand nähme und sagte: seht, ich habe mehr Freude über einen reuigen Sünder als über neunundneunzig Gerechte! Es kann Einer der größte Schurke sein, wenn er nur den Fuß in der Gesellschaft behält. Wer den Bügel verloren hat, dem wird auch der Hufschlag nicht erspart werden, und sei es der eines Esels. Ist aber ein Weib gefallen, so sind Diejenigen ihre nachsichtslosesten Richter, die mit ihr gesündigt haben, denn bei allen Vergehen gegen die Moralität wird nur Eine gestraft und die straft sich selber.«

»Wie wollen Sie ein Weib wieder aufrichten, wenn es aus solcher Stellung bis zur untersten Stufe gesunken! Es ist ein ganz Anderes mit einem Mädchen aus dem Volke, dem keine Erziehung das Bewußtsein weiblicher Würde gegeben; die mag in einem unserer Rettungs-Asyle wieder Sinn für eine rechtschaffene Thätigkeit finden, und ist's auch von Hunderten nur Eine; aber Diejenige, die sich aus der Gesellschaft in den Schlamm des Lasters verloren, wird, wenn wirklich die Reue in ihr geweckt ist, mit dieser auch die Selbstverachtung in sich einkehren sehen und aus Verzweiflung durch die Flucht aus den Händen ihres Retters dieser Reue oder ihrem elenden Leben ein Ende machen, aus dem sie nichts von ihrer Erniedrigung und Schande erlöst.«

»Stören Sie also nicht Ihre eigene Ruhe, indem Sie feurige Kohlen auf einem Haupte sammeln, das Ihrer Theilnahme nicht würdig! Unter uns gesagt, hat Ihre Braut sich heimlich schon Mühe gegeben, der Unglücklichen vorläufig wenigstens habhaft zu werden, sie entzieht sich aber furchtsam jeder Nachforschung. Ueberlassen Sie einer Frauenhand, was Sie zu thun gesonnen, denn Ihnen würde die Welt das nur als Schwäche anrechnen.«

Ballmann hatte Richter nur die halbe Wahrheit gesagt. Als einstiges Mitglied der Frauen-Vereine hatte er selbst im Einverständniß mit Helmine bereits seine Verbindungen benutzt, um der Verirrten habhaft zu werden, jedoch bis jetzt keinen Erfolg gehabt ...

Die Unglückliche war nämlich seit jenem Abend, wo sie mit Marion vor Frettchens Fenster erschienen, obdachslos umhergeirrt. Auch die Gefährtin des Elends, an die sie sich geschlossen, als sie heimlich und noch immer mit dem Fieber in den Adern aus dem Krankenhaus entwichen, auch Marion hatte sich von ihrer Seite gestohlen, nachdem sie ihr von Frettchens Gelde ein dürftiges Mahl gespendet; Stella hatte sie vergebens gesucht.

Die Angst, wieder in das schreckliche Haus zu den übrigen Schicksalsgenossinnen gesperrt oder als obdachslos vor das Schöffengericht geschleppt zu werden, trieb sie menschenscheu umher; sie suchte Tags die abgelegensten Stätten, schlich Nachts wie eine flüchtige Verbrecherin in den Gassen umher – den Hunger und das Fieber in den Eingeweiden, die Angst vor Verfolgung im Herzen, mit hohlen Augen, fiebergelbem Antlitz, wehen, schmerzenden Füßen, an denen der Herbstregen das Schuhzeug zerweicht.

Der scharfe Wind durchschüttelte sie in der dürftigen Kleidung, wenn sie draußen vor der Stadt auf den Aeckern das reife Feldobst als einzige Nahrung suchte, die Ermüdung lullte sie spät in der Nacht ein, wenn sie unter irgend einem elenden Schutzdach Ruhe gesucht und zähneklappernd erwachte sie, wenn der Tag anbrach, in von dem Nebel durchfeuchteten Kleidern. Ihr hatte das Jammerleben keinen Werth mehr. Sie sank zuweilen kraftlos um Mitternacht zusammen in der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen.

Marion, so hatte ihr endlich eine ihrer Unglücksschwestern gesagt, die ihr Nachts begegnete, Marion sei in's Krankenhaus und von da in's Arbeitshaus gebracht. Sie hatte also keine Hoffnung mehr, sie wiederzufinden, deren Schicksal ihr wenigstens eine Tröstung gewesen.

Juliane, so hatte ihr ein Arbeiter aus der früheren Holsteinschen Fabrik erzählt, als er mitleidig eines Abends in einem Wirthshaus der halb Verhungerten ein Abendbrot bezahlt, Juliane, die noch immer leidlich hübsch war, habe mit mehren Anderen das Anerbieten einer Frau angenommen, nach Brüssel zu reisen.

Auch sie also, der sie immer noch einmal zu begegnen gehofft, war nicht mehr da! Sie war krank und allein, sie wurde gemieden sogar von ihren Schicksalsgefährtinnen, die ihr Nachts mit Verachtung aus dem Wege gingen. Das Schrecklichste aber war ihr, wenn sie Abends frühere Bekannte in ihren Conzert- und Theatertoiletten an sich vorüber gehen sah, wenn ihr Richter's oder Carl's Freunde begegneten, die ihre Frauen am Arm führten und die Unglückliche keines Blickes würdigten, die frierend im Schatten stand und auf irgend einen Barmherzigen wartete, der ihren Hunger stille.

Sie hatte keine Ahnung, daß Ballmann auf Helminens Wunsch nach ihr suchen lasse, denn sie floh den Tag, sie fürchtete die Nacht, und wie das so oft geschieht, das junge Leben hatte trotz dem in ihr schleichenden Fieber so viel Zähigkeit und Widerstandskraft, daß es Alles, Alles überstand!

* * *

Dichter Nebel hatte eine Woche hindurch auf Stadt und Fluren gelegen. Der Herbst verabschiedete sich jetzt mit einigen hellen, blaßgoldigen Tagen.

Der Reif lag am Morgen auf den grauen Stoppeln und glitzerte auf den Gräsern der Wiesen. Die Vegetation in ihrer Erstarrung glaubte noch einmal an die Wiederkehr schönerer Tage; Alles, was sich schon zum Winterschlaf vorbereitet, athmete auf und im Park, in der Waldung von Auershof sangen noch einmal die Vögel in dem vergilbten Blattwerk.

Auf der Chaussee, die an Ballmann's Villa vorüber nach Auershof führte, schritt gegen Mittag eine dürre Frauengestalt in beschmutztem, verschlissenen Kleide, einen von Wetter und Sonne entfärbten Hut über dem Haar, das der scharfe Nordost um Stirn und Schläfe peitschte.

Die Landleute, die eben aus der Kirche kamen, blickten mit mehr Scheu und Mißtrauen als Mitleid auf die Landstreicherin, die Kinder gingen ihr furchtsam aus dem Wege. Auf Niemanden achtend, das hohläugige, vom Frost geröthete Antlitz nur dem nahen Walde zugewandt, schritt sie vorwärts in den zerrissenen Schuhen, mehr mit der Bewegung einer Kugel, die im Rollen ist, als dem tactmäßigen Schritt des Menschen.

Der Wald schien ihr Ziel. Dort gab's Schutz vor dem scharfen Wind; dort barg sie die Einsamkeit vor der Neugier, dem Argwohn und dem Abscheu der Menschen gegen das Bettelkleid; dort konnten die wunden Füße ruhen, und dort gab's Stille und Muße zu einer aus dem Elend erlösenden That. Dort mochte auch der grausige Winter ihr willkommen sein, der dem Obdachlosen ein so mildthätiger Hauswirth, wenn er ihn in seine Arme nimmt, ihn in seine weiße Decke hüllt und ihn zum ewigen Schlummer einlullt.

Zu einer erlösenden That! Ja wer den Muth, wenigstens die physische Kraft dazu besaß! Wie oft hatte sie gesonnen über diese That und sie nicht anzufangen gewußt, selbst wenn eine barmherzige Stimme in ihr rief: sieh hier, sieh dort! Ein Entschluß, ein Sprung, und es ist alles Alles geschehen! Aber sie trug ihr Unglück weiter. Es ist ein Geheimniß des Elends, daß es so feige duldet, selbst wo keine Hoffnung mehr.

Seit mehreren Tagen schon streifte Stella hier draußen umher. Sie glaubte sich nicht mehr sicher in der Stadt; sie wußte jetzt, man suchte, verfolgte sie. Ballmann, der die Veranlassung hiezu war, sah sie nicht, als sie an seiner Villa vorüberglitt und sich unter den halbentlaubten Syringen-Büschen des Gartenzaunes zu decken suchte.

Warum sie gerade den Weg nach Auershof nahm, sie wußt' es nicht. In ihrem Gehirn war nur noch Dämmerung, selbst ihr Auge hatte jede schärfere Unterscheidung verloren. Der Tag war ihr grau, die Nacht erschien ihr hell, weil sie an diese gewohnt; sie bewegte sich wie eine Schlafwandelnde; ihre Glieder thaten ihren Dienst, nur der Furcht gehorchend, die sie jagte, als habe sie noch zu verlieren, wenn man ihrer habhaft ward.

Hier draußen kannte sie die Gegend; hier glaubte sie einen Schlupfwinkel zu finden. Der Pavillon im Park von Auershof ward im Herbst schon nicht mehr benutzt; von dort aus – der Gedanke erwachte in ihr auf der Landstraße – wollte sie am Abend im Dorfe von Auershof eine alte Büdnerin aufsuchen, für die sie als Mädchen bei dem alten Auer oft ein gutes Wort eingelegt. Bei ihr hoffte sie einige Tage heimliche Unterkunft zu finden, um die erstarrten Glieder auszuruhen und die Schmerzen zu betäuben, unter denen sie sich oft krümmte, und was dann ... Sie wußte es nicht; sie vermochte nicht mehr zu denken als was das Allernächste.

Der Wind blies durch ihr dünnes, fadenscheiniges Kleid auf der Höhe, von der sie oft an Helminens Seite über die weite Umgebung geschaut, ohne der Freundin warmes, poetisches Empfinden beim Anblick der schönen Fluren, des großen im Westen liegenden Häusermeers zu theilen.

Niemand begegnete ihr hier. Sie huschte durch den Graben, pflückte die vom Reif versilberten Brombeeren, trat in den Wald und schaufelte mit dem zerrissenen Schuhzeug das feuchte, modernde Blattwerk auf.

Immer tiefer schritt sie hinein. Der Herbst hatte den dichten Dom über ihr gelichtet; gleich Schmetterlingen, vom Winde getrieben, flatterten die gelben Blätter auf sie herab; die Raben krächzten in den Wipfeln, erhoben sich und zogen über den Wald dahin. Dann war's wieder Todesstille. Die grauen Buchen- und die weißen Birkenstämme, sie standen so ungastlich da; nur der Fuchs huschte, die Blätter hinter sich aufstiebend, durch das Waldrevier und die Elster, die einsame, wippte in den Zweigen.

Drüben im Osten hinter der Waldung und dem daranstoßenden Park lag der Herrenhof. Niemand hatte ihr gesagt, daß der alte Auer sich schlafen gelegt.

Sie empfand nichts, was sie an schönere Zeiten hätte erinnern können, als sie die ihr einst wohlbekannten Waldwege zum Park durchschritt; das Elend hatte jede Empfindung in ihr abgestumpft; auch der Hunger war ihr eine Gewohnheit schon. Sie hatte selbst das Bedürfniß des Erbarmens von Seiten Anderer für sie nicht mehr; nur in Sicherheit ausruhen für wenige Tage, um das Fieber zu beschwichtigen, das war ihr Gedanke.

Ein breiter Chausséeweg trennte den Park von der Waldung. Das Gehege desselben war niedergetreten; das Wild war hier ausgebrochen. Sie schritt hinüber. Niemand begegnete ihr auch hier. Tiefe Sabbathruhe herrschte überall.

Hier im Park war's ihr, als dämmerten ihr alte Erinnerungen. Wie oft war sie hier umher gewandelt. Aber sie sah sich selbst nicht mehr, wie sie als übermüthiges Mädchen hier gespielt. Das konnte ebenso gut eine Andere gewesen sein.

Nur Hanna trat ihr deutlicher in's Gedächtniß ... Hanna, ihre Feindin! Sie hatte sich gerächt an ihr. Der Gedanke führte ihr auch die Ursache ihrer Feindschaft näher, als sie den Pavillon durch die Bäume schimmern sah.

Sie hielt inne; furchtsam blickte sie umher. Aber Niemand war auch hier.

Der Weiher lag vor ihr. Die kalte, blasse Sonne schien auf die Lichtung über demselben, sie bestrahlte die Doppelgruppe Amor und Psyche zwischen den entlaubten Trauerweiden, die gleich Bindfäden ihre Zweige herab senkten.

Es war etwas geschehen damals mit diesen Statuen! Der Sturm hatte sie hinabgeworfen in jener Nacht, als Hanna ...

Die Erinnerung dämmerte ihr immer klarer. Regungslos stand sie da, die herabhängenden, vom Frost gerötheten, kalten Hände in einander legend. Und jetzt ward's allmälig lebendiger in ihr. Bilder zogen in ihrem kranken, fast gelähmten Gehirn, vor ihren wie im Traum schauenden, glanzlosen Augen vorüber, Bilder, die ihr fremd geworden seit sie der Welt des Elends angehörte, die so weit von jener, in der sie einst gelebt.

Es war der Traum einer halb Bewußtlosen, Hallucination, die auf wirklicher Vergangenheit ankerte. Sie empfand die Kälte nicht, die durch ihre Glieder schlich; sie starrte hierhin, dorthin, erkennend, wie im Halbschlaf bewußt und doch unfähig des wirklichen Empfindens, die Statue einer Unglücklichen, die eben durchlebt was der Künstler an ihr dargestellt.

Hier an dieser Stelle, hinter der Marmorgruppe, ja, hier war etwas geschehen – ihr däuchte, sie sei es selbst gewesen, die es gethan. Jener Mann, den sie gehaßt, hatte sie hier mit seinen Armen umschlungen ... sie selbst! Dort hatte sie gestanden unter den Trauerweiden ... Und da drüben hatte Hanna sich auf sie gestürzt ... Sie hatte einen Schmerz empfunden ... Blut hatte ihr weißes Kleid gefärbt ... Und dort ... dort am Rande des Weihers, umgeben von den Lichtern im Rasen, hatte sie gesehen, wie dieselbe Hanna mit brennenden Kleidern im Grase lag ... Danach war eine lange, böse Nacht gekommen ...

Sie stand da. Alle die Bilder quirlten wie aus einem Nebeldampf heraus in ihrem Gehirn ... Das helle Aufjauchzen einer Kinderstimme ließ sie plötzlich zusammen schrecken. Ein Knäbchen sprang über den Rasen, einem Eichhörnchen folgend. Er hielt inne, kaum einige Schritte von ihr, schaute zu dem Baum hinauf, an dessen Stamm das flüchtige Thier hinauf gehuscht.

Sie blickte hin. Das blöde Auge flackerte im Fieberglanz. Der Knabe sah sie erstaunt an und schaute mißtrauisch auf sie.

»Hast Du das schöne Eichhörnchen gesehen?« fragte er, dreister werdend. »Bitte hol' es mir herunter! Wenn der Onkel da wäre, er thät' es gleich!«

Stella hatte denselben Kleinen erkannt, dem sie auf der Promenade den Ball gereicht. Sie starrte auf ihn; ein Schütteln ging durch ihren Körper; sie schlug die von Kälte erstarrten Hände vor die Augen.

»Was ist Dir? Bist Du krank?« fragte mitleidig der Kleine, zu ihr tretend. Ein Aechzen entrang sich ihr. Einer jener selischen Vorgänge, deren auch der Elendeste, Verworfenste fähig, hatte sich der Unglücklichen bemächtigt. Sie senkte die Hände, sie preßte sie auf die Brust; dann zu dem Knaben wankend, sich zu ihm beugend, streckte sie die Arme aus.

Sie wollte sprechen, aber ihre Zunge war keines Lautes fähig. Sie suchte das Händchen des Knaben; er weigerte es ihr mit Abscheu und trat erschreckt von ihr zurück.

»Ich kann Dir ja nichts geben, arme Frau!« sagte er mitleidig, als er, ihr ferner stehend, das abgezehrte, voll Angst und Schmerz verzerrte Antlitz, ihre zerrissene Kleidung sah. »Aber Tante Helmine, o, die giebt allen Bettlern! ... Da kommt sie eben; ich will sie rufen!«

Der Knabe eilte fort, dicht am Rande des Weihers entlang.

»Berthold, sei vorsichtig!« rief ihm eine helle Frauenstimme entgegen.

Stella war zurückgetaumelt. Sich hinter der Marmorgruppe bergend, das Postament mit den Armen umklammernd, an ihm sich aufrecht erhaltend, schaute sie vor sich hinaus auf die Veranda gegenüber, auf welcher eben zwei in Trauer gehüllte Frauengestalten erschienen.

Alles was vorhin die Traumbilder ihr im Dämmerlicht des kranken Gehirns zurückgerufen, ging eben wahrhaftig im hellen Glanz der den Pavillon beleuchtenden Sonne vor ihr auf: Helmine stand da, und neben ihr die bleiche, schwindsüchtige Hanna ... Und jetzt eben trat hinter sie, Beide überragend, eine hohe, imposante Mannesgestalt ... Richter, der Helminens Ruf gehört, während der Knabe, auf halbem Wege am Ufer des Weihers innehaltend, mit dem Arm nach der Stätte deutete, wo ihm die Bettlerin begegnet.

Richter hob lächelnd, aber drohend, den Arm, ihn vor dem Ufer warnend. Der Knabe deutete auch ihm die Stelle an, als bitte er um ein Almosen für die Unglückliche.

Alle Drei schauten von der Veranda fragend in der Richtung. Auch der Knabe suchte die Bettlerin.

Da plötzlich that er einen gellenden Aufschrei. Die Drei in der Veranda eilten an die Ballustrade.

»Eine Frau im Wasser! ... Da ... da!« schrie der Knabe angstvoll hin und her rennend.

Richter war mit wenigen Sprüngen vom Balkon herab. Er erreichte das Ufer. Er sah unter den Trauerweiden, wie das trübe, von Froschlaich und Algen überzogene Wasser unter der grünen Decke weite Ringe zog und große Blasen aus der modrigen Tiefe aufstiegen. Rathlos stand er da; die Frauen waren ihm mit wankenden Knieen gefolgt.

»Ein Unglück! Schnell, Hülfe herbei!« rief Helmine, die Hände ringend. »Gott im Himmel, was kann nur geschehen sein!«

Richter eilte unter die Trauerweiden; er beugte sich vor und schaute in das noch immer bewegte, von unten heraufbrodelnde Wasser.

»Hier ist jede Hülfe nutzlos; die Tiefe giebt nichts zurück, was sie verschlungen!« sagte er muthlos, Helmine zurückdrängend, die ihm gefolgt und beherzt ihren Antheil haben wollte. Zwei Arbeiter, mit denen er in dem Pavillon beschäftigt gewesen, um das Dach für den Winter zu sichern, eilten mit Stangen herbei, und ihnen gelang es nach langer Anstrengung, eine Leblose aus der Tiefe herauf zu holen.

Richter, der den Hut von sich geworfen und mit schweißtriefender Stirn selbst bei dem vergeblichen Rettungswerk thätig gewesen, befahl, sie auf den Rasen des Ufers zu tragen. Er folgte den Arbeitern; er beugte sich über die Unglückliche, fuhr aber zurück, taumelnd, dann abwehrend die Hand gegen Helmine ausstreckend, die eben mit Hanna sich näherte. Sein Mund war keines Wortes fähig.

Helmine, seine Warnung nicht verstehend, sah, wie sein Arm herabsank, wie er bleich, das Haar wirr um die feuchte Stirn, sich abwandte, und verwirrt zu ihm tretend schaute sie hin auf das Opfer des Weihers.

Ein Schreckenslaut ... Sie fuhr zurück, wehrte auch Hanna ab, die zaudernd, durch Richter's Haltung bestürzt, sie fragend anstarrte, hob den Knaben, der zitternd in einiger Entfernung auf dem Rasen stand, in ihre Arme und trug ihn in den Pavillon.

Hier drückte sie ihn an die Brust, sie herzte und küßte ihn mit leidenschaftlicher Innigkeit.

»Armes Kind«, rief sie, ihn mit von Thränen verschleierten Augen anschauend, »Du sollst nie erfahren, wer sie gewesen ist! Gott vergebe ihr und nehme sie barmherzig in sein Himmelreich!« ...

Hanna hatte inzwischen mit Grauen der Stätte den Rücken gewendet, an der sie einst die Feindschaft mit ihrer Rivalin eröffnet. Ihr war's als gefriere das Blut in ihren Adern, wie sie in das Herrenhaus zurückschlich. Bleich und schweigend drückte sie Helmine zum Abschied die Hand.

Auch sie werde wohl nicht lange mehr leben, schrieb sie am nächsten Tage; sie folge deshalb dem Rathe des Arztes, der sie in ein milderes Klima schicke.

* * *

Ende.


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