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14.

Zufrieden, stolz sogar auf sein frommes Werk, kehrte Ballmann vom Hospital zurück. Unterwegs kreuzte ein fast unabsehbarer Leichenzug seinen Weg. Man mußte wohl einen der großen Fabrikherren zur ewigen Ruhe tragen, denn einige hundert Arbeiter in ihrer Sonntagskleidung folgten dem reich bekränzten Sarge; eine lange Reihe von Equipagen beschloß den Zug.

»Die frühere Besitzerin der großen Maschinenfabrik, Frau Holstein!« antwortete ihm eine der zuschauenden Arbeiterfrauen auf seine Frage. »Die Aermste hat endlich ausgelitten; ihr wird's jetzt besser sein. Die Arbeiter der Fabrik, die von ihr so viel Wohlthaten genossen, ehe das große schöne Werk in die Hände der Juden gerieth, die jetzt die Aktionäre um ihr Geld bringen, erweisen ihr die letzte Ehre. Ihr Sohn, der sie in die Grube gebracht, ist natürlich nicht dabei, ebenso wenig sieht man Herrn Blume und Herrn Moritzsohn, die Millionen an dem Handel verdient und sie auch wieder durchbringen. Der armen unglücklichen Frau, die ihrem ungerathenen Sohn auch das Letzte geopfert, wird ja die Erde jetzt leicht sein.«

Der Zug bewegte sich vorüber. Das Musikchor voran intonirte nach feierlichen Intervallen wieder sein »Jesus meine Zuversicht« und Ballmann's Wagen folgte, um an der nächsten Ecke seine Richtung fortzusetzen. Ein absichtsloser Blick in den letzten Wagen, der sich eben dem Gefolge anschloß, zeigte ihm das gelblich bleiche Antlitz eines Leidtragenden, das ihm in seiner Praxis öfter begegnet.

Der Mann lag auf einem Kissen hingestreckt in der Ecke des Wagens, das Kinn auf der Brust, die Hände im Schooß gefaltet; seine tief in den dunklen Höhlen versunkenen Augen blickten stumpf und in eigenem Trübsal weltverachtend vor sich hin, als lohne es ja nicht, den weiten Weg hier hinaus zu machen, da sein eigen Ziel so nahe.

»Blume!« erinnerte sich Ballmann, auch den dem Leidenden gegenüber sitzenden, zwei Krückstöcke haltenden Diener erkennend. »Er machte ja bei mir seinen Ehecontract mit der schönen rothblonden Constanze Neuhaus, die sich den alten Pedanten so spät noch eingefangen, um sich von ihm als alleinige Nachfolgerin in sein Vermögen einsetzen zu lassen und ihn dann baldmöglichst nach allen Regeln der Frauenkunst zu beerben. Wahrscheinlich fährt er heute hinaus, um sich selbst bei dieser Gelegenheit sein Plätzchen auszusuchen, während sie mit ihrer Freundin, der berüchtigten Wolffen, abenteuernd in der Welt umherzieht, ihm alle Muße lassend, über die Ursachen seines leiblichen Ruins nachzudenken und auch den der schönen Fabrik zu bereiten.«

Ballmann fuhr seines Weges und Blume fuhr den seinigen. Der Eine schaute zufrieden zurück auf eine Lebensbahn, auf der er erworben was gesetzlich erreichbar, genossen, was sich ihm dargeboten, um dann, ein Mittelsmensch ohne große Laster und Tugenden, wie ihn die Welt am liebsten zu haben pflegt, die Früchte seiner Arbeit in Ruhe zu verzehren. – Der Andere lag da siech und brüchig an Geist und Körper, ein Märtyrer spät erwachter Sinnlichkeit und eines Weibes, das, seit jenem Unglück vor dem Altar in Fehde mit der Welt, sich aus derselben ein Opfer geholt und erdrückt, das, wehrlos durch sein Alter, in ihr Netz gefallen.

Es war Blume's Schicksal gewesen, daß er auf der ersten Vergnügungsreise, die er sich nach einer so glänzenden Umgestaltung seiner Verhältnisse erlaubt, dieses junge Weib in Florenz hatte kennen lernen müssen. Das wunderbare Goldblond ihres Haars, ihre gewandte Unterhaltungsweise hatten ihn an der Tafel des Hotels entzückt. Constanze, damals Gesellschafterin einer reichen alten Dame, die ihr Vorleben nicht kannte, unzufrieden mit ihrer Abhängigkeit, war auf der Suche nach einer besseren Position und nahm ihre Vortheile wahr in der Unterhaltung mit dem ältlichen Herrn, ihrem Tischnachbarn.

Blume hatte nie an eine Heirath gedacht; aber er war jetzt ein glänzend situirter Mann und ihm fehlte etwas. Er hatte ein Haus und war allein darin.

Er sprach also, hingerissen von dieses Weibes Anmuth und geistiger Routine, eines Abends ein schnelles Wort und hatte weder die Kraft, noch den Willen, sich den Folgen desselben zu entziehen.

Blume heirathete, und wie es gewöhnlich in seinem Alter geschieht, ohne den Rath irgend eines Freundes zu begehren, der ihm auch nicht aufgedrängt wurde. Er machte in seiner Equipage Besuche bei allen ihm bekannten Familien, denn es galt jetzt, ein Haus zu machen. Aber Wenige erwiderten seinen Besuch. Die Familien der großen Börsen- und Geschäftsmänner blieben aus; er sah alsbald wohl eine kleine Gesellschaft um sich, aber doch nur die, an welcher ihm nicht gelegen.

Auch Constanze empfand die Nichtachtung. Man sollte aber wissen, daß ihr nichts gleichgültiger. Sie zog nach einigen Wochen der Langenweile des Anstands frühere Bekannte wieder an sich und gab ihnen splendide Soiréen. Die Baronin von Wolffen, von der sie sich in ihrer neuen Stellung fern gehalten, ward wieder ihre Vertraute.

Blume fühlte sich nicht wohl in dieser Gesellschaft; sie entsprach nicht seinen Mitteln, seinem Ehrgeiz, aber er machte gute Miene. Sein Weib suchte ihn durch leidenschaftliche Liebkosungen zu entschädigen, aber sie selbst lehrte ihn einsehen, daß er nicht mehr jung genug, sie zu erwiedern. Ein Zustand der Gemüths-Abkältung trat zwischen sie: auf der einen Seite die Einsicht, auf der anderen mitleidige Nachsicht. Constanze reiste in die Bäder; seine Geschäfte hielten ihn fest, denn die Fabrik ging nicht nach Wunsch. Er verdoppelte seine geschäftlichen Anstrengungen und verlor seine Gattin dabei aus den Augen. Dann begann er zu kränkeln, eine allgemeine Schwäche zu empfinden. Sie erbarmte sich seiner mit der Theilnahme einer Gattin, die scheinbar ihren Wünschen entsagt. Er bat sie mit der Selbstlosigkeit des Besiegten, sich in ihrem Zerstreuungsbedürfniß nicht stören zu lassen, und sie machte, anfangs unter Liebkosungen, den ausschweifendsten Gebrauch davon. Sie ließ ihn bald den größten Theil des Jahres allein und blieb auf Reisen. Blume ward der kranke, hinfällige Mann eines jungen, von Lebenslust strotzenden Weibes und als solchem, im letzten Stadium raschen Hinschwindens begegnete ihm Ballmann auf dem traurigen Wege zum Friedhof ...

»War das nicht der Dr. Ballmann?« fragte seinerseits Blume, das Kinn von der Brust hebend und mit Anstrengung seinen Diener, als der Wagen des Advokaten an ihm vorüber.

Der Diener bejahte. Blume ließ den müden Kopf wieder sinken.

»Hilf mir doch denken, ich will auf dem Rückwege in das Bureau seines Nachfolgers; es ist wichtig, daß ich es nicht vergesse!« Danach versank er wieder in sich.

Der Wagen hielt an. Der Zug stand an der Kirchhofsmauer.

Blume schaute auf, das gelähmte Genick zur Seite wendend. Er sah die Steinkreuze über die Mauer ragen, sah die Trauerbuchen und Weiden, die ihre Zweige über dieselbe senkten, die dunklen Cypressen, um deren Stämme sich der Epheu schlang. Es durchschauderte ihn so eisig. Er gab dem Diener einen Wink.

»Zurück!« sprach er, die Stirn tiefer senkend. Ihn graute vor der Nähe der Gräber, vor dem Modergeruch und dem Säuseln des Windes in den Trauerbäumen. Der Kutscher lenkte den Wagen zurück und schlug den Weg zur Stadt wieder ein.

Blumes Befinden hatte sich seit den letzten acht Tagen bedeutend verschlimmert. Von den Geschäften zurückgezogen, wie er glaubte mit Undank gelohnt, lebte er seit vier Monaten wieder allein in seiner Villa. Sein Weib hatte längst keine Ruhe mehr bei dem gebrochenen Mann; vor ganz Kurzem aber hatte sie ihm wieder von Florenz aus ihre Freundin, die Baronin von Wolffen, gesandt, die seine Pflege übernehmen sollte.

Und seitdem ging's so schnell mit ihm bergab. Seine Kräfte schwanden, seine Augen sanken tief zurück und schauten so glasig kalt; seine Gedanken verwirrten sich oft. Er ward theilnahmlos, sogar undankbar gegen alle die Aufmerksamkeiten, welche die Baronin ihm erzeigte, denn sie ermüdeten ihn. Er hatte lange auch von dem Arzt nichts mehr wissen wollen, weil der ihm doch nicht helfen könne; er wollte ihn auch jetzt nicht sehen, als der Diener so besorgt seinen Zustand beobachtete.

Ein leichter Schlagfluß hatte ihn getroffen, als vor einigen Tagen die Baronin zu ihm getreten, um ihm mit rücksichtsloser Beflissenheit die Nachricht von dem Tode der Frau Holstein aus der Zeitung vorzulesen ...

So lange er sich gesund und kräftig gefühlt, war es dem Philosophen des Contobuchs auf einen Undank nicht angekommen, aber in seiner laufenden Rechnung mit dem Schicksal hatte er zu seinem Nachtheil einen furchtbaren Rechenfehler erkannt, als das letztere seine Solvenz prüfte.

Er erholte sich zwar von diesem Anfall, aber sein Zustand war verschlimmert. Er saß wie ein Gespenst mit den so sonderbar glänzenden Augen im Rollstuhl, in welchem er durch seine prachtvollen Räume bewegt ward, sprach nicht anders, als wenn das Uebelbefinden ihn in Brust, Unterleib und Füßen wieder quälte, fand keinen Schlaf mehr und begehrte, die Stunde der Beerdigung seiner alten Freundin genau zu erfahren.

Seine Hinfälligkeit, vielleicht auch eine innere Stimme, die an der Stätte irdischer Endlichkeit ein so mächtiges Wort redet, erlaubten ihm nicht, auf dem Friedhofe den Wagen zu verlassen; er hielt deshalb vor der Mauer desselben, tief in sich selbst versunken, todmüde, als bedürfe es nur noch des Gutachtens des Leichenbeschauers, um ihn gleich hier mit zu versenken. Dennoch hatte er geistige Fassung genug, um auf dem Rückwege das Büreau des Advokaten aufzusuchen, diesen an seinen Wagen rufen zu lassen und ihm ein versiegeltes Schreiben zu übergeben, dessen Couvert von seiner Hand die Bemerkung trug: »Nach meinem Tode sofort zu öffnen.«

Sichtbar ruhiger, aber mit zunehmendem Schwinden seiner Kräfte erreichte er die Villa. Die Baronin empfing ihn mit derselben geschäftigen Herzlichkeit und bot ihm an Erfrischung und Stärkung, was sie ersinnen konnte.

Sie war so hingebend, so bedürftig, ihn seinen Zustand vergessen zu machen; sie war so unerschöpflich in der Erfindung von möglichen Ursachen, die diesen verschuldet, von Trostesgründen und Zusprache, von Zuversicht, daß alles besser werde.

Blume aber lehnte schweigend alles ab. Er ließ sich auf seinen Divan legen, auf dem er stets den größten Theil des Tages verbrachte und von dem aus er in den Garten auf das Keimen, Werden, Wachsen und Verblühen der Natur schaute.

Er wünschte allein zu sein, und die Baronin ging in ihr Zimmer. Er winkte seinem Diener und flüsterte ihm zu: Sollte es einmal ganz plötzlich und unerwartet mit mir zu Ende gehen, so ist Dein Erstes, dem Advokaten meinen Tod anzuzeigen. Vergiß das nicht!«

So lag Blume allein in seinem Gartensalon. Draußen war Alles Leben und Lust; die Frühjahrssonne glänzte auf die Fenster, die Blattpflanzen auf dem Altan streckten ihre Blätter so saftstrotzend über die Balustrade; die Blüthen der Obstbäume sprangen vor seinen Augen aus den Knospen, die ersten Bienen summten im Geisblatt, das sich um die Säulenschäfte des Vorbau rankte, und die Lerche sang hoch oben im blauen Aether von der Allmacht Gottes.

Blume fühlte, daß all dies Wachsen und Werden sein Enden und Vergehen habe; auch auf dem Friedhof hatte er die Blüthen aus dem Moder der Endlichkeit sprossen gesehen. Er nahm das Buch vom Tisch, in dem er seit Wochen schon las, ohne zu wissen, was er gelesen. Er stützte die Schläfe in die Hand und suchte die Zeilen. Aber sie schwammen vor seinen Augen in einander. Er hob den Kopf und schellte dem Diener.

»Oeffne alle Fenster ... alle!« rief er, während ein düster ahnungsvoller Schauer durch seine schon halb kalten Glieder rieselte ... »Alle, sag ich Dir; es sind nicht genug! ... Ich brauche Luft; es riecht so grabesduftig hier; das macht, weil ich vom Friedhof komme! ... Geh!«

Er winkte dem Diener. Blume war wieder allein. Er richtete die eingesunkene Brust auf, sog mit asthmatischem Rasseln die hereinströmende Luft ein, lehnte sich wieder zurück, legte beide Hände auf das Buch in seinem Schooß und so verblieb er, das Auge starr vor sich gerichtet ... So verblieb er, bis der Diener nach einer Stunde ungerufen, aber besorgt herein trat, leise hinter ihm herbeischlich, wie er es oft zu thun pflegte, und bestürzt durch die Regungslosigkeit seines Herrn, sich endlich über ihn beugte. Er blickte in die gläsernen Augen eines Todten. Blume war ohne Krampf, ohne Kampf, ohne einen Seufzer in's Jenseits hinüber geschlummert.

Rathlos stand der Diener da. Was nur eine Frage der Zeit gewesen, machte ihn dennoch erschrecken.

»Zur Baronin!« rief er ... »Nein, zuerst zum Advokaten, wie er es wollte! Und eh' noch irgend Einer im Hause erfährt!« ...

Im Bureau von Ballmann's Nachfolger ward das Schreiben geöffnet, das Blume vor wenigen Stunden dort erst übergeben. Es enthielt die wenigen Worte:

»Ich wünsche, daß unter allen Umständen meine Leiche sofort nach meinem Tode geöffnet werde.«

Blume's Tod machte auf die Baronin von Wolffen den Eindruck der Nachricht von irgend Etwas, das ja doch endlich einmal geschehen müsse. Sie kümmerte sich nicht um die Leiche, traf vielmehr insgeheim Anstalten zu eiliger Abreise und sandte die telegraphische Nachricht von dem Vorgefallenen an ihre Freundin in Florenz.

Der Todtenbeschauer war's erst, der dem Dahingeschiedenen die Augen zudrückte.

Danach ging die Leiche in die Hände des Anatomen, der zur Bestürzung der Dienerschaft das Vorhandensein eines langsam wirkenden Giftes in den Eingeweiden derselben constatirte und sofort dem Gerichte die Anzeige hiervon machte.

Die Baronin von Wolffen hatte, um, wie sie der Dienerschaft erklärt, ihre unglückliche Freundin, die Wittwe, zu trösten, das Oeffnen der Leiche nicht abgewartet. Sie war bereits auf dem Wege zu den Alpen.

Der Staatsanwalt unterzog noch an demselben Abend das Hausgesinde einem Verhör. Der Diener unterrichtete ihn von dem beim Notar hinterlegten Wunsche des Verblichenen, der andeutete, daß derselbe eine Ahnung von seinem Zustande gehabt haben müsse. Er sagte ferner aus, daß die Baronin von Wolffen, von der Frau Blume aus Florenz hierher gesandt, um den Kranken zu pflegen, seit vierzehn Tagen mit ihm allein gespeist und die Abende oft bei ihm verbracht habe, um ihm vorzulesen.

Die Dienerschaft erregte keinen Verdacht. Ein gerichtlicher Verhaftsbefehl eilte deshalb der Baronin nach.

* * *

Etwa um dieselbe Zeit, da Blume einsam und verlassen den letzten Athem aushauchte, war auch der Traueract auf dem Friedhofe zu Ende. Der Pfarrer hatte seine Rede, die Maurer hatten die Gruft geschlossen, hundertstimmig hatten die Arbeiter ihrer dahingeschiedenen früheren Brodherrin den letzten Dank gewidmet, und »wie sie so sanft ruh'n, alle die Seligen« war es weithin über die Gräber geklungen. Frettchen war die letzte noch am Grabe. Sie hatte ihre heißen Thränen ausgeweint, als sie ihrer Wohlthäterin die Hand voll Erde auf den Sarg gestreut; jetzt war der Born versiegt; ein inbrünstiges Gebet flüsternd kniete sie an der Stätte.

Der Friedhof hatte sich geleert; nur näher oder ferner schritten Trauernde durch die Gräbergassen, die gekommen, um am Gedenktage ihren Lieben Kränze oder Blumen und stille Gebete zu bringen. Ihr war's so unendlich weh im Herzen, der Unglücklichen und Verwaisten; sie hätte sich so gern mit in die Gruft legen lassen, wenn nur das Sterben so leicht gewesen wäre. Mit ihr, die da jetzt in der kalten Grube lag, war Alles dahin, was sie noch an diese Welt gefesselt.

Wie sie noch da kniete, als ihr Gebet zu Ende, sah sie einen Schatten vor sich über das Grab fallen.

Sie schaute müde auf. Weymar stand vor ihr.

»Du noch hier, Frettchen? Ich habe noch das Grab meines kleinen Bruders drüben besucht, der schon so früh dran glauben mußte. Mir ist's immer so unheimlich auf dem Todtenhof; ich gehe nicht gern hierher. Willst Du mit zur Stadt zurück? Ich hätte wohl mit Dir ein paar Worte zu reden.«

Frettchen erhob sich in ihrem dunklen Trauerkleid, in dem sie wie ein schwarzer Gnome aussah.

»Ich komme, Weymar!« sagte sie, das Taschentuch auf die beiden verweinten Augen drückend.

Beide schritten zur Pforte. Sie schritten lange schweigend die Chaussee entlang.

»Es ist so etwas Sonderbares um das Sterben«, begann er endlich. »Es lohnt nicht zu leben, denn es ist nichts als Sorge und Arbeit; es giebt nur Verdruß und Schmerzen, und dennoch klammern wir uns an dies Elend, als hätten wir wunder was davon!«

»Gott will es so!« sagte Frettchen vor sich hin.

»Ja, das mag meinetwegen so sein, obgleich man auch darüber seine eigenen Ansichten haben kann. Ich habe nur gelernt, meine Knochen zu verwerthen, und wenn da kein Mark mehr drin ist, hört meine Wissenschaft auf. Unter der neuen Verwaltung in unserer Fabrik hat man auch keine Lust, mehr zu thun als eben seine Schuldigkeit, und da spart man freilich was an seinen Knochen, aber man arbeitet ohne Freudigkeit, weil man eigentlich nicht weiß, für wen. Ich will deshalb meine paar hundert Thaler nehmen und eine eigene Werkstatt einrichten, aber mir fehlt was Anderes dazu, und deshalb wollt' ich mit Dir eben sprechen.«

Frettchen hatte nur mit halbem Ohr gehört; ihr Herz that noch immer so weh und der große, schöne, mächtige Trauergesang der Arbeiter klang ihr in den Ohren.

»Du weißt wohl, Frettchen, daß ohne ein Frauenzimmer im Hause eine Wirtschaft nicht geht; freilich giebt es tausend Fälle, in denen es mit einem solchen noch viel schlechter geht. An's Heirathen denk' ich nun aber nicht; ich habe an dem einen einzigen Versuch genug gehabt und bin froh, daß es damals so gekommen, denn wenn ich sehe, was aus der Marion geworden, die allerdings Deine Schwester ist, hab' ich alle Ursach, von Glück zu sagen. Ich hätte sie umgebracht, wäre sie mir liderlich geworden ... Also, was ich sagen wollte: Du, Frettchen, bist das einzige Frauenzimmer das nicht sündigen, auf das man sich blind verlassen kann, und Du solltest eigentlich Gott danken, daß er Dich vor allen Versuchungen geschützt, denn, siehst Du, alle die Dummheiten, welche die Weibsleute mit ihrem Körper treiben, wohin führen sie? Niemals zu was Gutem, weder für sie selbst, noch für die Männer, Sie wissen, daß ihnen nur die paar Jahre gehören, wo sie jung und schön sind, und da sitzen sie denn mit der Angel und sehen nach grünen Hechten aus, die dumm genug sind, auf ihren Köder zu beißen.«

Sie verwies ihm schweigend seine Rede.

» Mir, Frettchen, passirt das nicht mehr,« fuhr er fort; »ich will nicht heirathen, aber ich meine, wenn wir Beide uns zusammenthäten, ich arbeitete und Du führtest mir die Küche und die Wirthschaft, das könnte ganz gut gehen. Die Welt und selbst die schlechtesten Zungen würden kaum an der Ehrbarkeit unseres Zusammenseins zweifeln können,« setzte er lachend hinzu.

Frettchen schritt noch immer schweigend neben ihm.

»Die Frau Holstein, wie gut sie von Herzen gewesen sein mag, wird Dir kaum ein großes Legat vermacht haben, denn sie hat sich für ihren Sohn ganz ausgezogen und es war für sie die höchste Zeit, daß sie sich zu Bett legte.«

»Doch, Weymar! Ich brauche kein Geheimniß daraus zu machen, daß sie schon vor mehreren Jahren bei der Sparkasse ein Sümmchen für mich anlegte, durch das ich vor Sorgen geschützt sein werde.«

»Um so besser für Dich, aber um so schlimmer wohl für mich, denn so wirst Du wohl keine Lust haben. Dich um Deinen alten Freund Weymar zu kümmern.«

»Nein, Weymar! Ich lehne es nicht so ab! Glauben Sie das nicht! Sie sind ein ehrenwerther Mann und Ihnen wird es gut gehen, weil Sie ein fleißiger Mann sind! Wir wollen darüber sprechen, wenn der Schmerz vorüber, denn ich kann ja noch nicht denken; meine Sinne sind so auseinander, daß ich sie erst sammeln muß.«

»Also ein Wort, Frettchen?« rief Weymar stille stehend und ihre Hand ergreifend.

»Ein Wort, Weymar, kann ich Ihnen heute nicht geben, aber ich sage nicht nein, und das Andere wird sich ja finden.« ...

Während Beide zur Stadt schritten, hatte sich ein Anderer, der während der Trauerfeierlichkeit weitab hinter einem Sandstein-Monument gestanden, langsam dem Grabe genähert – Carl Holstein, der Sohn, der seit Wochen schon zurück, den die Scham aber verhinderte, sich allen Denen zu zeigen, die in ihm den Mörder der armen Dulderin kannten.

Er hatte nicht an ihrem Sterbebette gestanden. Nicht er, um dessen Willen das treue Mutterauge gebrochen, hatte dasselbe zugedrückt. Frettchen hatte ihr den letzten Dienst erwiesen. Die Mutter, die Wochen lang ihrer Auflösung entgegengesehen, hatte nicht einmal erfahren, daß der Sohn zurück, dem sie auf seine aus der Ferne immer und immer wieder gekommenen Verzweiflungsbriefe Alles bis auf das Letzte geopfert. Er hatte es nicht gewagt, sich ihr zu nähern; die Vorstellung, als Bettler in seiner Vaterstadt wieder eingetroffen zu sein, als die Verschwendung, der Leichtsinn seines Weibes und seine eigene Schwäche auch das Letzte verschlungen, das die Mutter geopfert, die moralische Verlorenheit, das Gefühl, ein Gegenstand der Verachtung für Alle geworden zu sein, hatte in ihm ein Schmachbewußtsein erzeugt, um dessen willen ihn selbst ein Strolch bemitleidet haben würde.

Er war mit ihr gekommen, mit diesem unseligen Weibe, zu dem es ihn vor drei Jahren wieder zurückgetrieben, die er verachten mußte seit lange und die er dennoch am wenigsten missen konnte, als das Grauen vor seiner Elendigkeit ihm eine wahre Furcht vor dem Alleinsein einjagte. Er, der in ihr die Mitschuldige seines Ruins erblickte, klammerte sich selbst noch an sie, als sie, von Stufe zu Stufe hinabsteigend, aus Noth trieb, was sie sonst aus Leichtsinn gethan – er, der tiefer noch gesunken als sie, weil er elend genug war, das Sündenbrod zu essen, das sie ihm hinwarf!

Mittellos waren Beide hier eingetroffen, in einer elenden Herberge der Vorstadt hatte man ihnen ein Obdach gewährt. Er irrte den Tag hindurch hierhin und dorthin, menschenscheu, jedes ihm bekannte Gesicht fliehend, ohne die Entschlossenheit der Armuth, einem derselben seine Noth zu bekennen; sie ihrerseits kam selbst die Nächte hindurch kaum unter das elende Dach zurück.

Beide hatten eine Hoffnung noch gehabt, die sie hierhergeführt, als die Behörden draußen auf die mittellosen Landfahrer aufmerksam geworden. Carl erwartete, von der Mutter noch ein letztes Mal unterstützt zu werden, obgleich sie ihm schon vor einem halben Jahr geschrieben, sie besitze nichts mehr, sie habe, um ihm zu helfen, selbst das ihrem Alter Unentbehrlichste verkauft, man werde in ihrem Nachlaß kaum so viel finden, um ihren Sarg zu bezahlen.

Er hatte nach seiner Ankunft an sie geschrieben; Frettchen aber, seine Hand mit Erschrecken erkennend, hatte heimlich den Boten mit dem Briefe zurückgewiesen und dem Absender sagen lassen, Frau Holstein liege im Sterben; es sei kaum noch so viel Geld vorhanden, um die Arznei zu bezahlen. Und seitdem war der elende Sohn wohl Abends in der Straße, dem Hause gegenüber, erschienen und hatte zu den halbdunklen verhängten Fenstern hinauf geschaut, aber wenn er die Hausthür anblickte und nach dem Muth rang, hinein zu treten, um sich der armen Mutter zu Füßen zu werfen, war er stets zurückgewichen. Sein Schuldbewußtsein verursachte ihm Hallucinationen. Wenn er an die Thür kam, war's ihm, als trage man ihm eben im Hausflur den Sarg mit der todten Mutter entgegen, und schaudernd war er immer wieder fort geschlichen.

Stella ihrerseits hatte bei ihrer Freundin Constanze Hülfe zu finden gemeint. Sie wußte nicht, daß dieselbe wieder in Florenz, wo sie die strafbarsten Fesseln hielten. Als man ihr dies an der Schwelle des Blume'schen Landhauses sagte, wo man die Absicht einer Unterstützung mit gewohntem Auge auf ihrer Stirn las, schlich sie muthlos davon. Sie hörte durch Zufall, daß die Baronin von Wolffen im Hause anwesend, schrieb an diese, erhielt aber keine Antwort und ward auch von ihr nicht vorgelassen. Wie ein Glück erschien es ihr deßhalb, als sie bei ihrem Umherirren Juliane begegnete, die ihren Anzug voll Mitleid und Erstaunen musterte, denn Stella hatte bereits Alles bis auf das letzte Kleid verkauft.

»So weit ist es mit Dir gekommen?« rief Juliane spottend. »Und Du siehst doch noch passabel aus, obgleich man's Dir anmerkt, daß Du sehr viel durchgemacht haben mußt!«

Sie zog Stella mit sich fort, sie bezahlte für sie ein Essen in einem niederen Restaurant und verheimlichte kaum ihre Schadenfreude.

»Du bist noch am Theater?« fragte Stella.

»Bah, Theater! Was Einem da zugemuthet wird, kann ich auch außer der Bühne treiben! Mein Theater ist jetzt überall.«

»Und was ist aus Marion geworden?«

»Marion? Hm! Mit der sah's recht schlimm aus, als sie wieder frei kam. Frettchen, das einfältige Ding, ruhte nicht, bis sie ihr endlich begegnete, um ihr von Gott und Religion zu erzählen. Sie schleppte sie mit zu Frau Holstein und die that sie in ein Magdalenen-Stift. Man erzählte mir, sie habe nicht darin aushalten wollen, denn sie mußte da waschen und nähen, um sich das Himmelreich wieder zu gewinnen. Weiter weiß ich nichts von ihr.«

»Aber was wird's jetzt mit Dir? fuhr sie cordial fort. »An die Millionen, die Du auf die Straße geworfen, mußt Du nicht mehr denken; Du würdest sie noch einmal vergeuden, wenn Du sie wieder hättest. An Deinem Ruf ist auch nichts mehr zu verlieren, denn es ist zu viel schon über Dich erzählt worden. Willst Du einstweilen mein Gast sein, bis es Dir wieder besser ergeht, so komm; aber mach kein so betrübtes Gesicht, sonst wirst Du obenein noch ausgelacht. Ich gebe Dir von meinen Kleidern was ich entbehren kann, und dann mache ich Staat mit der schönen Frau Holstein, auf die gewiß Mancher neugierig ist.«

Stella empfand die Satyre, aber sie folgte schweigend der Prostituirten – an demselben Tage, an welchem man die Mutter ihres Gatten zu Grabe trug ...

Eine der ersten Bekannten, die ihr begegneten, war die Gräfin Mompach, unter deren Anleitung sie damals in Monte Carlo gespielt. Die Dame war unförmlich corpulent geworden; ihrer Kleidung nach hatte sie in Monaco schlechte Geschäfte gemacht und auch das noch verspielt, was ihr Letztes war, die wenigen Tausende, die sie auf das Haus noch heraus bekommen. Die Gräfin begrüßte sie auf's herzlichste und zog sie mit sich auf die eben einsame Promenade.

»Was treiben Sie denn, liebes Kind!« rief sie mit Protections-Miene. »Aber was frage ich? Ich weiß ja Alles. Ich habe öfter von Ihnen gehört seit wir uns nicht mehr sahen. Aber Sie sind noch ganz hübsch; wenn Sie nur gescheidt sind, kann's Ihnen auch hier nicht fehlen! Ich stehe Ihnen gern mit meiner großen Bekanntschaft zu Diensten; es ist mir sogar sehr erwünscht, Sie gefunden zu haben. Besuchen Sie mich! Ich wohne zwar sehr beschränkt seit mich dieser Schurke ...«

Die Gräfin unterbrach sich; sie erinnerte sich, daß Lenning ja Stella's Vater.

»Aber gleichviel, ich kann Ihnen nützlich sein. Kommen Sie bald! Vor allem nehmen Sie den Rath: Halten Sie auf gute Gesellschaft!«

Sie plauderten Langes und Breites; die Gräfin erzählte ihr eine ganze Leidensgeschichte, deren Ende darin bestand, daß sie von Monaco nur durch die Unterstützung einiger Freundinnen habe nach Hause reisen können, um hier von dem Almosen zu leben, das ihr von vornehmen Familien gespendet werde, um ihren gräflichen Namen nicht öffentlich in den Koth treten zu lassen.

»Es soll Ihnen ganz gut gehen, mein Kind!« Damit trennte sie sich von Stella. »Vergessen Sie aber meinen Rath nicht. Ich würde Sie jetzt weiter begleiten, aber ich muß hinaus in's Siechenhaus, in dem mein Schwager, der alte Esel, vorgestern als Idiot gestorben ist. Ich soll seine Papiere in Empfang nehmen, aus denen vielleicht noch ein paar Thaler heraus zu schlagen sind.«

Stella sah auch in ihr eine Schicksalsgenossin.

»Man hatte sie in Nizza schon in Verdacht! Sie war's auch, die mich mit Donato, dem Elenden, bekannt machte!« Stella schaute ihr mit bitterem Lachen nach.

Sie begegnete auf der Promenade bekannten Gesichtern, von denen einzelne sie spöttisch beobachteten. Sie fühlte sich genirt, bog ab, schritt durch die Stadt, vorüber an dem Institut, in dem sie erzogen, vorüber an der Wohnung, die Carl für ihre Heimkehr von der Hochzeitsreise gemiethet – und der Zeitpunkt war ja jetzt da; sie war buchstäblich erst jetzt von dieser Reise heimgekehrt ... Aber sie empfand nichts; ihr Gefühl war abgestumpft. Es hatte alles so kommen sollen.

Andere Leute wohnten in der schönen Etage und Carl ... Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie die elende Mansarde in der Vorstadt verlassen. Die mochte für ihn gut genug sein.

Juliane erwartete sie, als sie zurückkehrte, mit der Nachricht, sie sei für heut Abend nach dem Theater zu einem Souper in einem der feinsten Restaurants eingeladen; man habe sie gebeten, eine Freundin mitzubringen. Stella hatte keinen Einwand; sie erzählte ihr von der Gräfin Mompach.

»O die!« rief Juliane. »Erzürnen mußt Du Dich freilich nicht mit ihr! Die hat jetzt ihren Lohn auch dafür, daß sie die arme Marion um ihren ehrlichen Namen gebracht! ...«

Am Abend betrat Stella an der Seite ihrer Freundin eines der Kabinets des Restaurant, in welchem Juliane zu Hause zu sein schien. Zwei Herren erwarteten sie. Mit Staunen schaute der Eine sie an. Sie erkannte Moritzsohn, der offenbar nicht vorbereitet war, dieselbe hier an dieser Stelle zu finden, der er schon einmal, als sie in besseren Verhältnissen lebte, seine Aufmerksamkeiten erwiesen.

Prüfend ruhte sein Kennerauge auf ihr, die ihre Verlegenheit im ersten Moment nicht ganz verstecken konnte. Er sah, sie war nicht mehr jene blühende übermüthige junge Frau, der er seine Blumensträuße gesandt, um sie gleich darauf mit dem jungen Holstein auf und davon gehen zu sehen; er las auf ihrem Gesicht, daß und was sie durchgemacht, wenn er es noch nicht vom Hörensagen wußte; aber sie war noch immer ein passables Spielzeug und hatte das Air einer Dame von Welt, das sie in ihrer erniedrigenden Stellung interessant machte.

»Mr. Atkinson, mein Geschäftsfreund!« stellte er nach einigen Komplimenten sie diesem vor. »Er ist Amerikaner und will uns morgen wieder verlassen, um seiner Familie nachzureisen.«

Atkinson hatte anfangs keine Ahnung, daß er die Tochter derselben Dame vor sich habe, deren Haus er Jahre lang als vorgeblicher Eigenthümer bewohnt, um es dann an Ballmann zurückzugeben. Moritzsohn, der ihm auf sie Bezügliches zuraunte, schien ein wenig verletzt, als Stella, angezogen von seiner Nationalität, die ihr ja eine verwandte, die Artigkeiten Atkinsons den seinigen vorzog und sich zumeist in englischer Sprache mit ihm unterhielt, indeß er tröstete sich mit Juliane's Vertraulichkeit.

Atkinson, dem Ballmann bereits die unglückliche Geschichte ihrer Familie erzählt, empfand aufrichtiges Mitleid für sie, er behandelte sie mit Rücksicht. Angesichts dieser Bedauernswerthen kam seinem philanthropischen Herzen die Idee, sie nach Amerika hinüber zu führen. Er fragte nach dortigen Angehörigen und sie wußte ihm so wenig darüber zu sagen. Indeß man kannte drüben ihren Wandel nicht; sie konnte sich selber dort aufrichten, wenn sie den Willen dazu besaß. Atkinson fand eine schöne Aufgabe darin, hierzu die Hand zu bieten.

Er ersuchte sie für den nächsten Morgen um eine Unterredung. Man trennte sich nach Mitternacht. Atkinson war so ernst gestimmt und Moritzsohn gab Ermüdung vor. Die Männer schieden von einander mit einer geschäftlichen Verabredung.

Am nächsten Vormittag machte sich Atkinson zunächst auf den Weg zu dem Bankier, um, da er am Abend seiner Familie nach Hamburg folgen sollte, eine bei Moritzsohn deponirte Summe von zehntausend Pfund zurück zu empfangen. Im Comtoir fand er große Bestürzung. Es hieß, der Chef habe gestern seinen Concurs angemeldet, sei dann in's Theater gegangen, im Morgengrauen aber abgereist, man wisse nicht, wohin.

Mit einem Goddam verließ Atkinson das Comtoir, um in's Hotel zurückzukehren, an ihm bekannte Geschäftshäuser aller deutschen Hafenplätze zu telegraphiren und die Verhaftung Moritzsohns zu begehren, der ihn offenbar gestern Abend nur hatte beschäftigen wollen, um Zeit zur Flucht zu gewinnen. Er packte in Eile seine Sachen, zahlte die Rechnung, vergaß im Groll seine gute Absicht hinsichts des verirrten jungen Weibes, und ging, um dem Betrüger nachzureisen, der ihn um seine zehntausend Guineen gebracht.

Als Stella am Mittag vom Spaziergang heimkehrte, sah sie zu ihrem Erstaunen Carl in ihrem Zimmer sitzen.

»Du hier? Was willst Du?« rief sie ihm entrüstet zu.

Er erhob sich. Mit Abscheu sah sie in sein von Schlaflosigkeit und Entbehrung entstelltes Gesicht, in die müden entzündeten Augen, auf seinen total verwahrlosten Anzug.

»Ich suchte Dich seit gestern vergebens. Juliane begegnete mir im Morgengrauen; ich hatte die Nacht im Freien geschlafen, da man mir draußen die armselige Kammer verweigerte, wenn ich nicht zahle. Sie sagte mir, wo Du seist.«

Er verschwieg ihr, daß er schon die dritte Nacht an dem frischen Grabe der Mutter zugebracht, seit ihm das elendeste Obdach versagt worden.

»Und da kommst Du zu mir? Ich habe selber nichts und am wenigsten Lust, Dich noch länger auf dem Halse zu dulden. Geh Deines Wegs!«

Der Unglückliche hätte ihr leid thun müssen, wenn sie noch einen Schimmer von Mitgefühl für ihn gehabt hätte. Sie verabscheute ihn; er war ihr seit lange verächtlich, mehr noch jetzt, da er wie ein armer Sünder mit ungekämmtem Haar, erdfahler Gesichtshaut, verwelkten Zügen und schmutziger Wäsche vor ihr stand.

»Ich habe Dir etwas Wichtiges zu sagen,« bat er demüthig und eingeschüchtert. »Meine Mutter ist todt; Du weißt es nicht, denn ich sah Dich ja nicht mehr.«

Stella machte ein Gesicht, als sei ihr nichts gleichgültiger als gerade dies. Sie war ermüdet und gähnte; sie war schon mißgestimmt, und jetzt kam ihr dieser verhaßte Mensch!

»Heute Morgen – höre mich wenigstens einige Minuten an,« bat er, als sie den Hut von sich warf und Miene machte, sich in den Kleidern auf das Bett zu werfen – »heute Morgen erkannte mich einer von unseren früheren Commis. Er fragte mich, ob ich denn noch nicht bei dem Advokaten Schröder gewesen sei, der früher die Geschäfte meines Vaters besorgte; der suche mich; es sei von meiner Mutter vor ihrem Tode eine Summe von fünfhundert Thalern bei ihm deponirt worden mit der Bestimmung, sie solle mir, wenn ich zurückkehre und sie nicht mehr am Leben, ausgezahlt werden, damit ich nach Amerika gehe.«

»Hast Du das Geld?« fragte sie gähnend.

»Nein, es soll davon meine Ueberfahrt in Hamburg bezahlt und der Rest soll mir in Newyork übergeben werden.«

»So geh Du nach Newyork!« lachte Stella herzlos.

»Du willst nicht mit mir gehen?« fragte er bittend.

»Mit Dir? Weiter fehlte mir nichts! Um elende fünfhundert Thaler! Was soll ich in Amerika? Ich war schon dumm genug, als ich mit Dir hieher ging.«

Carl schien das wehe zu thun. Er setzte sich. Während sie sich vor ihm auskleidete, kam er flehend zu ihr und wollte ihre Hand nehmen.

»Komm mir nicht zu nahe!«

»Stella, Du wirst es überlegen«, bat er. »Ich hörte von dem Commis auch etwas, das Dich interessiren wird. Blume ist todt. Er ist vergiftet, wie man behauptet, durch die Baronin von Wolffen, die ihn gepflegt haben soll und gleich nach seinem Tode zu seiner Frau nach Florenz abgereist ist. Die Baronin soll in Insbruck verhaftet sein; man behauptet, sie habe Blume in Constanze's Auftrag vergiftet, weil er ihr zu lange gelebt. Er hatte sie als seine einzige Erbin eingesetzt.«

»Na, da haben die Beiden doch auch ihren Lohn! Warum war er so dumm, diese Constanze zu heirathen!«

Sie warf sich auf das Bett, sichtlich zufrieden mit dieser Neuigkeit.

»Aber so geh!« rief sie heftig, als er noch immer vor ihr stand. »Reise doch nach Amerika! Das Schiff könnte ohne Dich abgehen! Ich erwarte in einer Stunde Besuch und da wärst Du mir noch lästiger.«

»Stella, Du willst also nicht?« flehte er, die Hände faltend.

»Nein, und tausendmal nein! Du weißt, daß ich Dich hasse, Dich verachte! Du bist gar kein Mann, Du bist eine Schlafmütze! Das hat Dir schon Deine Mutter gesagt, der ich wenigstens hätte folgen sollen, als sie mich vor Dir warnte! ... Und jetzt: zum letzten Mal!« rief sie, mit glühendem, zürnendem Gesicht sich aufrichtend. »Da ist die Thür! Wage es nicht, mich noch einmal zu belästigen!«

Sie warf sich zurück auf das Bett und wandte ihm den Rücken zu. Carl stand noch Secunden lang, dann schritt er schlaff, gesenkten Hauptes zur Thür hinaus. Unten am Fuße der Treppe hielt er inne. Er lehnte die Stirn an die kalte Mauer, er seufzte tief, preßte beide Hände auf die Brust. Dann richtete er sich auf.

»Das war das Letzte!« rief er, die Hände erhebend und vor die Augen pressend. »Und es muß auch das Letzte sein! Ich will das Geld nehmen, das die arme Mutter mir sterbend noch zugedacht und drüben ein anderer Mensch werden; ich habe es ihr diese Nacht noch auf ihrem Grabe gelobt. Ja, ich will es werden, wenn nur erst das weite Meer zwischen ihr und mir liegt! Drüben wird mich Niemand kennen, drüben kann Niemand wie hier mit Fingern auf mich zeigen und sagen: das ist der elende Carl Holstein, der in wenigen Jahren das ganze Vermögen seiner Eltern durchgebracht! Drüben wird mich auch der Gedanke an Blume nicht mehr verfolgen, der seinem Schicksal nicht entgangen und für seine Lehren bezahlt worden ist! Drüben wird mein unglückliches Herz nicht mehr an einem Weibe hangen, das mir soeben einen Fußtritt gab, weil ich nichts mehr besitze, von dem ich doch Alles, Alles ertrug! ... Der Commis sagte mir, heut Abend gehe der Zug, der Advokat habe sich verpflichtet, mich zur Bahn zu begleiten ... Ich will zu ihm, sofort! Ich will ihn bitten, mich nicht aus seinen Händen zu lassen bis, ja, bis das weite Meer zwischen ihr und mir ... Das will ich!« Und wie gehetzt stürzte er zum Hause hinaus über die Straße.

* * *

Mit Unmuth und Mißtrauen und doch mit Zufriedenheit sah Rechtsanwalt Schröder den Sohn des Hauses in sein Bureau treten, dessen Rechtsbeistand er seit so vielen Jahren gewesen. Er hatte ihn heranwachsen und in ihm stets den dereinstigen Chef dieses Hauses gesehen, aber anstatt des blühenden, kräftigen jungen Mannes, als welcher Carl in seinem Gedächtniß stand, erblickte er einen früh gealterten Menschen mit welken und erschlafften Gesichtszügen, glanzlosem, blödem Auge, träger Haltung und in einem Anzuge, der wochenlang seinen Körper nicht verlassen hatte.

Carl wagte nicht, in das strenge Antlitz des Mannes zu blicken, aus dessen Hand er seine Rettung erwartete. Zum ersten Mal seit lange hatte er den Muth, die Kraft, ein Wollen auszuführen, aber mit Beschämung, die herabhängenden Hände in einander gelegt, wartete er auf die Eröffnung des Mannes, von dem alles abhing.

»Ich danke Ihnen, Herr Holstein, daß Sie gekommen«, sagte Schröder, zu ihm tretend. »Ich nehme an, Sie seien bereit, noch heute die Reise zum nächsten Hafenplatz anzutreten, und bin meinerseits erbötig, Sie hierzu im Stand zu setzen unter den Modalitäten, wie sie zwischen Ihrer seeligen Mutter und mir verabredet wurden. Sind Sie aber auch fest entschlossen, haben Sie die Thatkraft, den neuen Weg ohne Reue und Umkehr zu wandeln? Ich muß so fragen, um nicht nutzlos zu opfern was Ihnen drüben den Beginn einer neuen, freilich mit Arbeit und Anstrengung verknüpften Existenz ermöglicht.«

Carl blickte nicht auf; die Beschämung trieb ihm das Blut in die Wangen.

»Ich will es!« sprach er halblaut, tief gedemüthigt. »Ich bin bereit zu Allem.«

Schröder legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Es ist noch Zeit für Sie«, sagte er. »Noch haben Sie nichts verloren als ein Vermögen, das sich wieder erarbeiten läßt, denn Sie sind jung. Auch ich war vor sechs Jahren als Vater in derselben traurigen Lage, in der Ihre arme Mutter von hinnen ging. Mein einziger Sohn trat denselben Weg an, den ich Sie jetzt sende; ich ließ ihn gehen hoffnungslos, auf Nimmerwiedersehen; drüben aber ging eine Wandlung in ihm vor, die meinem verzweifelten Vaterherzen eine Freude, ein Stolz ward. Die Noth war sein Zuchtmeister, war sein Lehrmeister geworden; er erkämpfte sich eine geachtete Stellung. An ihn sende ich Sie, er wird Ihnen sagen, wie er selbst zur Vernunft und durch sie zum Glück kam; thun Sie wie er gethan.«

Schröder sah, daß aus Carl's Augen zwei Thränen über die bleichen Wangen rannen. Er nahm seine Hand.

»Sie sind nicht der erste, den ein pflichtvergessenes Weib zu Grunde gerichtet; Sie werden auch nicht der Letzte sein; ich brauche nur den Namen Ihres väterlichen Freundes und Mentors, des unglücklichen Blume zu nennen. Streichen Sie dieses Weib für immer aus Ihrem Gedächtniß und geloben Sie mir in meine Hand, durch unermüdlichen Fleiß sich die eigene Achtung und die Ihrer Mitmenschen wieder zu erwerben, so ist nichts für Sie verloren, was Sie nicht wieder zu erwerben vermöchten!«

Carl's Thränen rannen heißer und heftiger. Er preßte Schröders Hand, schaute ihm endlich ins Antlitz mit weit geöffneten Augen, aus denen Treue und Wahrheit sprachen und rief in heiligem Eifer:

»O, ich will ja mehr thun als geloben! Es soll mir drüben keine Arbeit zu schwer werden und vor Allem will ich sie vergessen, die ... ich will es ja bekennen ... meine unglückselige Schwäche für sie mißbrauchte, um mich endlich heute wie einen Hund von ihrer Thür zu jagen ... Daß ich Ihnen das eingestehe, mag Ihnen ein Beweis für das Erkennen meiner Schande und für die Aufrichtigkeit meiner Reue sein! Aber ich beschwöre Sie um eins,« fuhr er mit steigender Angst fort, »lassen Sie mich zur Bahn schaffen! Lassen Sie jede Gewalt gegen mich anwenden, wenn ich ungehorsam sein sollte, ehe ich das feste Land unter meinen Füßen verloren! Ich fürchte ja nur die nächsten Tage! Es ist ja keine Liebe, keine Leidenschaft für sie mehr ... o, schon lange nicht mehr! ... Es ist nur das vernichtende Bewußtsein meiner Unselbstständigkeit und die verhängnißvolle Macht der Gewohnheit, gegen die ich immer vergeblich ankämpfte, der Gedanke, daß ich Niemanden ins Auge zu schauen berechtigt, daß ich ein elendes, verworfenes Subject geworden, dem Jeder aus dem Wege geht! ... Helfen Sie mir nur so lange bis ich fort, dann ist ja keine Gefahr mehr!«

Schröder schaute nach seiner Uhr.

»Sie bleiben mein Gast bis zur Stunde der Abreise. Mein Bureau-Chef selbst wird Sie in Hamburg auf das Schiff begleiten und drüben in Newyork soll Sie mein Sohn empfangen, den ich telegraphisch benachrichtigen werde. In einigen Stunden reisen Sie; ich werde Ordre geben, Ihnen in aller Eile die nothwendigste Reiseausrüstung zu beschaffen. Gott kräftige und erhalte Sie in Ihren Entschlüssen!«

* * *


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