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16.

An demselben Abend, an welchem Carl die Stadt verließ, war Stella von wilder Ausgelassenheit. Hermann Greif, der junge Maler, hatte sein Bild, die Königin von Arabien, für hohen Preis verkauft und gab seinen Freunden, Künstlern und jungen Viveurs ein Souper in seinem Atelier. Ein Kranz wilder, flatternder Heckenrosen, unter ihnen Stella, verherrlichte den Abend.

Stella war bekannt in diesem Atelier; Greif dankte ihr eine der schönsten Gestalten seines Bildes. Seit sie aus dem Olymp der Gesellschaft herabgestiegen, hatte er kein Geheimniß hieraus gemacht und sie war stolz darauf. Es war ja auch kein Geheimniß, daß andere vornehme Damen diesem und jenem Meister zu weltbekannt gewordenen Bildern Modell gestanden. Auch das öffentliche Geheimniß, daß sie es gewesen, die an des unglücklichen Fürth's Tode Schuld, bildete ihrer Person einen Sockel. Man war neugierig auf sie; nur ein leidenschaftliches Weib konnte zu dergleichen fähig sein.

Stella wollte die Schreckensscene von heute Mittag vergessen. Sie trank und der Champagner verjagte das Todesgespenst, von dem sie sich verfolgt glaubte. Sie belustigte die Gesellschaft durch ihren Uebermuth. Sie tanzte die Tarantella, aber der Schwindel ergriff sie; es war ihr, als machten sich die beiden lebensgroßen Gliederpuppen, die an die Wand gelehnt dastanden, auf, um mit dabei zu sein, und taumelnd sank sie auf einen Sessel. Sie erholte sich und ward den Männern eine amüsante Plauderin, wie sie, ein Bein über das andere legend, zurückgelehnt und die Fußspitzen ausstreckend, in einem der Fauteuils des so phantastisch und reich dekorirten Ateliers dasaß, die Cigarrette zwischen den zarten lasterhaften Fingern, den Rauch in den hohen Raum blasend und der Gesellschaft den schönen Hals zeigend.

Sie erzählte so lustig von Trouville, von Monte Carlo, von Neapel und Palermo, von ihren Erlebnissen hier und dort. Sie empfand nicht den demüthigen Unterschied zwischen der Umgebung, aus welcher sie erzählte, und der, zu welcher sie sprach. Wie sie dasaß mit dem Schick einer Weltdame, wie sie bei all der Eleganz ihrer Formen und Haltung so cynisch über die Schwächen ihres Geschlechtes lästerte, war sie eine Perle, die in die Gosse gerollt.

Sie hatte sich ausgetobt heut Abend, denn sie war die wildeste von Allen gewesen. Ihre Nerven, künstlich und gewaltsam erregt, waren abgespannt und schmerzten, sie betäubte sich selbst durch Gesprächigkeit; sie belog ihre eigene Stimmung und hörte endlich sich selbst nicht mehr sprechen. Eine Leere gähnte in ihr, eine Nüchternheit, die sie erschreckte, wenn sie schwieg. Die Stille umschlich sie so geisterhaft. Die eigenthümliche Beleuchtung des Ateliers, die bei jedem Luftzug aufflackernden Lichter warfen so tiefe, unheimliche Schatten in den großen Raum, auf die seltsamen, bunten Dekorationsgegenstände; die Gesichter auf den umherhangenden Bildern grinsten sie an, die Statuen und wieder die Gliederpuppen tanzten um sie her.

Der Tag war ihr so ereignißschwer gewesen; sie glaubte, nie einen wie diesen erlebt zu haben. Sie hatte einen jener Momente überstanden, deren wir uns in der Todesstunde erinnern, und dann, als sie am Nachmittag die Luft gesucht, war sie mit furchtsamen Schritten quer über die Promenade gegangen, um draußen den entsetzlichen Eindruck zu verwinden, der ihr auf dem Lager keine Ruhe gelassen, und da war ihr eine schöne, stattliche Dame entgegen gekommen, die einem vor ihr spielenden Knäbchen folgte. Der Ball des letzteren war ihr vor die Füße gerollt. Sie hatte ihn aufgehoben; der Knabe hatte sich schüchtern vor ihr zurückgezogen, als sie ihm den Ball reichte. Die Dame hatte ihn dankend aus ihrer Hand entgegen genommen, und in dem Augenblick war's ihr gewesen, als öffne sich die Erde unter ihr.

Sie hatte der Dame nur den hundertsten Theil einer Sekunde ins Antlitz geschaut, dann hatte sie nichts mehr gesehen; alles war wie Nebel vor ihren Augen gewesen. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, als sie ihre Sehkraft, ihr Bewußtsein wieder gewann. Die Dame war fort sammt dem Knaben, denn ihre Füße hatten sie weit hinweg getragen; sie stand an einer Ecke und lehnte sich athemlos an die eiserne Schutzstange eines Schaufensters.

Helmine von Auer hatte es sein müssen, der sie den Ball gereicht. Helmine war noch so schön und frisch gewesen wie damals; sie konnte sich nicht erinnern, mit welcher Miene diese sie angeschaut; sie wußte nur, daß sie erkannt worden.

Und der Knabe! ... Sie stand da, sich die Züge des lieblichen Kindes in's Gedächtniß zurückrufend. Sie errieth, sie wußte, wer der Knabe war, und sie, die der eigenen Mutter geflucht, die sie verlassen ...

Keiner der Gesellschaft errieth, was immer wieder in ihr aufstieg. Keiner sollte es errathen. Sie betäubte sich durch Worte und auch die hallten ihr endlich so unheimlich in's Herz zurück, als brächen sie sich an demselben. Greifs Atelier lag in dem Garten eines großen alterthümlichen Gebäudes, dessen weite Säle und Kellerräume seit Jahren schon einem massenhaft besuchten Restaurant dienten. Der Garten führte zu einer anderen Straße hinaus und war nur durch einen niederen Zaun vom Hofe getrennt.

Man vernahm also im Atelier in den Pausen der erlahmenden Unterhaltung den dumpfen Lärm der Stimmen, die aus dem Bierhause herüberschallten. Greifs Gesellschaft hatte in Witz und Laune bereits ihre Trümpfe ausgespielt; es war Mitternacht geworden. Stella, der das Grauen wie Schlangen im Herzen zu schleichen begann, warf die Cigarette fort; sie sprang auf, setzte sich an das Piano und sang wilde Chansons. Aber auch diese unterbrach sie selbst durch einen plötzlichen Schrei, der durch den großen hohen Raum schallte und Alle zusammenschrecken und herbeieilen ließ.

Sie war aufgesprungen, taumelnd streckte sie die Arme vor sich aus und schlug dann die Hände vor das Gesicht. Greif selbst fing erschreckt sie auf. Sie war todesbleich und zitterte an allen Gliedern.

»Nehmt das gräßliche Bild, das alte Weib da fort!« rief sie, noch immer vor Schaudern erbebend und auf die Wand deutend, denn während sie sang, hatte sie einen über dem Piano Hangenden Studienkopf erblickt, den die auf dem Tische stehenden flackernden Lichter so grell und fratzenhaft beleuchteten. Ihr war's, als grinse sie das vom Todeskampf verzerrte Antlitz der eigenen Mutter an, und mit jenem Aufschreien war sie zurückgefahren und rückwärts in den Saal getaumelt.

Man umringte sie, suchte sie zu beruhigen. Greif nahm das Bild, eine gewöhnliche Kreidezeichnung, von der Wand.

»Warum hängt es gerade heute da! Ich sah es sonst nie!« zitterte Stella, angstvoll ihm zuschauend.

»Aber wie kann das so aufregen!« lachte Greif. »Ich zeichnete es heute Nachmittag im Martins-Hospital, wo ich meinen kranken Diener besuchte!«

»Also doch sie ... meine Mutter!« rief Stella, bei dem Gedanken ihre Fassung wieder verlierend und sich vor Frost schüttelnd. »Muß sie mich auch hierher verfolgen! ... Zerreißt das Bild!« schrie sie, von neuer Angst überfallen und sich an des Künstlers Arm klammernd. »Werft es in's Feuer! Sie will mich mit sich haben! Aber ich will nicht; ich bin noch jung, ich will leben!«

Und abermals verhüllte sie ihr Gesicht; sie stieß die Uebrigen zurück, die, gestört in ihrer Heiterkeit, sich beschwichtigend an sie drängten. Sie suchte in fiebernder Hast und Verwirrung nach ihrem Hut, schluchzte, warf sich auf einen Divan, das Antlitz versteckend, sprang wieder auf, schaute mit starrem Grauen an die Stätte, wo das Bild gehangen, floh endlich zur Thür, schrak aber auch hier mit neuem Schrei zurück bis in die Mitte des Raums und klammerte sich, Schutz suchend, an den Künstler.

Die Tafel stand verlassen, Stella's sonderbares Benehmen hatte Allen die Stimmung verdorben; rathlos standen sie da, einander verlegen anschauend und stumm fragend, was mit ihr zu beginnen.

Nur sie hatte bemerkt, wie, als sie eben zur Thür gewollt, der im Schatten, hinter einigen Gipsstatuen befindliche Thürvorhang sich heftig bewegte, wie eine Männergestalt mit wildem, von Angst entstelltem Gesicht den Vorhang zurückgebogen und am Boden kriechend sich hinter einige über einander geworfene Teppiche versteckt.

»Aber Stella, was ist denn? Nur Ruhe, um Gotteswillen!« rief Greif, sich ihr wieder nähernd, während die Uebrigen, einen Anfall von Irrsinn befürchtend, sich scheu hinter die Tafel zurückgezogen.

Stella hörte ihn nicht. Weiß wie die Gypsgestalten vor ihr stand sie da, zitternd, mit Grauen im Antlitz auf den dunklen Winkel des Ateliers starrend, aus dem ihr zwei gleich den ihrigen angstvolle Augen entgegen starrten, während zwei ihr ganz deutlich sichtbare Hände an den Teppichen zerrten.

»Stella, ich bringe Sie nach Hause! Sie sind krank!« bat Greif, den Arm um ihren Leib legend. »Sie waren vorhin so heiter! Ich verwünsche mich selber, daß ich auf den Einfall kam ...«

Er glaubte, sie zu verstehen und verstand sie dennoch nicht ganz. Als sie ihm keine Antwort gab, als er ihre Brust so fieberhaft keuchen, ihre Augen so mit dem Ausdruck des Grauens auf die eine Stelle brennen sah, ihre angstfeuchte Hand auf der seinigen fühlte, schaute auch er hin ...

Plötzlich aber ließen in der tiefen Stille sich Tritte auf den knarrenden Dielen vor dem Atelier vernehmen, und draußen wurden Stimmen laut. Fremde Gesichter erschienen unter dem von unsichtbarer Hand bei Seite geschobenen Vorhang, das bärtige Antlitz eines Schutzmanns und hinter diesem andere, die sich erhitzt ihm nachdrängten.

»Ich bitte um Entschuldigung«, rief der erstere hereintretend, während die Anderen von wieder Anderen ihm nachgeschoben wurden. »Man vermuthet, daß sich ein Mensch hier versteckt, der drüben im Bierhause einen Todtschlag begangen. Der Zaun im Hofe ist niedergetreten, er kann sich nur hierher geflüchtet haben.«

Greif und seine Gäste standen erschüttert und verwirrt da. Das Atelier füllte sich mit Unberufenen, die ihre Dienste leisten wollten.

»Es ist mir sehr unangenehm, mit meiner Gesellschaft in dieser Weise hier überfallen zu werden!« Damit trat Greif dem Beamten entgegen und blickte zugleich mit Unmuth auf die übrigen fremden Gesichter.

Der Schutzmann hatte inzwischen Stella's sonderbares Benehmen gewahrt. Er sah das junge Weib zittern wie Espenlaub, sah es kreideweiß, kaum im Stande, sich aufrecht zu erhalten.

»Vielleicht weiß diese Dame da!« sagte er, Stella fixirend und Greif auf sie aufmerksam machend. Der letztere schaute zurück auf Stella, deren Auge zu Boden starrte, während ihre Hand nach einer Stütze suchte. Er nahm diese Hand. Sie entglitt ihm, von Angstschweiß gefeuchtet.

»Nein, nein!« rief sie wild auffahrend. »Laßt mich! Ich will fort! ... Fort!«

Sie wankte gegen den Ausgang, die Hände vor sich streckend, als sei sie geblendet.

In dem Moment entstand Lärm in dem dunklen Hintergrund des Ateliers. Man hatte den Flüchtling entdeckt, ihn aus seinem Versteck aufgerissen und schleppte ihn gewaltsam an's Licht.

Mit einem Schrei brach Stella zusammen und ward bewußtlos auf den Divan geschleppt.

Greif, in höchster Verwirrung, war, während Stella's Freundinnen schützend den Divan umstanden, mit seinen Gästen der passive Zuschauer, während der Flüchtling, von den Hereingestürmten umringt, an der Seite des Polizeibeamten hinter dem Vorhang verschwand. Er beugte sich über sie. Er sah das Glühen ihrer Stirn. In ihrer Brust tobte das Fieber, ihre Hände brannten. Sie wand sich auf dein Divan, ihre Lippen öffneten sich verschmachtend; sie riß mit beiden Händen an dem Mieder, um sich aus dem sie verzehrenden Feuer zu befreien; dann sank sie mit einem Stöhnen zurück und nur der heiße, heftige Athem verrieth, daß sie am Leben.

»Einen Boten zum Hospital!« Greif deutete auf die Unglückliche, bittend, man solle sie nicht verlassen, und eilte hinaus.

Als er zurückkehrte, fand er von den Frauen keine einzige mehr; auch seine Freunde waren mit ihnen gegangen bis auf einen, der ihn achselzuckend empfing ...

* * *

Ein Individuum ohne persönliche Anlagen oder geistigen Werth geräth sehr bald unter den Kehricht der großen Lebensstraße, wenn das Schicksal es auf seine Echtheit prüft.

Lenning gehörte bereits zu demselben, als er seine Strafe verbüßt. Das Gesetz schickte, mit der nothwendigen Erwartung des Rückfalls, in ihm einen Menschen wieder in die bürgerliche Gesellschaft, die vor ihm ihre Thüren schloß. Mit dem Hunger in den Eingeweiden beneidete er den Bettler, der den Muth hat, den Vorübergehenden um Almosen anzuflehen. Er wagte nicht mehr, den Hut vor Denjenigen zu ziehen, die ihn erkennen mochten. Nur Einen hatte er den Muth zu kennen, seinen früheren Diener, als er diesen in der Thür einer Boutike stehen sah, die der Mann mit dem Unterschleif und den Trinkgeldern aus der Glanzzeit seines Herrn etablirt. Mit impertinenter Gönnermiene lud er ihn herein und bewirthete ihn. Lenning kam wieder und ging bereitwillig auf das Anerbieten ein, gegen elenden Lohn dem des Schreibens Unkundigen seine Briefe und Rechnungen zu fertigen. Aber auch das währte nur kurze Zeit. Lenning ward von seinem eigenen früheren Diener fortgejagt, weil dieser ihn mehrmals in trunkenem Zustande sah.

Mit dem kargen Verdienst in der Tasche zog es ihn in's Wirthshaus, anstatt sich Brod dafür zu kaufen. Er suchte Betäubung in einer Existenz, in der er sein Sträflingsleben schon vermißte. Der letzte Rest seines Menschengefühls sagte ihm, daß er, ein Ausgestoßener, seine Rettung nur da wiederfinden könne, von wo man ihn entlassen, wo es keine Vorurtheile mehr gab und der Beste der Verworfenen wenigstens noch Achtung bei seinem Kerkermeister findet.

So saß er an demselben Abend, an welchem Stella in dem Hofgebäude vor dem Bilde der Mutter aufschrie, im Wirthshaus. Er trank und trank mit dem Bewußtsein, nicht mehr bezahlen zu können, was er genoß, mit der Vorstellung, daß man ihn morgen aus der elenden Dachkammer verjagen werde, wenn er für die nächste Woche nicht zahlen könne. Der Haß gegen die Welt fraß an seinem Herzen, die Galle vergiftete sein Blut, der Rausch verwirrte sein Gehirn ... Und da führte ihm dieser eine Vision vor sein Auge, die ihm das Haar sträubte: Pfeiffer, der unglückliche alte Mann, hatte heute einen leidlichen Verdienst als Colporteur gehabt. Die Köchinnen hatten Mitleid für den armen Greis, denn sie wußten, er hatte bessere Tage gehabt. Und so kam er heute, seine abgegriffene Ledermappe unter'm Arm, um sich einen stärkenden Trunk zu gönnen.

Das große Lokal war von lärmenden Gästen besetzt; nur an einem Ecktisch in der Nähe der Thür saß ein Einsamer; der Stuhl ihm gegenüber war frei. Pfeiffer schritt darauf zu durch das von Tabacksqualm gefüllte Lokal und ließ sich nieder. Er wünschte dem Gast einen guten Abend, schrak aber zurück, als er ihm in's Gesicht blickte.

Lenning hatte ihn bereits erkannt. Er war in seinem Nachdenken bis zu dem Siedepunkt seines Ingrimms gelangt. Die Schläfe in die Hand gestützt, murmelte er eben vor sich hin: »es ist besser, ein Hund an der Kette zu sein, als wie ein räudiges Thier, von Allen gestoßen, umher zu laufen!« Da schaute er auf, er erkannte Pfeiffer und seine Besinnung verließ ihn.

»Dich schickt mir der Satan!« knirschte er und sich langsam erhebend, Pfeiffer mit seinen von Blut unterlaufenen Augen anstierend, packte er das leere Glas. Sein Arm hob sich.

»Schurke«, rief er vor Wuth schäumend, » Dir verdanke ich mein ganzes Elend!

Sein Arm sank ehe der Erschrockene ihm wehren konnte, und mit klaffendem Schädel sank auch Pfeiffer vom Stuhl. Die Gäste umher sprangen auf, die Bedienung lief herzu; Alles drängte sich um den Unglücklichen, den man leblos vom Boden hob.

Lenning hatte den Muth des Verzweifelten gehabt, er besaß jetzt die Feigheit des Mörders; in dem Durcheinander gewann er die Thür und floh über den Hof.

* * *

Im Martins-Hospital hatte Marion den Nachtdienst bei einem Schwerkranken, als um ein Uhr die Schelle des Hauses gezogen wurde.

Man trug ein junges Weib herein, für das ein den Trägern folgender junger Mann Aufnahme begehrte. Die Unglückliche wurde aus einem improvisirten Tragbette gehoben. Marion selbst wollte behülflich sein, prallte aber entsetzt zurück und ließ die Arme sinken.

»Großer Gott, Mutter und Tochter!« flüsterte sie, mit schwankenden Knieen den Männern folgend, die sie hinauf trugen.

Ein Grausen schüttelte sie und machte sie unfähig, ihren traurigen Dienst zu üben. Aus der Zelle nebenan war heute die Mutter erst hinausgetragen, um ihre dunkle Ruhestätte unter den Armseligen zu finden, denen die Barmherzigkeit die letzten vier Wände aus rohen Brettern zimmert, und um die Wende des Tages schon trug man auch die Tochter herein!

Greif berührte ihre Schulter, wie sie so thatlos dastand. Sie schaute auf und blickte in das Antlitz des jungen Malers, der teilnehmend genug gewesen, den weiten Weg durch die Nacht zu thun, damit man der Unglücklichen die traurige Stätte nicht versage.

Sie verstand kaum, was er sprach. Sie nickte stumpf und verschlang ihre Hände fester in einander. Vor ihren Augen zog ein Bild nach dem andern vorüber, die Tage ihrer eigenen Kindheit im Vaterhause und was danach geschah, als die bürgerliche Gesellschaft sie, eine Diebin, ausgestoßen und Frau Holstein sich ihrer angenommen. Frettchen hatte so warm für sie gesprochen. Die gute Frau selbst hatte sie in das Magdalenenstift gebracht und der Oberin so dringend als bußfertig empfohlen. Dort war sie freilich vor dem Hunger geschützt gewesen. Aber die Arbeit ist so schwer für die Hände, die der Sünde gedient und goldene Ringe getragen; die frommen Schriften, die sie nach dem Tagewerk lesen mußte, die Predigten des Geistlichen am Sonntag hatten sie toll gemacht; sie konnte es nicht immer wieder hören, daß sie eine Sünderin sei, denn sie wollte vergessen, daß sie gesündigt, wenn auch alles die ganze Woche hindurch sie daran gemahnte. Der enge Verkehr mit den anderen Mädchen, die sie sich untergeordnet glaubte, war ihr unerträglich geworden, der Gedanke, zwei Jahre so auszuhalten, war ihr unfaßbar und so war sie wieder gegangen ehe Frau Holstein wieder nach ihr gefragt, denn man legt den Büßenden nichts in den Weg, wenn sie die Buße versagen; man ist stets auf den Rückfall gefaßt und froh, wenn es vom Hundert fünf bis zehn sind, an denen das fromme Werk gelingt.

Der Hunger, die Verachtung, der sie draußen begegnete trieben sie wieder zurück. Sie hatte jetzt wohl Reue, aber diese kam nicht aus dem Herzen, und nochmals ging sie hinaus. Erst als sie da noch einmal beschämt sich wieder einfand, schwor sie hoch und heilig, es sei der Wille zur Besserung ernstlich in sie eingekehrt und sie hielt aus. Aber sie that doch nur äußerlich ihre Schuldigkeit; sie las gedankenlos in der Bibel und hörte wie die Anderen Sonntags die Predigt. Und eingedenk ihres früheren Berufs gab man ihr endlich eine anständige Ausrüstung und schickte sie zur Dienstleistung in's Lazareth, wo man wie bei allen Zöglingen ihre Führung beobachtete ...

Das heute war der schlimmste Tag; er traf sie, als die Schwere ihrer Pflichten bereits wieder an ihrer Bekehrung rüttelte, und rief sie zur Einkehr, zur Ueberlegung. Der vornehmen Frau, zu der sie als Kind mit so viel Respect hinaufgeschaut, hatte sie heute als einer Landstreicherin die Augen zugedrückt, und jetzt hatte man die Tochter derselben gebracht, die Gattin des reichen Holstein, den sie ruinirt, dem sie davongelaufen, um sich dem Laster in die Arme zu werfen!

»Mutter und Tochter!« durchgraute es sie immer wieder, wie sie noch thatlos dastand. Die Angst stieg ihr in's Herz; ihr war's, als strecke sich eine unsichtbare Hand auch nach ihr aus, als würden in diesem schrecklichen Hause die Sünden gestraft. Sie hätte in die Nacht hinaus fliehen mögen, aber sie zauderte. Und jetzt kehrten eben die Träger zurück; der Hausknecht kam, um zu fragen, was vorgehe. Alle schauten sie Marion und die Thränen an, die ihr über die Wangen rannen.

»Ich komme ja!« rief sie, sich endlich fassend. »Ruft doch den Arzt, denn wenn sie stürbe! ... Mutter und Tochter, o, es wäre ja fürchterlich!«

Marion eilte mit zitternden Gliedern und geblendeten Augen, um ihre Pflicht zu thun. Es war ihr die tröstende Idee gekommen, es sei doch besser, hier freiwillig zu büßen, sich Gnade vor dem Schicksal zu verdienen durch das, was sie an anderen Sünderinnen that. Der Hunger hatte sie zur Buße getrieben, die Furcht jagte sie doch noch einmal wieder an ihre Pflicht.

* * *


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