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19.

Herbst war's wieder geworden. In Auershof war Alles beim Alten. Der Major ließ sich mit seinem schweren Leibesgewicht im Rollstuhl durch die Felder und Aecker fahren, um nach dem Rechten zu sehen.

Sein einziger Wunsch war immer der: wenn ich es vor meinem Ende nur erlebte, daß Einer käme, um die Helmine von ihrer Männerscheu zu kuriren! Aber dafür war keine Aussicht. Ballmann, der neue Gutsnachbar, hatte sich dem Major näher bekannt gemacht. Er kam öfter, sandte seine Enkelchen nach Auershof und Helmine war diesen eine liebevolle, die Kinder gern bei sich sehende »Tante«.

»Die Kinder hat sie gern, aber die Männer nicht! Wie Schade, wie Schade!« brummte Auer, wenn er sie mit Ballmann's Enkeln und dem Knäbchen spielen sah, das sie in Erziehung genommen, das sie täglich auf den Schooß nahm, um ihm Märchen zu erzählen.

Wenn Ballmann die schöne, blühende Juno-Gestalt in ihrem anmuthigen Wirken sah, äußerte er wohl zu ihrem Vater: »ich habe doch viele Weiber kennen gelernt, aber es gehen zwanzig von ihnen auf diese Eine! Sie ist zu stolz, um zu verzeihen, was ihr das Männergeschlecht durch den Einen angethan. Sie wirft uns Alle in einen Topf, und ich will auch nicht behaupten, daß sie uns damit so großes Unrecht thue, aber wir sollten gegenseitig Nachsicht mit unseren Schwächen haben.«

»Ja Sie haben wohl Ursach, lieber Doctor, die Nachsicht zu verlangen, denn Sie sind immer ein großer Jäger vor dem Herrn gewesen. Was aber die Helmine betrifft, da wüßt' ich schon Einen! Der ist leider weit fort und deshalb hält sie es für ungefährlich, mit ihm Briefe zu wechseln. Es ist aber auch sein Glück, daß er nicht hier ist, denn sonst ginge sie ihm auch aus dem Wege, weil er ein Mann ist.«

Zu seinem Befremden hatte der Alte in seiner Tochter während der letzten Wochen eine ihr sonst so fremde Unruhe bemerkt. Helmine suchte viel allein zu sein und gab ihm ausweichende Antworten.

»Du kennst ja meine, Gott sei Dank, so feste Gesundheit!« war ihre Antwort.

»Davon rede ich auch nicht,« brummte eines Tages der Alte, als das Knäbchen draußen auf dem Hof mit den Hunden spielte. »Ich meine ganz was Anderes! Der Ballmann liegt mir immer in den Ohren; bald hat er diese, bald jene Partie für Dich, und Recht hat er. Pack' endlich einmal ein mit Deiner Männerscheu, denn wenn ich sterbe, muß eine kräftige Hand da sein, um die Gutsverwaltung zu leiten.«

»Ich fühle mich kräftig genug, Papa!«

»Ja, das weiß ich; aber ein Frauenzimmer bleibt immer ein Frauenzimmer, vor dem die Knechte und Mägde keinen Respect haben.«

»Ich meine doch, sie hätten ihn!«

»Das ist alles ganz gut, aber zu was denn dies Nonnenthum? Du bist in Deinen allerschönsten Jahren – denn wie viel Mädchen heirathen überhaupt erst in Deinem Alter!«

Du siehst, was unter der Hand eines Mannes aus Hanna's drei schönen Landgütern geworden ist! Als Fürth gestorben, wälzte sich auf die Arme eine kolossale Schuldenlast, Wechsel über Wechsel, die er prolongirt und ihr verheimlicht hatte. Schande halber mußte sie Alles bezahlen, nachdem er ihr bei Lebzeiten schon die Hälfte ihres Vermögens durchgebracht, und sie ist froh, daß sie als Wittwe noch einigermaßen anständig zu leben hat ... Da hast Du die starke Männerhand!«

»Na, so Einen möcht' ich auch am allerwenigsten als meinen Nachfolger in der Wirthschaft haben; ich meine einen ernsten, positiven Mann, der weiß, was er will, und deren giebt's ja doch auch noch in der Welt.«

»Ganz abgesehen von meiner Abneigung gegen die Männer, die wohl nur allzu berechtigt, würde ich keinen Gatten um mich dulden, für den ich keine Zuneigung empfinde, Dr. Ballmann soll sich keine Mühe um mich geben. Es existirt kein Mann, den ich gern haben könnte.«

Auer schielte sie prüfend an.

»Keinen? ... Du sprichst nicht die Wahrheit! ... Ich wüßte schon Einen ... den Richter! Schade, daß der in Amerika ist! Hat er Dir lange nicht geschrieben? Sonst erzähltest Du mir immer aus seinen Briefen.«

»Er schrieb lange nicht!« Helminens Antlitz zeigte einen Farbenwechsel, der dem Alten nicht entging.

»Schade! Wenn ein Weib mit einem Mann gern korrespondirt, so möcht' es doch gewiß viel lieber mit ihm plaudern. Aber der hat freilich auch ein Haar in der Ehe gefunden.«

»Er hat allerdings die bitterste Erfahrung machen müssen«, sagte sie, die Farbe wechselnd. »Doppelt schade um ihn, denn er ist einer der wenigen Männer, die glücklich zu werden verdienten.«

»Na, siehst Du, das hab' ich ja nur hören wollen! Verschreib ihn Dir von Amerika, so braucht Ihr keine Briefe mehr zu wechseln!«

Helmine erhob sich beleidigt. Der Alte schaute, mit den Augen zwinkernd, ihr nach.

»Freilich, wenn's ihm wohl ergeht da drüben,« brummte er, »warum soll er sich da noch die Weiberlast aufladen, die ihm schon einmal so schwer geworden!«

Helmine suchte nach der Unterhaltung wieder die Einsamkeit. Sie war tief verstimmt. Richter hatte, seit er seine neue Heimath erreicht, ihr regelmäßig geschrieben. Seine Briefe waren ernste, aber interessante Mittheilungen über sein Leben, seine Thätigkeit, Schilderungen des großartigen industriellen Treibens, in dessen Mitte er und, wie es schien, als einflußreicher Factor, stand. Keins seiner Worte gedachte der traurigen Erlebnisse, die ihn aus dem Vaterlande getrieben; die aus ihnen sprechende Stimmung bekundete ein gesundes, festes Gemüth. Kein Wort auch deutete jemals an, daß er irgend etwas Anderes als aufrichtige Freundschaft für die empfinde, an welche seine Briefe gerichtet. Und auch Helmines Zeilen schlugen stets denselben ruhigen Ton an; ihr waren es weihevolle Stunden, in denen sie seine Briefe las, dieselben beantwortete.

Jetzt war seit Monden keine Zeile von ihm gekommen, und das bewirkte in Helmine eine Leere, ein Vermissen, für das sie nichts entschädigen konnte.

Andere Menschen als damals waren jetzt um sie: jene Verschollene, die sie einst in's Herz geschlossen, galt ihr als ein zweiter schwerer Irrthum desselben und gedachte sie des Tages, an welchem sie ihr auf der Promenade begegnet, so stieg die Schamröthe ihr in's Antlitz.

Nur Hanna kam zuweilen in ihren Trauerkleidern nach Auershof; doch sie war ihr gleichgültig; sie war auch nicht mehr die Alte. Auch Hanna beklagte einen Irrthum, einen Mißgriff, den sie schwer gebüßt und noch büßte. In Fürths Papieren hatte sie nach seinem Tode an ihn adressirte leichtfertige Briefe von Frauenhänden gefunden, in welchen sie der Gegenstand des Spottes war, deren Ton ihr bewies, daß er in demselben Sinne von ihr gesprochen, deren Inhalt sie zu noch größerem Hohn überzeugte, in welche Hände ein so bedeutender Theil ihres Vermögens gewandert. Und dennoch, als sie Wittwe geworden, beweinte sie ihn wie einen Verlust ihres Herzens, den ihr ein unerbittliches Schicksal bereitet! Und was ihr bei Lebzeiten Fürths die Welt nicht geglaubt: daß sie den Mann, der ihrem Stolz öffentlich die schwersten Prüfungen bereitet, wirklich geliebt, das ward selbst Helmine jetzt zu glauben versucht, wenn sie die bleiche, fleischlose Gestalt, ein Gerippe, in den schwärzesten Trauerkleidern mit durch Leiden früh gealtertem Gesicht bei sich erscheinen und Trost suchen sah.

Hanna hatte, tactlos genug in ihrem Schmerz, gleich bei ihrem ersten Erscheinen als Wittwe die Rede auf ihre einstige Gegnerin gebracht, als sei es ihr eine Genugthuung, diese noch so unendlich viel elender zu wissen. Helminens strafender Blick hatte ihr das Wort abgeschnitten. Es sollte in ihrer Gegenwart selbst der Name dieser Einen nicht mehr ausgesprochen werden. Auch Ballmann hatte, als von der Verurtheilung Lennings in den Zeitungen stand, einmal auf die ehemalige Besitzerin seiner Villa und deren Tochter die Rede gelenkt; Helmine aber war aufgestanden, ihm andeutend, daß sie nichts zu hören wünsche.

Hanna war endlich auf ihren Rath während des Sommers zu Verwandten gereist. Jetzt zum Herbst war sie zurückgekommen, ruhiger, gefaßter, auch körperlich wieder hergestellt und sie kam allwöchentlich nach Auershof, wo Ballmann ihr Rechtsberather in der Abwickelung finanzieller Mißstände ward.

Um diese Zeit stand Helmine eines Sonntags Morgens auf einer Terrainwelle ihres Gutes, über welche die Chaussée führte, um in der Richtung nach Ballmann's Villa hinaus zu schauen.

Berthold, der Kleine, ihr Liebling, war mit einer alten Dienerin, die schon seit Jahren dem Hause angehörte, gestern zu Ballmann gefahren; dieser hatte ihr am Abend durch einen Boten melden lassen, der Knabe sei ermüdet vom Spiel eingeschlafen, er sei ja für die Nacht bei seinen Enkelchen gut aufgehoben.

Der Herbstwind strich frisch und scharf um ihre Wangen; die Landleute, die mit ihren Kindern an ihr vorüber zum Gottesdienste in die Stadt zogen, grüßten sie respektvoll. Helmine hatte für jedes der Kinder ein liebes Wort und beschenkte sie mit Silbermünzen, wofür sie in der Stadt sich etwas kaufen sollten.

»Wenn Euch der Wagen mit meinem Berthold begegnet, sagt ihm, ich erwarte ihn schon,« rief sie ihnen nach und ließ sie weiter ziehen.

Wohl eine Viertelstunde stand sie da. Der Wind preßte ihre Robe gegen die schönen, edel geformten Glieder und spielte mit ihrem Schleier. Unruhig stieg sie die Höhe hinab. Da rollte ihr ein Wagen von der Niederung entgegen. Es war der ihrige. Aber es saßen ihrer Mehrere darin.

Langsam schritt sie dem offenen Gefährt entgegen. Sie erkannte Berthold ... Aber ein bärtiger Mann saß neben ihm. Sie kannte ihn nicht. Wie kam er zu dem Knaben? Verlegen trat sie auf die Bankette der Straße. Der Wagen näherte sich. Berthold stand aufrecht in demselben und streckte ihr die Händchen entgegen. Der Herr neben ihm lüftete höflich den Hut. Sie kannte ihn auch jetzt noch nicht, den bärtigen, tiefgebräunten Mann ...

Der Kutscher hielt die Pferde an. Berthold rief ihr freudig zu und schaute dabei mit einiger Schüchternheit auf den Herrn neben ihm. Helminens Auge haftete fragend auf diesem, wie er eben den Wagen verließ, hoch aufgerichtet zu ihr heranschritt, den Hut vom Haupte zog und sie lächelnd begrüßte.

»Herr Richter!« brach sie plötzlich in freudigem Erschrecken aus. »Sie hier ... Und darum fast den ganzen Sommer hindurch keine Nachricht!«

Richter, kräftiger, mit schärfer ausgeprägten Zügen seines von der Sonne gedunkelten Gesichtes, ein Urbild der Gesundheit, nahm ihre Hand und preßte sie herzlich in die seinige.

»Ich bin schon seit vier Wochen in Europa und brauchte diese, um Geschäftliches abzumachen und die kurze Zeit, die mir danach bleibt, meinen Freunden hier zu widmen.«

Helmine entfärbte sich. Sie errieth, was dies bedeutete; aber sie schwieg. Das Blut kehrte auch wieder in die von der scharfen Luft erhitzten Wangen zurück. Berthold war zu ihr gesprungen und küßte ihr die Hand. Das half ihr aus der Verlegenheit.

»Gestatten Sie mir Ihren Arm. Wir haben uns wohl viel zu erzählen,« sagte Richter. »Ich erkannte unterwegs die alte Margarethe, die mich freundlich in den Wagen lud.«

Helmine gab dem Knaben einen Wink, voraus zu fahren, und Beide folgten demselben, anfangs beiderseits nicht ohne einige Befangenheit über das, was sie sich sagen sollten ...

Am Mittag saßen sie ihrer Drei beim Diner zusammen. Der alte Auer mußte heute das Bett hüten; Willkommneres aber als dieser Besuch hätte ihm nicht passiren können.

Richter erzählte von dem Moment ab, wo er am Schauplatz seines neuen Berufes angelangt bis zu dem gestrigen Tage, da er in der Residenz eingetroffen.

»Aber«, setzte er mit düsterer Stirn hinzu, »es litt mich nicht dort. Mir war's mit dem schuldlosesten Gewissen, als habe ich ein Verbrechen begangen, als könne ich den Leuten nicht in's Antlitz sehen, als rufe mir Jeder nach: das ist er, der ...« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich brach deshalb heute Morgen bei Zeiten auf, um zu Fuß hier hinaus zu eilen und Ihnen noch einen letzten Gruß zu bringen.«

Helmine hatte ihn schweigend erzählen lassen, dann mit Herzpochen sich in seine Lage versetzt, wie man ihm, dem Ahnungslosen, der vom fernen Mississippi kam, das Unerhörte erzählt hatte. Jetzt vernahm sie von seiner Absicht, wieder zurückzukehren, und ihre Hände zitterten, ihr Auge feuchtete sich ... Aber er durfte nichts wissen. Sie sprach mit gepreßtem Herzen, wenig, zerstreut, vermied, seinem Auge zu begegnen; und er fand sie wohl so anders in ihrem Wesen, aber er meinte, sie empfinde mit ihm, der Tact verbiete ihr zu reden.

Endlich gewann sie doch ihre Fassung. Sie hob die Tafel auf, schickte den Kleinen, der während des Diners der Gegenstand von Richters Aufmerksamkeit und Theilnahme gewesen, zur Wärterin und führte Richter in den kleinen Salon, wo man den Kaffee servirte. Richter hatte bei der Tafel Andeutungen gemacht, als sei es seine Absicht, den Knaben mit sich zu nehmen; auch das hatte ihr neue Bange ins Herz gerufen. Jetzt erst, als sie mit ihm allein, wagte sie es, die Rede auf den Kleinen zu bringen.

»Ich gestehe, ich bin eigentlich um seinetwillen gekommen, um eine Pflicht zu erfüllen, die ich in der schwersten Stunde meines Lebens übernommen.«

Helmine blickte ihn furchtsam an. Sie brachte im Erschrecken kein Wort heraus.

»Es ward mir eine Mahnung nach Amerika geschickt, es sei besser, ich hole den Knaben zu mir ...«

Helmine unterbrach ihn betroffen.

»Eine Mahnung? ... Ist er nicht gut bei mir untergebracht?«

Richter wagte nicht, ihr zu sagen, daß ihr eigener Vater ihm während des Sommers die Aufforderung geschickt, ohne ihm weitere Motive anzudeuten. Er selbst hatte keine Ahnung, daß der alte Auer nur diesen Vorwand benutzt, um ihn einmal wieder nach Deutschland herüber zu locken. Auer hatte ihn, als er ihn heute begrüßt, mit Blick und Handdruck ersucht, ihn seiner Tochter gegenüber nicht zu verrathen.

»Ich will ihn mit mir nehmen,« wiederholte Richter. »Ich übernahm die Verantwortlichkeit für seine Zukunft und hoffe, einen Mann in ihm zu erziehen.«

Helminens Herz zog sich krampfhaft zusammen. Die stille Hoffnung, er werde in Europa bleiben, war zu Schanden geworden. Auch der Knabe sollte ihr entrissen werden, an dem ihre ganze Seele hing. Sie fühlte sich unfähig, die Unterhaltung weiter fortzuspinnen, benutzte einen Vorwand, sich zu erheben und that dies mit einer gewissen Unsicherheit.

Als sie sich von ihm getrennt, suchte sie mit von Thränen verschleiertem Auge ihre Zimmer, schloß sich in diese ein und warf sich trostlos auf das Sopha. Sie weinte laut und schluchzend. Richter hatte ihr Herz tödtlich getroffen. Da war er endlich dennoch zurückgekehrt, dieser eine Mann, dem sie mit ganzer Seele die vollste Achtung, ja mehr entgegengetragen, auf dessen Heimkehr sie in heimlicher Sehnsucht gehofft, und er war nur gekommen, um ihr auch das noch zu entreißen, was der einzige Trost ihrer freiwilligen Einsamkeit gewesen! Wäre er niemals wiedergekehrt! Hätte er durch seine Persönlichkeit nicht zur Flamme angefacht, was so lange ein stiller, schöner Kultus ihres Herzens gewesen! Er war hart und fühllos geworden da draußen ... Er mochte gehen, wieder über das Meer ziehen auf Nimmerwiedersehen; aber ...

Sie erhob sich endlich mit wiedergewonnener Fassung und trat in ihr Garderobe-Zimmer. Und von hier aus sah sie, wie Richter, den Kleinen an der Hand, über die Halde stieg, wie er so oft mit Herzlichkeit auf ihn hinabschaute und seine Freude an ihm hatte.

»Nimmermehr!« rief sie entschlossen. »Auch mein Wort gilt in dieser Frage, und ich werde es geltend machen!«

Am Abend fand sie Richter, ihrer bereits wartend, allein im Salon. Betroffen trat er ihr entgegen. Sie war in Trauer gekleidet. Ihr Antlitz war bleich, ihre Augen waren geröthet; er sah noch die Spuren vergossener Thränen an ihren Wimpern. Theilnahmsvoll ergriff er ihre Hand; mit bewegter Stimme richtete er seine Frage an sie. Helmine war kalt. Ihre Fingerspitzen berührten kaum seine Hand.

»Habe ich nicht Ursache zur Trauer?« fragte sie, seinen Blick vermeidend. »Sie kamen, um mir das Einzige zu nehmen, was mir noch theuer hienieden ...«

Die Stimme versagte ihr. Sie wandte sich ab und führte das Taschentuch vor das Antlitz. Richter stand erschreckt.

»Das Einzige?« Er suchte zu errathen. »Konnte ich eine Ahnung haben?« setzte er verlegen hinzu. »Bedarf denn der Knabe nicht der kräftigen Leitung einer Männerhand ...?«

»Die so rauh und schonungslos wie die Ihrige! ... O nein!«

Sie trat zur Seite, um ihre Stimmung zu verbergen. Richter's Auge schaute der hohen schönen Gestalt betroffen nach.

»Sie urtheilen hart!« sprach er, ihr folgend und ihre Hand suchend, die sie ihm verweigerte. »Sie kennen die Heiligkeit der Pflicht, die ich ...«

»Und zertrümmern die der meinigen!« Helmine ließ sich auf einen Fauteuil nieder; er setzte sich ihr gegenüber. Sie vermied, ihn anzuschauen.

»Davor behüte mich Gott!« rief er in warmem Herzenston, der in Helminens Herz wie ein Himmelstrost widerhallte. »Aber bedenken Sie Eins, das ich für meine Absicht in die Wage werfen muß« ...

Er zögerte. Und dennoch mußte er sprechen.

»Sind Sie überzeugt, daß das Vermächtniß des Blutes ... dieses Blutes, das in drei Generationen schon so unendlich viel Elend gestiftet, nicht Neigungen, Triebe in dieses Kind gelegt, die nur die kräftige Hand eines Mannes im Keime zu ertödten vermag?«

Helmine schwieg betroffen. Verlegen schaute sie nieder.

»Ich klage mich selber an, der fahrlässigste Gatte gewesen zu sein, und der Vorwurf steigt noch heute in mir auf, wenn meine Thätigkeit einen Ruhepunkt verlangt; aber ich war es aus Vertrauen, aus warmer, inniger Hingebung. Heute erkenne ich aus trauriger Erfahrung besser die Pflichten eines Gatten, deren erste es ist, in seinem Weibe, wenn es nur auf Genüge und Beschäftigung der Seele angewiesen, zu erkunden, was dieser ein Bedürfniß, es mit seinem ganzen Intellect in diesem Bedürfniß auf das Richtige und Wahre hinzulenken und jede Störung ihres Erkenntnisses durch schädliche Einflüsse zu verhüten. Die Thätigkeit ist nicht nur dem Manne ein Bedürfniß, auch das Weib behütet sie vor müßigem Sinnen über sich selbst, vor krankhaftem Begehren nach dem von ihr vielleicht noch Unverstandenen, in seiner Tragweite Unberechenbaren. Die Beschäftigung gebiert in ihr das Bewußtsein immer neuer Pflichten, während die Trägheit sie vor der Erfüllung der ersten schon zurückschreckt.«

Helmine schwieg. Sie wußte, daß seine Worte ihr nicht gelten sollten.

»Ob es mir gelungen wäre,« fuhr er fort, »selbst wenn ich meine Mission besser erkannt und geübt hätte, Gott mag es wissen, denn ich hätte mit mir unbekannten Feinden kämpfen gemußt, die ich ja nicht getroffen haben würde; ich besaß ja das Herz nicht, das ich glücklich zu machen vermeinte. Es ist nicht das geringste Unglück unserer Ehen von heute, daß den Mann die Sorge um den Erwerb den ganzen Tag hindurch draußen erhält, während das Weib, namentlich wenn es kinderlos, in seiner einsamen Muße mit sich selbst in und an sich Entdeckungen macht, die es niemals machen sollte.«

»Doch sprechen wir von dem Kleinen,« brach er ab. »Ich sagte Ihnen, was ich für nothwendig, für unerläßlich halte, um ihn vor Instinkten zu bewahren, die vielleicht auch in's vierte Glied vererben können, die zu ertödten es der ganzen Sorgfalt und Kraft des Erziehers bedarf.«

Richter schwieg; er sah sie sinnen. Endlich schaute sie auf. Ihr Auge leuchtete in feuchtem Glanz, ihre Hände zitterten in freudiger Erregung. Sie mochte einen Ausweg gefunden haben.

»Sprechen Sie! Was soll geschehen?« fragte er.

»Und Sie versprechen, meinen Bitten zu willfahren?«

»Ich habe nicht zu versprechen, was ich im voraus zu erfüllen entschlossen bin, wenn ich es zu verantworten im Stande.«

»Wohlan denn, Berthold bleibt bei mir! Sie reißen ein Stück meines Lebens mit ihm von mir!«

Richter erschrak. Er sammelte sich, schaute sie forschend an. Er war nicht so bereit, wie sie glauben mochte.

»Gnädige Frau,« sagte er ruhig, in vorwurfsvollem Ton, »ich habe aus Ihrem Munde einst die schonungsloseste Verurtheilung meines Geschlechtes gehört. Ich habe damals nicht gewagt, zu widersprechen. Nur die Erziehung macht den Mann, und glauben Sie sich stark genug, einen solchen aus dem Knaben zu machen? Wollen Sie Gefahr laufen, auch aus ihm eines jener Geschöpfe werden zu lassen, die zu verdammen Sie so gegründete Ursache zu haben meinten? Ueberlegen Sie, wie schwer es einer Frauenhand sein muß, einen Mann zu erziehen!«

Helmine schwieg. Richter's Einwurf war gerecht. Er schlug sie mit ihren eigenen Waffen.

»Ich verspreche Ihnen, Alles zu thun ...« sagte sie mit gepreßter Stimme.

»Und können Sie versprechen, nicht nur Halbes zu erreichen

Helmine faltete verzweifelt die Hände. Auch dieser Einwand war gerecht. Schon jetzt hatte zuweilen die natürliche Unbändigkeit des Knaben sie Bedenken in ihre Fähigkeit setzen lassen, das gute, aber ausbündige Naturell desselben bewältigen zu können.

»Die Wahrheit Ihrer Worte verbietet mir den Widerspruch!« rief sie muthlos, die Hände ringend. Dann plötzlich, einem jähen Entschlusse folgend, streckte sie ihm die Hand entgegen.

»Wohlan denn!« rief sie. »So ist nur Eins noch übrig: bleiben Sie im Vaterlande, das Sie vermißt, das Ihrem Streben, Ihrem Talent ja so reiche Thätigkeit bietet! Bleiben Sie um des Kindes willen! Theilen wir den Knaben zwischen unseren Herzen und Gott wird uns Beide in seinem Gedeihen lohnen!«

Richter sah die schöne weiße Hand; er sah die Begeisterung aus ihren großen, thränenfeuchten Augen glänzen und dennoch zauderte er, diese Hand zu nehmen. Er rang sichtbar mit sich selber.

»Richter!« hörte er jetzt nach einer Pause wieder ihre Stimme. »Kann es Ihre Absicht sein, mich für eine Ueberzeugung zu strafen, die ich nie verschwiegen, weil sie mich den schönsten Theil meines Lebens, meiner Jugend kostete? Zwingen Sie mich denn, Ihnen zu gestehen, daß das Erkennen, die Bewunderung Ihres edlen Charakters, Ihrer Seelengröße, Ihrer Thatkraft mir Ihnen gegenüber längst das Erkenntniß meines Unrechts abgerungen? ... Bleiben Sie, erziehen Sie in Berthold einen Mann von Ihrem Werth, und Gott wird Sie segnen, ewig, ewig!«

Richter's Herz, als er die Stimme hörte, als er die heilige Weihe der Begeisterung einer großen, schönen Frauenseele in den von Thränen überglänzten Augen Helminens sah, unterlag einem jener unbeschreiblichen, überwältigenden, inneren Vorgänge, dem jeder Wille, jeder noch so feste Entschluß unterliegt. Ohne sich Rechenschaft zu geben, ergriff er hingerissen die ausgestreckte Hand und führte sie an seine Lippen. Helmine überließ ihm dieselbe, regungslos, doch überselig.

»Dank, tausendfachen, heißen Dank!« rief sie und sich selbst vergessend, in dem Ueberströmen jenes schon so lange still und verschlossen in ihr lebenden Gefühls für diesen Mann, glitt sie vom Sessel, kniete sie vor ihm nieder, schaute mit beseligten Augen zu ihm auf, keine Worte findend, nur mit einem Blick des innigsten Dankes ihm sagend, was ihre Lippen verschweigen mußten.

Richter hob sie zu sich auf. Er preßte einen langen Kuß auf ihre Hand und sah gerührt, wie zwei Freudenthränen über ihre Wangen rannen.

»Ich bleibe!« sagte er leise, während eben der Knabe in's Zimmer hereinstürmte und sich zwischen beide schmiegte. »Ja, wir wollen ihn zwischen unseren Herzen theilen,« setzte er hinzu, dem Knaben die Hand auf den lockigen Scheitel legend ...

Am nächsten Mittag schon erschienen Zwei vor dem alten Auer, der im Bette saß und schon vergeblich nach seiner Tochter gefragt hatte, da sie den ganzen Morgen sich nicht um ihn gekümmert. Er schaute den Beiden entgegen, schlug sich in die Hände und lachte laut auf.

»Das hab' ich gut gemacht!« rief er vergnügt, ihnen die Hände entgegenstreckend. »Den Richter da hab' ich Dir herüber geholt unter dem Vorwand, er solle sich um den Kleinen kümmern, wie er einst versprochen! Dich hab' ich glücklich kurirt, Helmine, und jetzt habt Ihr meinen Segen alle Beide!«

Am nächsten Morgen fand man den Major todt im Bette. Sein Diener erzählte mit Thränen in den Augen, der alte Herr habe die ganze Nacht keine Ruhe gefunden, er habe sich todt gefreut über die Ankunft des Herrn Richter.

* * *


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