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18.

Inzwischen saß Frettchen, nach ihrer Gewohnheit täglich mit dem Strickstrumpf in den flinken Händen, am Fenster ihres Parterre-Stübchens hinter den buntblühenden Geranien. Das halbe Wort, das sie Weymar gegeben, hatte sie ganz gehalten. Weymar hatte eine eigene Werkstatt errichtet und der Arbeit so viel, daß er zwei Gesellen beschäftigte, und sie verwaltete das kleine Eckhaus mit dem Schuppen im Hofe, das er gemiethet. Beide verstanden und vertrugen sich. Frettchen sah den biederen Meister mit stiller Bewunderung schaffen und Weymar schielte zufrieden auf die Sauberkeit, die in seinem Hause herrschte.

Wenn Beide nach dem Tagwerk beim Abendbrot beisammen saßen, erschien er mit seinen schwarzen, schwieligen Händen wie ein Bergriese, von einem Gnomen bedient, denn sie machte ihm Alles so mundgerecht, und wenn Frettchen einmal in der Werkstatt zu thun hatte, schauten die Gesellen mit Respekt auf das kleine verwachsene Geschöpf.

Als Weymar schon nach den ersten Wochen einmal sehr verstimmt wurde, bei dem Abendmahl sich öfter mit der derben Hand hinters Ohr oder in das wollige Haar fuhr und nach dem Mahl länger im Wirthshaus blieb als bisher, suchte sie ihn durch vorwurfsvolle Blicke zum Reden zu bringen.

»Weymar«, sagte sie am nächsten Abend, »daß Sie in's Wirthshaus gehen, ist selbstverständlich, denn Sie müssen sich aussprechen, und für die Kundschaft ist's auch vortheilhaft; aber daß Sie bis Mitternacht draußen bleiben, das führt zu nichts Gutem. Das war doch früher niemals Ihre Gewohnheit.«

Weymar nahm den Verweis ruhig hin und starrte, seine schwielige Faust auf den Tisch legend, vor sich nieder. Er fuhr sich wieder mit der Hand durch's Haar.

»Hm! Recht hast Du, Frettchen! Du hast immer Recht! Aber Du solltest wissen, daß das mit mir keine Gefahr hat. Ich rauche nicht, ich trinke nicht; ich führe auch im Wirthshaus nicht das große Wort wie meine früheren Kameraden, obgleich mir auch nicht Alles richtig scheint was sie da Oben mit uns treiben. Ich kümmere mich nicht um die socialistischen Lehren, zu denen sie mich gern heran holen möchten und haue im Wirthshaus nicht auf den Tisch wie Andere, wenn sie mir entgegen reden. Gehe ich auch nicht in die Kirche wie Du – denn es ist ja genug, wenn Einer von uns geht – mein Grundsatz und mein Bekenntniß ist die Arbeit, und darin liegt mehr Religion als in hundert frommen Büchern oder Tractätchen.«

Er unterbrach sich; er zauderte, mit der Sprache heraus zu kommen. Frettchen blickte ihn mit ihren verständigen Augen an und wartete, bis er von selbst spreche.

»Aber weißt Du ... daß ich's Dir bekenne ... Es ist zweierlei, was mir den Kopf warm macht. Das Erste ist, daß es mir an Kapital fehlt, um alle die Materialien anzuschaffen. Die Arbeit wächst mir über den Kopf; borgen will ich nicht, denn damit mache ich zehn Schritte rückwärts, die immer erst wieder vorwärts gethan sein müssen.«

Frettchen legte die Arbeit in den Schooß. Sie war eben beschäftigt, ihm eine wollene Arbeitsjacke zu stricken.

»Ist's denn gar so viel?« fragte sie lächelnd.

»Nu, so ein tausend Thaler mindestens!«

Frettchen schüttelte unmuthig den Kopf. »Aber, Weymar, wissen Sie denn nicht, daß ich mein Sparkassenbuch habe?«

Weymar lachte derb und legte die breite Hand wieder über den Tisch, die ihrige suchend.

»Frettchen, das weiß ich! Ich weiß auch, wie gut Du bist; aber ich mag in keines Menschen Schuld sein, selbst in der Deinigen nicht.«

»Das brauchen Sie ja nicht! Sie nehmen es von dem, was ich meiner unvergeßlichen Frau Holstein verdanke, und legen es wieder an denselben Platz, sobald und je nachdem Sie Ihre Arbeit bezahlt bekommen.«

Weymar lachte zufrieden vor sich hin.

»Erspartes soll man nicht ohne Noth angreifen, und Noth ist's doch nicht! Vor der soll mich Gott bewahren!«

»Nein, Weymar, aber wenn man ein Kapital hat, so soll man nicht zaudern, es zu nehmen und es in redlicher Arbeit anzulegen. Sprechen wir also nicht weiter davon! Sie machen morgen Ihre Einkäufe, schaffen noch einige Gesellen in die Werkstatt und das Uebrige findet sich ... Was war das Andere, was Sie mir sagen wollten?«

Weymar überlegte.

»Ja, siehst Du ... Es ist etwas Unangenehmes für Dich, was ich Dir verschweigen wollte; aber erfahren würdest Du es doch ... Es betrifft die Marion.«

Frettchen schaute erschreckt auf.

»Was ist mit ihr schon wieder? Sagen Sie mir Alles!«

»Na, meinetwegen denn! Da hat man nun die beste Hoffnung gehabt, daß Alles glatt und gut mit ihr gehen werde, und wenn es auch ein trauriges Geschäft ist, um Kranke und Sterbende zu sein, so ist es doch immer ein Gott wohlgefälliges Werk ... Sie war auch eigentlich diesmal nicht selber Schuld daran, aber in der Lenning'schen Familie sitzt einmal der böse Geist, das hab' ich schon immer gesagt, als ich sie von der Fabrik aus beobachtete. Die Lenning's sind alle Vier zu Grunde gegangen, die Schwiegermutter voran, dann der Mann, die Frau und endlich geht auch die Tochter denselben Weg. Mit der liderlichen Wirthschaft konnt' es am Ende nicht anders werden!«

»Sie wollten von Marion ...!« Frettchen fürchtete sich, von Stella zu hören.

»Ganz recht! ... Daß der Lenning den armen alten Pfeiffer erschlagen, weißt Du, aber nicht, daß sein ehrloses Weib, von dem er geschieden, an demselben Tage als Landstreicherin hier im Lazareth gestorben.«

Frettchens Hände zitterten im Schooß. Sie seufzte vor sich hin.

»Ich sehe sie noch, wie sie eine so schöne stolze Frau war!«

»Ja, der Hochmuth war eben ihr Unglück! Es ist den Weibern oft so schwer, tugendhaft zu sein, wenn sie schön sind. Die Natur hat ihnen ein Geschenk gegeben und sie ruhen nicht eher, als bis sie es verschwendet haben und vor der leeren Schüssel stehen ... Die Tochter hat's natürlich auch so und noch viel schlimmer gemacht, denn weit vom Stamm konnte der schöne Apfel nicht fallen.«

»Stella? ...«

»Ja, so heißt sie ja! Ihr Mann ist, wie Du weißt, nach Amerika gegangen, als sie dem schwachen Menschen Alles durchgebracht und ihm Niemand mehr ein Obdach geben wollte. Er kann noch Gott danken, daß er sie auf diese Weise los geworden. Sie selbst war, wie Du wohl gehört, so weit gesunken, wie eben Eine sinken kann, und ward in derselben Nacht, als ihre Mutter gestorben und ihr Vater als Todtschläger abgeführt worden, ins Lazareth gebracht. Jetzt soll sie im allgemeinen Krankenhause liegen, da Niemand für sie bezahlen wollte.«

»Es war vorauszusehen, daß es ein schlimmes Ende nehmen würde!« seufzte Frettchen mit feuchten Augen.

»Das ist aber leider auch noch nicht das Schlimmste. Man sprach gestern davon im Wirthshaus. Sie hat Marion auch wieder mit sich in's Unglück gezogen und mit der ist's jetzt wohl für allemal vorbei ... Wenn ich an das Mädchen denke!«

Weymar faltete gerührt die dicken Hände. Er sah Frettchens Aufregung, eilte sich, fertig zu werden und erzählte was vorgefallen.

»Sie ist noch leidlich davongekommen«, schloß Weymar. »Man hat sie wieder laufen lassen, da die Gräfin keinen Strafantrag stellen wollte, als sie ihre Sachen wieder hatte. Sie selber soll auch nichts taugen, die Alte, und ihr Vermögen verzettelt haben. Die Weiber aus unserem Stande brauchen nicht so tief zu sinken wie die aus ihrer Höhe, aber die Schande sollte dann doch doppelt sein ... Aber mach Dir keinen Kummer daraus!« tröstete er. »Du konntest nicht Deiner Schwester Hüterin sein! Sie war von Anfang in schlechte Hände gerathen und dem Krug mußte endlich der Henkel brechen. Aber daß es ihr passiren mußte, von diesem verlorenen Weibe noch einmal wieder in's Unglück zurückgezogen zu werden, das thut mir leid. Ein Büßer soll kein Sünder mehr sein; ich will zu ihrer Ehre annehmen, daß sie es ehrlich mit ihrer Reue gemeint hat.«

Frettchen erhob sich. Sie wandte sich ab, denn sie weinte, und trat in ihr Schlafzimmer.

Weymar schaute ihr nach; er nickte traurig.

»Sagen mußt' ich's ihr doch!« beruhigte er sich. »Morgen früh wird sie's verschmerzt haben!«

Er stand auf, schritt durch die Werkstatt und hinaus auf die Straße. Er wollte sie allein lassen und trat seinen gewohnten abendlichen Weg in's Wirthshaus an.

»Sie ist eine gute Seele!« murmelte er draußen.

* * *

Frettchen saß eine halbe Stunde später allein in ihrem Zimmer. Ein altes zerlesenes Andachtsbuch mit vergilbten Blättern lag vor ihr. Sie flüsterte, mit den Augen in dem Buch: »Der Gottlose fliehet und Niemand jagt ihn; der Gerechte aber ist getrost wie ein junger Löwe.«

Sie hatte ihre Thränen getrocknet; der Schmerz lag wohl noch auf dem stets bleichen, sympathischen Gesicht, aber sie nahm ihre Stricknadeln wieder zur Hand und die klirrten wieder fleißig auf einander.

Wo war die unglückliche Schwester, der jetzt Alles verschlossen, die jetzt ausgestoßen von der Welt, selbst von den Schlechten, die sich besser glaubten als sie! Das war der Gedanke, der ihr Herz bekümmerte und ihr Auge immer wieder feuchtete. »Verloren für das ganze Leben, und sie ist noch so jung! Gott glaubt das Maß ihrer Strafe noch nicht erschöpft!«

Das Fenster stand offen, die Abendluft bewegte die Zweige der Geranien und schaukelte die Grasblumen auf ihren dünnen Stielen. Es war so still draußen, denn das Häuschen lag an der Ecke einer wenig betretenen Gasse. Frettchen war's heute zum ersten Mal so unruhig und unheimlich. Sie war ganz allein; die Magd war hinten im Hofe in der Waschküche. In der Werkstatt nebenan verknisterte das Kohlenfeuer auf dem Herd und in dem frommen Buch quirlten die Thränen ihr die großen Buchstaben durch einander.

Sie legte die Arbeit fort und trat an's Fenster, um es zu schließen.

»Frettchen!« hörte sie plötzlich sich leise und schüchtern von der dunklen Straße angerufen. »Frettchen, bist Du allein?«

Sie fuhr, an allen Gliedern bebend, zurück und stieß einen Angstlaut aus. Das war Marions Stimme gewesen! Sie wagte nicht zu antworten. Die Hand auf die Brust gepreßt, war sie vom Fenster zurückgetreten.

»Frettchen, ich möchte Dich sprechen! ... Ich muß es!« fuhr die Stimme so bittend fort. »Nur wenige Minuten! Mach' mir auf! Ich habe Dich so lange vergeblich gesucht!«

Frettchens Herz pochte laut; es ward so weich, so weh. Die Schwester bat um Einlaß, die unglückliche Schwester, die sündige, deren Hand sie nie mehr zu berühren gewagt, seit sie von Gottes Wegen gewichen.

Wieder klang die Stimme so flehentlich. Frettchen faßte Muth. Sie nahm das Licht, trat durch die Werkstatt auf den Hausflur und ... schrak entsetzt zurück, als das von Elend verzehrte Antlitz der Schwester in den Lichtkreis trat.

Frettchen brachte kein Wort hervor. Ihr Herz krampfte sich zusammen, die Thränen, die sie zurückgehalten, rannen über ihre Wangen. Das Auge vor diesem Anblick niederschlagend, schritt sie schweigend voran. Das Licht zitterte in ihrer Hand. Eine Furcht beschlich sie, so allein mit der gottverlassenen Schwester zu sein.

»Was willst Du, Marion?« fragte sie im Zimmer, sich zurückwendend, als diese mit herabhangend gefalteten Händen vor ihr stand. »Du weißt, ich selbst habe kein Recht an dieser Stätte und Du noch weniger, da sie Weymar gehört.«

Marion blickte nicht auf. Sie war noch in dem Kleide, in welchem sie das Hospital verlassen; ein dunkles Tuch bedeckte anstatt des Hutes ihren Scheitel. Tief hatten sich Mangel und Zerknirschung in ihre Züge gegraben; ihre Gesichtsmuskeln zuckten, ihre Hände zitterten, sie war ein Bild des Erbarmens. Frettchen hätte ihr sagen mögen: sieh, an dieser Stätte des Friedens und der Arbeit hättest Du die Herrin sein können! Aber ihr fehlte der Muth des Wortes, das Erbarmen versagte ihr denselben; Marion war ja ihre Schwester.

»Warum kamst Du?« fragte sie endlich, als das Schweigen ihr selbst die Angst wieder in's Herz trieb. »Ich hörte ja, was geschehen; sprich also!«

»Was hab' ich zu sprechen!« Marion klammerte ihre Hände fester zusammen; ihre Stimme klang so hohl. »Es sind ganze Tage verstrichen, ohne daß ich Nahrung zu mir genommen; ich darf mich im Tageslicht nicht sehen lassen, ohne von der Polizei als obdachslos ergriffen zu werden ... Gott im Himmel, ich war ja unschuldig an Dem, was mich von Neuem treffen mußte! Was hab' ich gethan, daß ich so furchtbar gestraft worden!«

Sie schlug die Hände vor das Antlitz. Sie schluchzte, ihr ganzer Körper erbebte. Frettchen bot ihr einen Stuhl; sie selbst vermochte kaum, sich aufrecht zu erhalten. Marion brach todtmüde zusammen. Beide saßen wortlos einander gegenüber. Frettchen sann vergeblich, wie sie helfen könne. Marion in ihrem Elend war schon keiner Ueberlegung, keines Gedankens mehr fähig; stumpfsinnig in den Schooß blickend saß sie da, ihre Hände hingen herab, ihr Kinn war auf die Brust gesunken.

Frettchen vermied ihren Anblick; sie brachte es nicht über das Herz, auf die tief zurückgesunkenen, so krankhaft umrandeten Augen der Schwester zu schauen.

»Hast Du Juliane gesehen?« fragte Frettchen.

Marion nickte. »Sie hat mir die Thür gewiesen, die Elende, die doch schlechter ist als ich! Sie hat noch das Recht, hochmüthig zu sein! Sie dürfe sich mit keiner Diebin befassen, sagte sie.«

Frettchen durchlief es eisig.

»Was ich in meiner kleinen Wirthschaftskasse habe, steht Dir zu Diensten, Marion, obgleich es nicht mir gehört,« flüsterte sie. »Darf ich Dir einen Imbiß reichen?«

Marion schwieg lange.

»Meine Eingeweide sind schon so verdorrt, daß sie schmerzen!« stöhnte sie endlich. »Gieb mir einen Trunk vor Allem!«

Frettchen brachte ihr ein Glas Bier aus Weymar's Kanne. Marion goß gierig den Inhalt hinunter.

»Gieb mir zu essen ...«

Während Frettchen in die Speisekammer ging, schaute Marion erschreckt auf. Sie hörte ihren Namen draußen auf der Straße rufen. Auch Frettchen hatte das, wieder eintretend, gehört. Sie schaute argwöhnisch fragend auf die Schwester.

»Wer ist da draußen?« rief sie, Marions Unruhe bemerkend, während sie kalte Speise auf den Tisch setzte.

Marion zögerte.

»Weymar kann unbemerkt zurückkehren!« warnte Frettchen. »Er betritt zwar nach dem Abendmahl dies Zimmer nicht mehr, aber Du bist unter seinem Dache!«

»Es ist Stella!« gestand Marion. »Sie begegnete mir! Sie ist kaum dem Tode entronnen. Erlaubst Du, daß sie ...«

Frettchen ward leichenblaß. Sie hob abwehrend die Hand.

»Sie? ... Nein, nimmermehr! Sie darf diese Schwelle nicht überschreiten!« rief sie mit Schaudern. »Mit meinem Willen niemals! ... Du bist meine Schwester, ich darf Dir was ich besitze nicht versagen! Hier nimm dies!« Sie zog ihr Wirthschaftsgeld aus der Tasche und drückte es ihr in die Hand. »Und jetzt iß! Aber horche nicht auf sie

Eine Hand pochte an den Fensterrahmen.

»Marion, laß mich nicht allein, ich fürchte mich!« flehte draußen eine matte Stimme.

Frettchen stand wie erstarrt. Sie fürchtete sich vor der Schwester, die eben gierig zu sich nahm, was vor ihr stand.

»Sie hatte keine Furcht vor der Sünde und der Schande!« rief sie endlich entschlossen und mit Feierlichkeit. »Sie hatte keine Furcht, sich in dem Pfuhl des Lasters zu wälzen! Ich reiche meine Hand nicht einer vor der Welt Verrufenen, von Gott Verfluchten! ... Geh, Marion, ich entweihe diese Stätte des Segens, des Friedens durch Euch! Ich gab Dir was ich konnte; ich will Dir auch ferner geben, was ich geben darf, aber Weymar, dem Du einst so wehe thatest, dessen Herz noch heute trauert, wenn er an Dich, an Dein von Dir selbst so strafbar leichtsinnig bereitetes Schicksal denkt, er darf nie wissen, daß Du hier warst, auch nicht was ich Dir versprochen ... Geh, damit die Gottlose, vor der mir graut, von seiner Schwelle komme!«

Marion hatte sich erhoben. Sie schaute die eifernde Schwester mit großen, von Erschöpfung glanzlosen Augen an, ohne sich zu regen.

»Geh, ich bitte Dich!« drängte Frettchen. »Ich ahnte ja nicht, daß Du Dich zu ihr gesellt, deren Namen der Gerechte schon mit Abscheu nennt! Ich wußte ja nicht, daß Du ihre Genossin geworden!«

»Die Genossin des Elends, des Hungers!« rief Marion in bitterem Hohn. »Ich bin eine Diebin, die Jeder meidet, und feile Dirnen sind wir Beide. – Wo ist da der Unterschied? Sie war reich und vornehm, sie könnte noch heute in eigener Equipage fahren; ich war ein armes Geschöpf, das frühzeitig unter fremde Leute gestoßen und von ihnen verdorben ward. Wer hat am meisten Schuld?«

»O, Du hast schon früh den rechten Weg nicht finden gewollt! Warum hast Du damals Weymar abgewiesen? Frau Holstein meinte es so gut mit Dir!«

»Ich bin nicht hier, um Deine Vorwürfe zu hören! Es ist zu spät!«

Beide standen einander gegenüber.

Ein Aufschrei draußen, dann ein starkes Trommeln an die Fensterscheibe erschreckte Frettchen plötzlich. Sie starrte leichenblaß hin und erkannte ein bärtiges Gesicht am Fenster.

»Großer Gott, es ist Weymar! Trete zurück!« flüsterte sie, Marion in den Schatten weisend.

Marion folgte empfindungslos. Frettchen öffnete das Fenster mit bebender Hand.

»Frettchen, es litt mich heute nicht im Wirthshaus! Ich muß in die Nacht hinein noch rechnen; ich wollte Dir nur noch vielen schönen Dank sagen für das, was wir besprachen! Es ist doch wohl so am besten!«

Frettchen wußte keine Antwort. Sie bebte vor Angst. Am Fenster stehend, fürchtete sie nur für Marion. Weymars Gesicht stützte sich im Fenster auf die Arme und schaute so gutmüthig herein.

»Es treibt sich hier liderliches Gesindel in der Straße herum. Da stand eben eine hier unter dem Fenster, der ich den Posten verleidet habe. Warum schließest Du die Läden nicht?«

Frettchen brachte stotternd ein paar unverständliche Worte hervor.

»Was ich Dir noch zu sagen hätte, Frettchen! Im Wirthshaus wurde eben erzählt, daß der alte Lenning zu fünfzehn Jahren verurtheilt worden. Seine Tochter soll von der Polizei gesucht werden; sie ist aus dem großen Krankenhause ausgebrochen und treibt sich herum.«

Frettchen hatte den Fensterladen erfaßt. Weymar zog lächelnd den Kopf zurück.

»Gute Nacht, lieber Weymar!«

»Gute Nacht, Frettchen!«

»Er hat sie nicht gesehen!« beruhigte letztere sich flüsternd, dann auf Marion schauend, forderte ihr Blick sie drängend auf. Diese schien selbst besorgt, ihre Gefährtin zu verlieren, die vor Weymar die Flucht ergriffen haben mußte.

Beide warteten bis Weymar im Hause und die knarrende Treppe hinaufgestiegen war.

»Adieu!« sagte Marion, ohne Frettchen anzuschauen. »Du sollst nicht wieder von mir belästigt werden! Es ist das letzte Mal heute!«

Ihr Ton klang so hohnvoll. Sie wandte Frettchen gleichgültig den Rücken. Die folgte ihr besorgt durch die dunkle Werkstatt. An der Außenthür erfaßte sie zum ersten Male wieder der verlorenen Schwester Hand und preßte sie heiß.

»Marion,« flüsterte sie ihr in's Ohr, »nimm diese letzte Heimsuchung als eine verdiente hin, obgleich Du ja nur unbesonnen handeltest. Gott wird ja barmherzig sein, wenn Du auf den Weg zurückkehrst, den Du zu wandeln begonnen!«

Marions Hand war eiskalt. Sie riß dieselbe aus der ihrer Schwester.

»Die Straße, meinst Du! O, den Weg, den kenne ich!« Laut auflachend verschwand sie in das Dunkel hinaus. Draußen schlich sich ein hohläugiges, abgemagertes, an der Ecke lauerndes junges Weib an sie und flüsterte ihr etwas zu. Sie antwortete nicht. Schweigend schritten Beide durch die Gassen.

»Hat sie Dir wenigstens so viel zu einem Nachtmahl gegeben? Der Hunger quält mich entsetzlich!« sprach die Andere, den Arm auf den ihrer Gefährtin legend.

»Ja, sie gab mir ein Almosen! ... Komm! Zur Nacht finden wir wohl Unterkunft!«

Beide verloren sich im Dunkel der Gasse. Frettchen saß inzwischen, an allen Gliedern zitternd, in ihrem Stübchen.

»Es war ein Glück, daß ich heute Weymar Alles gegeben; ich hätt's ihr nicht abschlagen können und ... dann wäre sicher auch das verloren gegangen, wenn sie mit ihr ist, ... verloren wie sie selbst jetzt für immer, denn Frau Holstein ist nicht mehr da, um sie noch einmal zu retten, und das Gute ist niemals fest in ihr gewesen! ... Mit welchem furchtbaren Hohn sie das entsetzliche Wort sprach ... Die Straße! ... O, die giebt nicht wieder, was sie verschlungen, und werthlos ist, was der Fuß des Gottlosen zertreten! ... Ich will denken, sie sei gestorben, sie und Juliane ... Beide!«

Frettchen barg das Antlitz in den Händen, dann sank ihr das Kinn auf die Brust. Sie dachte zurück, wie das Alles so gekommen und hatte kommen müssen; ein Grauen aber überfiel sie, als es ihr plötzlich war, als fahre wiederum eine Hand über die Scheiben des Fensters.

Sie schrak auf. Sie hatte, als Weymar sich zurückgezogen, in ihrer Verwirrung dennoch vergessen, die Läden zu schließen und wagte sich nicht wieder an dieselben. Mit zitternder Hand nahm sie das Licht und wankte nach hinten in ihr Schlafkabinet. Weymar sollte nichts erfahren. Sie wollte nicht selbst die Veranlassung geben, vor ihm zu erröthen, wie es jedesmal geschah, wenn er von ihr erzählte.

* * *


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