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17.

Wochen vergingen. Stella hatte die erste Gewalt eines heftigen Nervenfiebers überwunden, aber sie lag gebrochen und kraftlos da. Es konnten wiederum Wochen vergehen, ehe sie das Bett verlassen durfte.

Marion hatte aus den Fieberphantasien der Unglücklichen ihre ganze Vergangenheit da draußen im fremden Lande erlauscht; der schlimmste Moment aber, der stets einen Rückfall verursachte, war der, wo sie auffuhr, beide Hände mit einem Angstschrei von sich streckte und von dem Haar der Mutter sprach, das sie nach sich in's Grab ziehen wolle.

Hermann Greif hatte großmüthig im Lazareth für einige Wochen eingezahlt; die Summe war jetzt erschöpft, und die Verwaltung begehrte neue Zahlung. Marion sandte deshalb zu Greif. Der aber war seiner Studien halber wieder nach Rom gegangen und sollte erst nach einem Jahr zurückkehren. Der Arzt mußte jetzt sein Gutachten geben, ob die Reconvalescentin in das allgemeine Krankenhaus überzuführen sei, und der bestätigte dies.

Stella fühlte ein Grauen vor diesem Gedanken; sie erfaßte oft Marions Hand, wenn diese neben ihr saß, preßte sie ängstlich und beschwor sie, ihre Wegschaffung nicht zu dulden. Es solle so schrecklich in jenem Krankenhause sein. Ihre kleine Baarschaft und ihre letzten Kleider hatte man zur Deckung der Miethsschuld zurückgehalten. Den leichten Koffer hatte man ihr ausgefolgt.

Stella sandte in ihrer Verzweiflung zu diesem und jenem ihrer Freunde, um Hülfe bittend. Es kümmerte sich Niemand um sie. Von der Angst getrieben, der öffentlichen Krankenpflege anheim zu fallen, machte sie fruchtlose Versuche, das Bett zu verlassen, aber sie sank kraftlos zusammen. Sie weinte stundenlang, auf dem Bettrand sitzend. Wohin hätte sie sollen, wenn sie wirklich hinausging! Wer nahm sie auf! Ein Blick in den kleinen Spiegel, den ihr Marion gereicht, zeigte ihr die Verwüstung ihrer Züge.

»Soll ich denn betteln gehen, so wie ich da bin! Ich kann es nicht, ich verstehe es nicht!« jammerte sie. »Warum habt ihr mich nicht sterben lassen, denn es währt ja doch nicht lange; ich muß ja doch ihr nach! Wen die Todten einmal haben wollen, der entgeht ihnen nicht!«

Marion's Tröstung war umsonst; drängender aber ward das Verlangen der Hospital-Verwaltung, sie los zu werden.

Eines Morgens, als Marion wieder zu ihr trat, um sie auf das Unvermeidliche vorzubereiten, zog sie diese zu sich hinab.

»Es ist mir eine Idee gekommen«, flüsterte sie, »eine Idee, die mir längst schon hätte einfallen können; aber es ist ein Glück, daß es nicht geschehen! Erinnerst Du Dich der kleinen Goldsachen, die ich einmal für Dich bei Süß Oppenheim einlöste?«

Marion fuhr erbleichend zurück. Diese Idee gemahnte sie an ihre früheren Veruntreuungen, von denen sie eine allerdings hatte abbüßen müssen. Sie wandte sich haltlos und zitternd ab.

»Sprich nicht davon!«

»Doch, Marion! Es ist ein Glück, daß ich diese Goldsachen seit so lange immer auf dem Boden meines Koffers herumschleppte; ich dachte zuweilen daran, Dir einmal wieder zu begegnen, dann kamen sie mir aus dem Gedächtniß und ich erinnerte mich ihrer nicht einmal als ich in der größten Noth war, bis ich diese Nacht auf den Gedanken kam.«

»O, laß sie nur!« bat Marion, die heißen Hände in einander ringend.

»Nein, Du sollst mir einen großen Dienst erweisen! Du sollst sie heraussuchen; sie liegen auf dem Boden. Du hast ja selbst den Schlüssel! Nimm sie, trag sie zum Goldarbeiter und höre, was er dafür giebt. Sie sind allerdings Dein, aber Du wirst es mir nicht versagen ...«

»Unmöglich!« rief Marion. »Ich darf dergleichen nicht übernehmen!«

»So willst Du, daß man mich in das elende Krankenhaus schaffe, wo man mich zwischen alles Gesindel legen wird, und dann ... Das kannst Du nicht wollen!«

Marion hätt' es allerdings nicht gewollt, aber sie fürchtete sich.

»Du brauchst ja dem Goldarbeiter nur zu sagen, die Sachen gehörten einer Kranken, die um Geld in Verlegenheit sei. Wenn ich nur eine Woche dadurch Frist gewinne!«

Marion schüttelte ablehnend den Kopf.

»So willst Du mich umkommen lassen! Es ist mein Tod, ich weiß es! O Gott, ich habe gar keine Freunde mehr in der Welt; ich, der sich vor so wenigen Jahren noch Alles zu Füßen legte, um die sich Alles drängte! ... Und mein Vater ein Mörder, meine Mutter ...« Sie begann zu schluchzen. Marion beschwor sie um Ruhe. »Nein, ich will keine Ruhe! Ich will hier wieder so krank werden, daß Niemand es wagen darf, mich von der Stelle zu schaffen, und sollt' es denn meinetwegen auch mein Tod sein; was habe ich auf der Welt noch zu suchen!« ...

An demselben Mittag ging Marion wirklich mit klopfendem Herzen in die Stadt. Sie trug denselben kleinen Carton in der Tasche, für den sie einst an jenem Mittag, als Stella und Carl Holstein sie überraschten, durch Seba Geld erhalten, den Stella später auf ihre Bitte ahnungslos ebenso heimlich eingelöst. Stella wartete mit Unruhe auf ihre Rückkehr. Sie wartete eine Stunde, wartete zwei Stunden, Marion kam nicht.

Der Tag ging eben zur Neige, als eine barmherzige Schwester zu ihr eintrat und ihr erzählte: Marion Christel, die schon früher einen Diebstahl abgebüßt, aber als reuig und gebessert von der Oberin des Magdalenenstifts hier untergebracht worden, sei in der Stadt bei einem Juwelier verhaftet, als sie eben im Begriff stand, einige Goldsachen angeblich für eine in ihrem Lazareth liegende Kranke zu verkaufen. Eine ältere Dame, eine Gräfin, sei zufällig während des Handels bei dem Goldarbeiter eingetreten, um ein Armband zu verkaufen. Sie habe Marion erkannt; diese, auch sie erkennend, sei bleich und zitternd die Goldsachen im Stiche lassend, auf die Straße gerannt, der Goldarbeiter habe ihr einen Gehülfen nachgesandt und sie verhaften lassen.

Die Schwester hatte keine Möglichkeit mehr, der Genesenden anzuzeigen, daß sie am Abend noch in das allgemeine Krankenhaus geschafft werden solle. Stella hörte nichts mehr. Sie lag starr in voller Bewußtlosigkeit.

* * *


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