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Vierundzwanzigstes Kapitel

Sie soll leben!

Michael Cibulas Weizen reifte. Jeden Tag ging er hinaus zu seinem geliebten Acker, schaute nach und maß an Josepha die Länge der Ähren: es schlug die goldige Frucht über dem goldigen Haar seines Weibes zusammen.

Auch Josephas Garten gedieh herrlich. Der Rosmarin hatte abgeblüht, aber die weißen Rosen standen in voller Pracht. Brautkränze hätte Josepha in diesem Sommer nicht mehr winden können, aber Totenkronen genug.

Ihr Lieblingsplatz war unter jenem Felsen, daraus Michael Cibula am Tage ihrer Ankunft das Heiligenbild gestellt hatte, und wo jetzt Stockrosen und mächtige Sonnenblumen blühten. Wenn Josepha dort saß, neigten sich die leuchtenden Blumengesichter über sie, so daß die Glückliche diesen ganzen Sommer ihren eigenen Sonnenschein hatte.

Und an Sonniges dachte sie, allein unter dem schönen Steine sitzend, dicht über der Seeflut, welche ihr Bild wiederspiegelte. Wenn sie dann an den kleinen, winzigen Linnenstückchen nähte, gedachte sie des Sonnenstrahles, der zum Herbst in ihr Haus fallen sollte, so recht vom Himmel herab in ihr und ihres Mannes Leben hinein. Sie hatte gehört, daß die Gedanken der Frau, deren Leib gesegnet ist, auf das Ungeborene wirkten, und sorgte nun mit heiliger Mutterliebe für das Kind, das noch unter ihrem Herzen lag. Fiel ihr ein, wie nahe ihre Stunde sei und wie sie schon für manche, die einem Kinde das Leben gegeben, eine weiße Totenkrone gewunden, so lächelte sie still vor sich hin, als wäre ihr anvertraut worden, daß solche Mütter die seligsten wären. Wenn dann die Mägde von der schweren Stunde sprachen, die ihrer Bäuerin bevorstand, entgegnete Josepha, es würde gewiß eine leichte Stunde sein, und duldete in ihrer Gegenwart kein banges Wort.

Auch Michael Cibula trug Sorge um das Ungeborene, und das in einer Art, welche die Gottheit der Cibula leicht gegen das Kind hätte aufbringen können; sie sah so wie so böse genug auf Josephas heiligen Leib herab.

Aber Michael Cibula ging mit Vorsicht zu Werke. Als er eines Tages das Lämplein mit Öl füllte, stieß er wie von ungefähr gegen das Holzbild, daß dieses herabfiel und sich beschädigte. Behutsam trug Michael Cibula die Figur in seine Werkstatt, um die zerbrochene Krone wieder zusammen zu leimen. Doch schien es, als vergäße er sein Vorhaben, so daß die heilige Ecke leer blieb und Josepha fortan bei ihren Gebeten nicht mehr von den starren Augen der Himmelskönigin angeschaut, also dem Ungeborenen kein Schaden mehr zugefügt werden konnte.

Im übrigen brachte das erwartete Ereignis keinerlei Veränderungen in seinem Gemüte hervor und zwischen ihm und seinem Weibe war niemals die Rede davon. Nur blieben sie jetzt beide des Abends, nachdem Urs und das Gesinde zu Bett gegangen, noch lange in der Halle vor dem Hause beisammen. Schon standen Säulen und Gebälk üppig umrankt, und waren Caprifolium und Waldreben diesen Sommer auch nur spärlich gekommen, so gediehen Hopfen, Bohnen und Kürbis um so kräftiger. Da saßen dann die zwei im Dunkeln eng nebeneinander, sprachen wenig und lauschten auf das Rieseln und Rauschen all der Gießbäche und Wasserfälle, und schauten durch das Gerank auf die Riesenschatten des nächtlichen Gebirges. Sie sahen die Sterne hinter den schwarzen Felsenhäuptern aufsprühen und still und feierlich ihre Bahnen ziehen; sie sahen das Spiegelbild des leuchtenden Firmaments auf dem See ruhen, als läge dort in der Tiefe ein zweiter Himmel mit allen seinen Sternen versunken; sie sahen den jungen Mond wie eine blutige Narbe am Himmel stehen, sahen ihn jeden Abend größer und gelber werden, bis er hell auf sie herabschien, das schöne Tal mit Glanz füllend.

Aber sie dachten sich nichts dabei – –

Dann ward der Weizen geschnitten, und obgleich Josepha jeden Tag ihre Stunde erwartete, wollte sie sich nicht nehmen lassen, bei dieser ersten Ernte zu helfen. Michael Cibula schnitt neben ihr und fühlte sich neben seinem gesegneten Weibe auf seinem gesegneten Acker als ein gesegneter Mann. Ihm war zu Mute, als ernte er nicht nur das Glück seines Hauses, sondern das Glück von ganz Piatra ein; jede Hand voll Ähren, die er ergriff, erschien ihm als eine Spende der Heiligen, für die er dem Himmel Opfer darbringen müßte. Er suchte die schönsten und schwersten Ähren aus, ließ sie von Josepha zusammenbinden und von seinem Sohne nach Piatra bringen: die Bauern möchten ihm die Bitte erfüllen, diese ersten Ähren seines Ackers als ein Geschenk Michael Cibulas in der alten Kirche über seinem ehemaligen Sitze aufzuhängen. Urs ging und kam mit der Meldung zurück, daß nach seines Vaters Wunsche geschehen sei.

»Staunten sie nicht über die Ähren?« forschte Michael Cibula.

Aber Urs behauptete: »Sie ärgerten sich nur.«

Doch da fuhr sein Vater auf:

»Das lügst du!« Und ging nach seiner alten Art zornig davon.

Eines Morgens nach dem Frühmahl sagte Josepha zu ihrem Manne:

»Diese Woche mußt du nach den Herden sehen. Du brauchst einen ganzen Tag, um zu ihnen hinauf ins Gebirge und wieder herunter zu kommen. Es wäre mir recht, wenn du heute gingest; denn mir ist, als könnte morgen oder übermorgen meine Stunde kommen.«

»So will ich heute auch nicht gehen; denn deine Stunde könnte heute schon kommen.«

»Heute gewiß noch nicht. Geh nur und nimm Urs mit dir. Ihr müßt aber gleich aufbrechen.«

Michael Cibula hatte Sorge um sein Weib und deshalb keine Lust zu dem weiten Gange; doch da kam schon Josepha und brachte für ihn und den Knaben die Zehrung. Sie ging mit schweren Schritten und suchte sich heimlich an Geräten und Wänden zu stützen. Urs quälte den Vater gleich zu gehen; so brachen sie denn auf.

Sie waren schon hinter dem See, als Urs ausrief:

»Da steht noch die Mutter!«

Michael Cibula wandte sich um und sah Josepha im Garten bei den weißen Rosen, die sie gleich einem leuchtenden Gewande zu umhüllen schienen. Sie winkte und grüßte herüber. Dann sahen sie sie langsam, langsam dem Hause zugehen. Plötzlich blieb sie stehen und die Zurückblickenden hörten sie nach einer Magd rufen.

Diese kam; Vater und Sohn wandten sich und setzten ihren Weg fort.

Es war ein Tag, so recht nach Michael Cibulas Herzen, ein Sonnentag, wie er nach seiner Meinung nur über diesen Tälern und diesen Bergen ruhen konnte. Ein prächtiges weißes Gewölk stand regungslos am tiefblauen Himmel, Erde und Fels strahlten eine milde Wärme aus, es duftete nach Salbei und Menthe, die Luft tönte von dem Summen der Käfer und Bienen.

Zum ersten Male kam es Michael Cibula zum vollen Bewußtsein, was ihm und seinem Weibe bevorstand. Wie ein seliger Schreck durchzuckte ihn die Vorstellung: Sein Weib wird dir ein Kind gebären, vielleicht morgen schon! Vielleicht ist schon morgen ein Menschenkind mehr auf der Welt. Und er dachte. – – So lange er klein ist, hat es der Mensch gut, so lange ist seine Welt die Brust und der Schoß der Mutter. Auch später mag es noch gehen, wenn er Blumen pflückt, Schmetterlinge fängt und die ganze Welt nur zu seiner Freude da zu sein scheint. Allmählich kommt es anders – Michael Cibula vermochte auch nicht zu sagen, inwiefern. Wenn er es so recht bedachte: eigentlich war es seltsam, daß der erwachsene Mensch ein so ganz anderer war als das Kind; ein Mensch, der liebte und haßte, der anbetete und verachtete, ein Mensch voller Neid und Eifersucht, voller Zorn und Wut, ein Mensch, der das Beste und das Schlechteste vollbringen konnte, der einen Teufel zur Seite hatte, oder einen Engel. Das alles konnte aus dem kleinen Menschenkinde werden, das sich aus der Nacht des mütterlichen Schoßes mit einem Schrei ans Tageslicht rang.

Es war seltsam!

Vielleicht morgen schon würde ein Mensch mehr auf der Welt sein. Und dieser neue Mensch war sein und seines Weibes Kind, war Fleisch von seinem Fleische, Geist von seinem Geiste, in Leiden geboren zu Leiden. Wer konnte das ausdenken?!

Michael Cibula war froh, als Urs, der wie ein junger Hund bald weit voraus, bald hinterdrein lief, sich zum Vater gesellte, diesen durch Geschwätz und Fragen seinen Grübeleien entreißend. Da jedoch sein Herz von dem Ungeborenen voll war, erzählte er dem Knaben allerlei geheimnisvolle Dinge von der baldigen Ankunft des neuen Geschwisters. Aber Urs hatte schon so viel über diese unbekannte Größe hören müssen, hatte schon seit geraumer Zeit vergeblich auf deren Ankunft gewartet, daß er seinem Vater zuhörte, wie ein Weiser das Gerede eines Toren anhört: du Armer, was bildest du dir ein! Denn Urs hatte in seinem Innern längst jede Hoffnung auf das Eintreffen des schon so lange verheißenen Wunderkindes aufgegeben und schwankte in seinem Gemüte zwischen Schmerz und Zorn.

Herrlich war der Aufstieg gewesen, herrlich war es droben: eine weite Wiese, wie ein grüner Strom zwischen zwei Gletschern eingeklemmt, deren ungeheure graue Schollen aus schwarzen Klüften hervorstarrten. Dem Hirten war auf dem Weideplatz, neben einem aus dem Gestein entspringenden Quell eine Hütte gebaut worden; der höchste und älteste Baum weit umher, eine vom Sturm zerzauste, vom Blitz gespaltete Fichte stand neben dem Blockhause. Hinter der Alm teilte eine gewaltige Senkung die Berge, so daß man von dort über eine völlig neue, glanzvolle Gebirgswelt in unabsehbare Fernen schaute.

Urs jubelte, als er tief unter sich den schwarzen Grund mit dem See und dem Hause entdeckte, war aber höchlichst entrüstet, daß alles so klein aussah und sogar die mächtigen Eschen nur als winzige hellgrüne Pünktchen erschienen. Von den Menschen war nun vollends nichts zu sehen; stand doch fest, daß die Mutter im Garten war und zu ihnen heraufwinkte. Bei dieser Vorstellung wurde auch Michael Cibula von Sehnsucht gefaßt, die Gestalt seines Weibes zu erkennen, so daß er mit dem Knaben ausspähte und mit diesem sich ärgerte, weil man von einem fünftausend Fuß hohen Berge nicht alles zu gewahren vermochte, was im Tale vorging.

Doch die Sehnsucht vergaß er, als er von dem Hirten vernahm, daß das beste Stück der Herde sich verstiegen habe und abgestürzt sei. Michael Cibula ergrimmte. Kaum hielt er sich zurück, den fahrlässigen Knecht zu züchtigen. Die ganze Schönheit des Tages und alle Herrlichkeit des Gebirges ward ihm durch die böse Nachricht vergällt. Es war ihm, als hätte ein schweres Unglück ihn betroffen, als wäre der erlittene Verlust durch nichts zu ersetzen. Der Hirt mußte ihn an die Stelle führen, wo das Rind, das man zerschmettert im Abgrunde liegen sah, abgeglitten war. Schon kreisten die Geier über dem Leichnam. Michael Cibula ließ sich die Büchse des Hirten bringen und lauerte mordgierig so lange, bis er einen der Geier getroffen hatte. Es dämmerte bereits, als Vater und Sohn den Abstieg antraten. Der Dunkelheit und des müden Knaben willen konnte Michael Cibula nur langsam vorwärts kommen. In seinen Gedanken noch immer bei dem gefallenen Tier, achtete er des Weges kaum.

Bei Nacht kamen sie zum See. Urs konnte kaum noch weiter; auch Michael Cibula lag der gehabte Verdruß schwer in den Gliedern. Im Garten sahen sie jemanden wartend stehen; das konnte nur Josepha sein. Jetzt erst erinnerte sich Michael Cibula wieder des Zustandes seines Weibes und nahm sich vor, seinen Zorn vor ihr zurückzuhalten. Als sie näher kamen, erkannte er, daß die Frauengestalt nicht Josepha, sondern Russka war. Das welke Weib stand da wie ein Bild aus Holz, das bei seinem Näherkommen zu reden begann: zuerst nur wirre Laute, dann wirre Worte, die Worte einer Wahnsinnigen! Denn wie konnte es wahr und vernünftig sein, daß Michael Cibula eine Tochter geboren worden und daß sein Weib mit dem Tode rang.

Er hörte es, aber er begriff es nicht. Er hörte Urs weinen und schluchzen, hörte Russka lallen und stammeln, er sah die Mägde aus dem Hause stürzen und mit lautem Jammer ihm entgegeneilen; aber begreifen konnte er es nicht. Langsam ging er weiter, starr auf das Haus sehend, auf das Licht in der Kammer. Das Licht brannte so hell, und in der Kammer bei dem hellen Licht sollte sein Weib liegen und mit dem Tode ringen – – Hier, bei ihren weißen Rosen, hatte sie diesen Morgen gestanden und ihm nachgeschaut. Die Knospen an den Büschen konnten seit heute morgen noch nicht erblüht sein; aber sie, sie lag und rang mit dem Tode! Da er den Geier schoß, hatte sie vielleicht noch seiner gedacht, ihn geliebt und jetzt – – Jetzt lag sie und rang mit dem Tode.

Alles das dachte er, schaute immer das Licht an, hörte das Weinen, ging langsam, ganz langsam. Plötzlich, wenige Schritte vom Hause, fing er an zu laufen; er sprang ins Haus, stürzte in die Kammer.

Sie lag auf dem Bette bleich wie das Linnen, das sie umgab. Die Hände lagen lang ausgestreckt auf der Decke, und waren steif und starr, fahl, wie aus Wachs gebildet. Die Augen hielt sie geschlossen.

Michael Cibula hatte zuerst die steifen, fahlen Hände gesehen.

»Josepha!«

Es war kein Ruf, es waren gelallte wilde Laute. Das Gesinde wagte sich nicht in die Kammer, aus der die furchtbaren Töne drangen, und die jammernden Mägde verstummten.

Sie lebte noch. Als sie so fürchterlich angerufen ward, lief ein Schauer durch ihren Körper; aber sie konnte die Augenlider nicht mehr heben, sie konnte nur noch die Lippen bewegen. Es war, als wollte sie lächeln.

Michael Cibula dachte: Sie lebt noch, vielleicht wird sie leben bleiben, aber – einen Priester! Um Gotteswillen einen Priester für mein sterbendes Weib!

Zwar war auch sein Weib exkommuniziert. Was scherte ihn das?! Sie sollte nicht sterben, ohne die letzte Ölung empfangen zu haben, nicht sterben wie ein Tier.

Ein Priester! Ein Priester!

Er mußte einen Priester herbeischaffen, welcher der Exkommunizierten das letzte Sakrament reichte.

Stefan Dozana!

Aber Stefan Dozana war selbst ein Geächteter! Nein! Wenn Stefan Dozana seinem Weibe die Versöhnung mit Gott brachte, so ward er dadurch ein Geweihter.

Also zu Stefan Dozana!

Noch einen Blick warf er auf Josepha, einen Blick, der ihr verbot, zu sterben, bevor er zurückgekehrt, der ihrer scheidenden Seele befahl: Du bleibst, bis ich wieder komme und den Priester bringe.

Dann hinaus!

Da trat ihm Russka entgegen und hielt ihm auf ihren Knochenarmen etwas hin. Es war in Linnen gewickelt und wimmerte.

»Dein Kind, deine Tochter, dein Kind lebt!«

Mit einer Verwünschung stürzte Michael Cibula an seinem Kinde vorüber, in die Nacht hinaus.

*

Wie ein flüchtiger Mörder, auf dessen Fersen die Verfolger sind, stürmte er dahin. Todesangst sträubte sein Haar.

Sie darf nicht sterben! Nicht eher darf sie sterben, als bis sie durch Stefan Dozana die Versöhnung mit Gott und die Versicherung des ewigen Lebens erhalten.

Er bat den Himmel nicht, sein Weib noch so lange am Leben zu lassen – er gebot dem Himmel, wie er der scheidenden Seele seines Weibes geboten hatte, nicht von dannen zu gehen, sondern des Priesters zu harren. Ein gewaltiger Trotz gegen Gott stieg in ihm auf, so daß er seinen Willen dem Willen des Himmels entgegensetzte: Sie darf nicht sterben!

Wie um besser an die Sterbende zu denken und sie dadurch mehr zu seinem Willen zwingen zu können, schloß er die Augen; und so, mit geschlossenen Augen, raste er weiter.

Aber bald verlor er den Weg unter den Füßen. Er mußte stehen bleiben, mußte um sich sehen und versuchen, sich zurecht zu finden.

Wenn sie jetzt starb – –

Er ballte seine Hände, er zerbiß die Lippen, er hob seine Faust und schüttelte sie gegen den Himmel.

Sie darf nicht sterben!

Wie Schatten glitten links und rechts an seinem Wege die Felsen und Bäume vorüber, ein Schatten schien er selbst zu sein, ein Dämon, der durch die Finsternis dahineilte.

Laut sprach er vor sich hin, seufzte, stöhnte, schrie auf.

War es denn immer so weit bis nach Piatra gewesen? Der Weg schien sich zu dehnen, zu wachsen, schien kein Ende zu nehmen. Daß er dem weiten Wege kein Leids antun konnte!

Dann wiederum mußte er denken, daß während er in halbem Wahnsinn durch die Nacht hetzte, Tausende und Tausende von Menschen in friedlichem Schlummer lagen, daß Tausende und Tausende von Müttern jetzt Kinder gebaren und am Leben blieben. Und sein Weib starb! Und es schien Michael Cibula im Himmel kein Gott und auf Erden keine Gerechtigkeit mehr zu sein; das ganze Antlitz der Schöpfung war ihm verzerrt.

Jetzt erkannte er: jene himmelhohe schwarze Masse vor ihm war der Kryvan!

Immerfort stürzte er vorwärts.

In seiner Brust arbeitete es, als ob sein keuchender Atem sie sprengen wollte. Da kam ihm ein entsetzlicher Gedanke: Wenn Stefan Dozana nicht zu Hause wäre? Zufällig grade diese Nacht nicht zu Hause! Dann würde er in die Kirche einbrechen und für sein sterbendes Weib das Heiligtum vom Altar reißen. Oder wenn Stefan Dozana sich weigern sollte, mit ihm zu kommen? Er war ein geächteter Priester. Es war gar nicht seine Pflicht, mit ihm zu kommen; ja, er durfte nicht mit ihm kommen, er beging eine schwere Sünde, die heilige Ölung zu spenden. Auch war Stefan Dozana sein Feind. Michael Cibula hatte ihm das Weib genommen, jetzt konnte Stefan Dozana durch sein Weib an ihm sich rächen, wie noch nie ein Mensch sich gerächt.

Aber – wenn Stefan Dozana sich weigern sollte, so würde er eine Untat begehen!

Die ersten Häuser von Piatra – – Gott und den Heiligen sei gedankt!

Dort das alte Haus der Cibula! Zwölf Jahre hatte er mit seinem Weibe dort gelebt und ihrer kaum als etwas Besonderes gedacht. Nur ein einziges Jahr jener verlorenen zwölf Jahre zurück; nur ein halbes, ein viertel Jahr; nur einen Tag, eine Stunde – –

Die alte Kirche, das Gemeindehaus, das Haus Stefan Dozanas.

»Öffne, Stefan Dozana! Ums Himmelswillen, öffne!«

Einige Augenblicke vergingen, während welcher Michael Cibula glaubte von Sinnen zu kommen. Endlich wurde die Tür aufgetan, Stefan Dozana erschien.

»Schnell! Nimm das heilige Öl und die Monstranz! Schnell, schnell, mein Weib liegt im Sterben!«

Er schrie es Stefan Dozana ins Gesicht hinein. Hätte dieser einen Augenblick gezaudert, wäre er vor ihm auf die Knie gesunken. Aber Stefan Dozana zauderte nicht.

Da fiel Michael Cibula etwas ein.

»Vielleicht bleibt sie bis morgen leben, vielleicht noch länger – – Ich könnte ihr eine Freude machen, eine letzte Freude im Leben. Aber warte nicht auf mich! Eile voraus! Sie kann jeden Augenblick sterben, jeder Augenblick des Zögerns kann sie um das ewige Leben bringen. Eile! Spende ihr! Rette sie! Rette ihre sterbende Seele!«

Dann wieder fort!

Er eilte zur Schlucht, er stürzte die Schlucht hinab. Dornen zerrissen ihm Gesicht und Hände, Steine polterten ihm nach und fielen neben ihm in die dunkle Tiefe, in die er hinabglitt. Er kam an den Bach, aber nicht mehr fähig zu einem Sprunge, lief er ins Wasser hinein, wo er grade stand. Er geriet an eine tiefe Stelle, er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, wie er umgerissen ward. Wütend schrie er auf, spannte alle seine Kräfte an und erreichte das jenseitige Ufer.

Nun die Schlucht wieder hinauf, pfadlos, durch Dickicht, über Geröll. Dann ins Judenhaus, zum Hause Jehudas.

Auch hier ein Aufschrei:

»Öffnet! Öffnet! Öffnet!«

Wahrend er wartete, warf er sich auf der Schwelle nieder und ruhte aus – zum erstenmal, seitdem er von der Sterbenden fortgestürzt war.

Als er Schritte hörte, sprang er auf. Jehuda öffnete.

»Mein Weib stirbt! Sage deinem Weibe: Josepha Cibula liege im Sterben, Nur das sage ihr. Ich muß fort.«

Und noch einmal begann der gräßliche Lauf. Wenn er hinstürzen und zusammenbrechen wollte, schrie er sich selbst an:

»Dein Weib stirbt!«

Aber sogleich setzte er hinzu: »Sie darf nicht sterben! Nicht eher, als bis sie –«

Aber weiter reichten seine Gedanken nicht mehr. Sogar auf den Namen des Priesters, der ihm voraus auf dem Wege zu seinem sterbenden Weibe war, konnte er sich nicht mehr besinnen. Der Morgen graute. Da holte er am See Stefan Dozana ein, der die Stola umgetan hatte und die Heiligtümer trug. Auch er war geeilt, so sehr er konnte, auch sein Gesicht war fahl, auch er hatte mit seinem mächtigen Willen den Willen des Himmels zwingen wollen: Sie darf nicht sterben!

Als könnte sie ihn hören, rief Michael Cibula ihren Namen: »Josepha! Josepha!«

Und noch einmal: »Josepha!«

Seinem zerrütteten Geiste war es, als antwortete ihm aus der Ferne ihre Stimme: leise, ganz leise, wie ein Seufzer verklingend.

Aber wenn sie ihm antworten konnte, so lebte sie noch.

Sie sollte leben!

Ein Schwindel ergriff ihn. Der Gedanke an die Möglichkeit, daß sie leben bleiben könnte, die Vorstellung dieses ungeheuren Glückes erstickte ihn, tötete ihn fast. Er wankte, er taumelte, Stefan Dozana faßte ihn und führte ihn ins Haus.

Hier war alles still.


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