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Zehntes Kapitel

Der schwarze Grund

Inzwischen lebte Michael Cibula in Seelenkämpfen, die das ganze Innere des Mannes aufwühlten, Dabei brachen in diesem Geiste Empfindungen und Leidenschaften auf, wild und verderblich wie die zerstörenden Kräfte der Natur, und von eben solcher elementarer Gewalt.

Michael Cibula hatte Wort gehalten: er schied sich und sein Haus von der Kirche seines Heimatortes; wenigstens von deren äußerlichen Brauchen und Formeln. Weder er noch Josepha besuchten ferner die Messe oder hörten die Vesper.

Seitdem die Bauern die beiden nicht mehr in der Kirche sahen, hoben sie alle Gemeinschaft mit ihrem Hause auf. Mit Michael Cibula sprach keiner ein Wort, auf der Gasse wich man ihm aus, ebenso im Walde, Josepha galt bei den Frauen gleich einer Verlorenen, Urs wurde von den großen Kindern beschimpft, von den kleinen verhöhnt. Es dauerte nicht lange, so zog sich auch die Sippe von ihrem verfehmten Oberhaupte zurück, das Gesinde kündigte den Dienst: Michael Cibula war mit seinem Hause einer Acht verfallen, schrecklicher, als wäre sie von einem Bischof gegen ihn geschleudert worden. Er hätte jetzt lernen können, seine Heimat zu hassen, wie er die Juden haßte, aber die Liebe zu dem düsteren Tale und dem Walddorfe war für diesen Mann ein Lebensnerv; nur der Tod hätte seine mächtige Heimatsliebe zerstören können. Doch das eine hatten sie erreicht: daß er umher ging, als trüge er in der Brust eine blutende Wunde.

Davon ließ er indessen keinen etwas merken. Grade in dieser Zeit der Verstoßung zeigte er die Miene eines gebietenden Herrn.

Zuweilen jedoch, wenn Michael Cibula sich allein befand oder sich unbeobachtet glaubte und dann auf sein Haus oder auf die Wände der Kammer seines Hauses blickte, schmolz der Stolz und die Härte seines Blickes zu Weichheit und leidenschaftlicher Trauer; dann sah er mit einem so schmerzlichen Mitleid auf sein Haus, als schaute er es zum letzten Male, als wäre es Leben von seinem Leben, und er hätte im Sinn, diesem ein schweres Leid anzutun.

Vor jedermann verhehlte er die Wunde in seiner Brust, und vor niemandem so ängstlich, wie vor seinem Weibe. Aber Josepha sah sie bluten, fühlte, wie sie brannte, und stand daneben wortlos und hilflos. Es folgte Josepha den Blicken, mit denen er sein Haus ansah, und ehe er mit sich im klaren war, ob er sein Vorhaben an dem Hause auszuführen vermöchte, wußte sie davon und wußte auch, wie alles kommen würde.

Hilflos, wie Josepha neben ihrem Manne stand, befand sie sich ihrem eigenen Leid gegenüber. Ihr Geist erlag fast dem Banne, den das Dorf auf ihr Haus gelegt hatte. Seitdem sie keine Messe mehr hören durfte, war ihr zu Mute, als sei sie von allem Heil ausgeschlossen. Sie kam sich vor, wie von den Heiligen, wie vom Himmel verlassen. Sie fühlte sich so sündenvoll, daß sie nicht den Mut befaß, zu beten, und angstvoll vermied, dem Muttergottesbilde in die Augen zu sehen. Wenn sie von weitem die Kirche erblickte, die Glocken läuten hörte, die Nachbarinnen zur Messe gehen sah, so stand sie wie eine an allen Lebensgeistern Gelähmte. Wäre auf dem Kryvan eine Kirche gewesen und hätte sie, auf ihren Knien hinaufrutschend, dort zur Messe gehen dürfen – Michael Cibulas Weib wäre mit zerrissenen Gliedern und blutenden Wunden auf den Felsengipfel zur Messe gekommen.

Einen furchtbaren Eindruck übte die Verfehmung seines Vaters auf Urs Cibulas Gemüt. Nicht die Ursachen begreifend, nur die Wirkungen gewahrend, litt der Knabe wahre Qualen. Und es geschah zu dieser Zeit seines Lebens, daß sein junger leidenschaftlicher Geist von der Welt und den Menschen Eindrücke empfing, die sich mit unauslöschlichen Lettern in seine Seele eingruben.

Zuerst trotzte Urs dem Bann, der auf ihm lag; nach wie vor mischte er sich unter die Jugend des Dorfes. Den ersten, der ihn beschimpfte, schlug er nieder. Aber da fielen alle über ihn her, so daß er mit zerrissenen Kleidern und blutendem Gesicht endlich weichen mußte. Fortan verließ er das Haus nicht mehr, verbrachte die Tage in der Arbeitskammer neben seinem düsteren Vater, diesem beim Schnitzen seiner Marienbilder helfend (was er mit unüberwindlichem Widerwillen tat), verbrachte die Abende bei seiner alten, halb blödsinnigen Wärterin, auf deren Raunen und Flüstern lauschend. Oft sah er in der Ferne Ilja Dozana stehen und nach seinem Hause herüberspähen, sah er, wie das Kind sich näherte, wie es wartend vor dem Hause stand. Aber obgleich ihm vor Sehnsucht und Weh das Herz fast zersprang, ging er nicht zu ihr hinaus.

Eines Nachts erwachte Urs, der neben seinem Vater schlief. Da sah er diesen aufstehen und leise in die Kammer gehen, wo über dem Tische das Marienbild stand. Eine Weile blieb alles still. Dann hörte der Knabe nebenan Murmeln, Seufzer – Stöhnen. Es klang wild und schauerlich, so daß Urs mit dem Kopf unter die Decke fuhr. Am Morgen kam ihm das Erlebnis der Nacht wie ein Traum vor, er unterließ es, der Mutter davon zu erzählen.

Es war im Frühling und Stefan Dozana mit den Kindern bereits nach der Kapelle aufgebrochen, als Michael Cibula eines Morgens seinem Sohne zurief: »Willst du heute mit mir in den schwarzen Grund?«

Urs wollte mit. Trotzdem der schwarze Grund für jedes Kind ein Ort des Grauens und des Schreckens war, wohin die bösen Kinder von ihren Vätern gebracht wurden, um dort von den Bären gefressen zu werden, trotzdem wollte Urs mit seinem Vater in den schwarzen Grund. Aber Josepha, die im Zimmer war, erblaßte. Auch den Erwachsenen galt der schwarze Grund als ein fürchterlicher Ort, wo es nicht geheuer war. Selten, daß einer nach der verrufenen Stätte kam, obgleich dieselbe gar nicht weit von Piatra entfernt lag und zum Gebiete der Waldleute gehörte. Wer hinkam, wußte seltsame Dinge zu berichten: von schönen Wäldern und lieblichen Wiesen, womit die Geister die Menschen anlockten. Der Zweifelnde, der etwa selber hinging, kam bekehrt zurück, denn er hatte die schönen Wälder und lieblichen Wiesen mit eigenen Augen gesehen. Unter welchem Zauber der schwarze Grund stand, bewies allein schon der Umstand, daß alle, die ihn gesehen, ihn beinahe immer im vollen Sonnenschein erblickt hatten, während doch das Tal, eben seiner Enge und seines Schattens wegen, schon von den Ahnen der »schwarze Grund« benannt worden war. Die ältesten Leute erinnerten sich, von den ältesten Leuten gehört zu haben, wie den schwarzen Grund weder Sonne noch Mond bescheine; folglich mußte der Sonnenschein, den die Wanderer erblickten, Blendwerk böser Geister sein. So kam es, daß fast jeder, der über dem schwarzen Grund die Sonne scheinen sah, schon von weitem vor dem Spuk die Flucht ergriff.

Nicht minder Schauerliches erzählte man sich von einem See, der im schwarzen Grunde liegen sollte und ein so dunkles und trauriges Gewässer sei, daß die Ahnen ihn den »trüben Blick« benannt. Wer in dem »trüben Blick« sein Gesicht widerspiegelte, über dessen Seele gewannen die bösen Geister Gewalt; sie ruhten nicht eher, als bis er mit seinem Spiegelbilde zugleich in die unergründlichen Fluten gesunken.

So waren denn die Sagen und Schauergeschichten, die man abends am Herdfeuer vom schwarzen Grunde erzählte, zahllos wie Blätter am Baume; und nur zwei lebten in Piatra, die nicht daran glaubten: Michael Cibula und Stefan Dozana, Und eben deshalb erblaßte Josepha, als sie vernahm, daß ihr Mann mit dem Knaben den schreckensvollen Ort besuchen wollte.

Leise verließ sie das Zimmer, begab sich zu Russka und teilte ihr das Vorhaben ihres Mannes mit. Die Alte kreischte vor Entsetzen laut auf. Dann berieten die Weiber, was sie tun sollten, um den Knaben gegen die Geister zu feien. Sie riefen Urs in die Kammer, besprengten ihn reichlich mit geweihtem Wasser, hingen ihm ein Amulett um den Hals und raunten über seinem Haupte den Geisterbann. Unter Tränen preßte Josepha ihren Sohn ans Herz, flüsterte ihm zu, daß sie für ihn beten würde, und drückte ihm zuletzt ein Fläschchen mit vom Bischof geweihten Wasser in die Hand: das sollte der Knabe heimlicherweise in den See schütten und dazu drei Kreuze machen.

Urs wurde bei diesen feierlichen Vorbereitungen unheimlich zu Mute. Er versprach, alles genau zu tun, küßte die Mutter, verbarg das Fläschchen in seinem Kleide und riß sich los. Draußen rief der Vater heftig nach ihm.

Die beiden stiegen die Schlucht aufwärts, anfangs noch auf einem Pfade, der sich indessen mehr und mehr unter allerlei Pflanzengewirr verlor. Noch konnten sie die Richtung nicht verfehlen, denn der Bach, der die Verrös durchströmte, entsprang im dunklen Grunde.

Bald umfing die Wanderer der Urwald. Hier war niemals ein Stamm gefällt worden; nur Sturm und Lawinen hatten bisweilen Lichtungen in das Dunkel gerissen, oder die mächtigen Bäume waren altersmorsch zusammengebrochen. Verwesend lagen die grauen Gigantenleiber der toten Waldesriesen am Boden, schier königlich aufgebahrt auf einem mit bunten Frühlingsblumen bestickten Moosteppich. Efeu und blühende Waldrebe bildeten den Sarkophag, darüber sich ein Gewölbe von goldigem Ginster und weißen Rosen schloß. Mit feierlichem Rauschen und Raunen neigte das blühende Leben sich zu den Toten herab.

Das Grausen, von dem Urs in den Armen seiner Mutter befallen worden, verlor sich im Walde; er jubelte, als sie sich durch das Gestrüpp Bahn brechen mußten. Rankendes Geißblatt und Pfeifenkraut hielten als bunte Blütenbänder die Dickichte umschlungen; aber Brombeer, Stechpalme und Schlehdorn zeigten sich den Menschen, die in die schöne Wildnis eindringen wollten, als Feinde.

Oft herrschte tiefe Dämmerung; doch das Brausen des Baches leitete sie. Einmal traten sie auf eine freie Waldstelle hinaus und erkannten, daß sie am Rande der Schlucht dahinschritten und daß die Felsen enger und enger über ihnen zusammenrückten.

Zuletzt wurde die Schlucht zur Kluft. Sie gelangten an eine Stelle, wo hoch über ihnen der Bach an einer senkrecht abfallenden Wand in schäumendem, donnerndem Sturz in den dunkeln Grund sank. Hier war es schauerlich.

Jetzt schoß das Wasser in wildem Wirbel um einen Felsen, nur spärlichen Raum neben sich lassend. Wie staunte Urs, als hinter den drohenden Klippen, gleichsam wie durch Zauberschlag, ein sonniges, heiteres Tal sich erschloß.

Und ein schöner Zauber schien die Halde zu sein, die, von himmelhohen Felsen umgeben, wie ein in einen Abgrund gesunkener Garten vor den staunenden Augen des Knaben lag. Die Farbe des Gesteins ringsum war von einem schwärzlichen Grau, von gewaltigen roten und gelben Streifen durchflammt. Schnee deckte die Gipfel, die gleich einem weihen Gewölk über den finsteren Schroffen ruhten. Wälder füllten die Schluchten, Gletscher die Schründe; die blauen oder grünen Eisschollen drängten sich hervor, als wären sie begierig, sich hinab zu den Blumen der Tiefe zu stürzen.

Von allen Seiten rieselte, rauschte und brauste es nieder, bald in mächtigem Sturze zu Tal donnernd, bald wie lange weiße Schleier von den Klippen herabwehend, die dunkeln Wände mit lichten Schaumbändern überziehend. Von allen Seiten, unter allen Wipfeln braute es auf wie feuchtes Nebelgewölk.

Sämtliche Wasser und Wässerlein flossen drunten zusammen, einen jener Alpenseen bildend, denen, um ihrer dunklen, regungslosen Flut willen, überall vom Volke dunkle, unheilkündende Namen beigelegt werden.

Der See, der im schwarzen Grunde im Sonnenschein aufleuchtete wie ein von Glück verklärtes schönes Menschenauge, war der »trübe Blick«.

Rings umfingen ihn Matten, die Blumengefilden glichen. Narzissen säumten die Ufer, anzusehen, als wäre mitten in die Frühlingspracht Schnee gefallen. Man sah vor Blüten nichts Grünes.

Auf der Wiese standen wahre Haine wilder Fruchtbäume, über und über mit weißen und rötlichen Knospen bedeckt, so daß an diesen Stellen die Blumen zu Hügeln aufgehäuft zu sein schienen.

Diese reizende Wildnis wurde von zahllosen Vögeln bevölkert. Die Luft tönte von ihrem Gesange, als hatten in diesem glückseligen Tale Blätter und Blüten Sprache und redeten in Mailiedern zu einander. Schwärme von Blauspechten flatterten auf, Fasanen schossen mit schimmerndem Gefieder durch die Gebüsche, ein Zug wilder Schwäne ließ sich auf dem Alpsee nieder.

Auf einem Hügel nahe am See, den herrliche Eschen beschatteten, weideten Hirsche und Rehe. Von Bären dagegen war nichts zu sehen und zu hören; nicht einmal Geister wollten erscheinen! Was diese letzteren anbetraf, fühlte sich Urs entschieden etwas enttäuscht.

Langsam schritten Vater und Sohn dem See zu, in der blumigen Wiese eine breite Spur hinterlassend. Die Vögel, die zusammen mit Käfern und Schmetterlingen die Kelche umschwirrten, flogen vor ihnen her, als wollten sie ihnen das Ziel weisen. Urs fragte seinen Vater mehr, als dieser beantworten konnte; doch als der Knabe zu wissen begehrte, warum an dem schönen Orte kein Mensch wohnte, erhielt er die zornige Erwiderung:

»Weil die Menschen törichte Geschöpfe sind.«

Urs besann sich eine Weile und fragte dann:

»Warum machen denn die Heiligen die Menschen nicht weise?«

Ingrimmig lächelte Michael Cibula und sagte mit rauher Stimme:

»Weil den Heiligen törichte Menschen lieber sind als weise; denn die törichten Menschen lassen sich von Priestern beherrschen: sie lassen sich aus lauter Hochmut und Eitelkeit von ihren Feinden Kirchen erbauen. Um ihren Feinden einmal ins Gesicht schlagen zu können, merken sie in ihrer Verblendung nicht, daß diese ihnen das Herz zerreißen. Aber der Himmel liebt zerfleischte Herzen.«

»Darum haben wohl die Heiligen ihr blutendes Herz in der Hand?«

»Darum! Aber man braucht kein Heiliger zu sein, um dem Himmel sein blutendes Herz darzubringen.«

»Was muß man sonst sein?«

»Nur ein Mensch! Aber ein unseliger Mensch.«

»Was ist das, Vater: ein unseliger Mensch?«

Michael Cibula sah seinen Sohn an. Mit einem Blicke, den der Knabe nie wieder vergaß, schaute er ihm fest und starr in die Augen.

»Ein unseliger Mensch – das ist überhaupt kein Mensch mehr, kein Geschöpf Gottes, der ja die Menschen lieben soll. Ein unseliger Mensch ist gleich einem Tier, aber ein Tier ist besser daran als er. Möchtest du das niemals begreifen.«

Sie kamen zum See, an dessen Ufern Urs bis über die Knie in Blumen versank. Die Schwäne, als sie die menschlichen Gestalten in der Wildnis erblickten, stießen langgezogene, schmetternde Töne aus, die fast wie wilder Wehruf klangen. Schwerfällig aus den Fluten sich erhebend, breiteten sie die mächtigen, schimmernden Fittiche aus und zogen in langer Kette den Eschen zu, in deren Schatten sie wie große Schneeflocken niedersanken.

Freudig sprang Urs vor, bis dicht an den Rand des, klaren Wasserbeckens, darin er seine Gestalt erscheinen sah, so daß er im ersten Augenblick erschrocken zurückwich. Dann lachte er laut auf. Das Versprechen, welches er seiner Mutter beim Abschied gegeben, vergaß er, so daß Michael Cibula, als auch er hinzutrat, weder heimlich mit geweihtem Wasser besprengt, noch mit drei Kreuzen zum Schutze gegen die bösen Geister versehen ward. Urs hatte an anderes und wichtigeres zu denken als an das Fläschchen in seiner Tasche; denn der See wimmelte von Forellen.

»Vater! Vater! So groß wie unsere Lämmer!«

Und jeden Augenblick schwamm eine noch größere bis dicht ans Ufer heran.

Während der Knabe am Wasser sich vergnügte, prüfte Michael Cibula bedächtig das Gras auf der Wiese, davon er sogar einige Halme in den Mund nahm und zerbiß. Er fand, daß die Matten im schwarzen Grunde trotz der vielen Blumen herrliche Weide geben würden. Auch den Boden untersuchte er, mit dem Fuße die schwarze und fette Erdkrume auswerfend.

Der schwarze Grund erschien ihm fruchtbar und sonnig genug, um Weizen darauf bauen zu können; zum mindesten war der Boden hier mit ebensoviel Licht und Wärme bedacht, wie die südlichen Abhänge des Kryvan.

Und Michael Cibula hatte plötzlich eine schöne Vision. Er sah an den fruchtbaren Ufern des herrlichen Alpsees ein stattliches Dorf sich erheben; er sah auf dem Hügel im Schatten der Eschen des Torfes Kirche mit hohem Glockenturm aufragen; er sah See und Dorf ringsum von grünenden Feldern und blühenden Matten umgeben; er hörte die fröhlichen Stimmen der Bewohner, das Jauchzen der Hirten, die Schläge der Axt; und er hörte das Geläute der Kirchenglocken. Deutlich vernahm er, wie es vom Hügel herab über den See klang: Friede! Friede! Doch das schöne Traumbild verrann, die Glocken verhallten.

Aber obgleich es nur ein Traum gewesen, bestimmte Michael Cibula schon jetzt den Platz, wo einstmals das neue Piatra stehen sollte. Dann überlegte er, wie viel Stück Vieh aus den oberen Abhängen und Matten Nahrung finden könnten, und rechnete aus, daß es für hundert Kühe und mehr Sommerweide gab und Heu genug für den Winter. Darauf rief er seinen Knaben.

Ganz verblüfft sah Urs seinen Vater an: Michael Cibula machte ein frohes Gesicht!

Sie lagerten sich nun und verzehrten, was Josepha ihnen für die Rast mitgegeben: weißes Brot, frischen Schafkäse und die Hälfte einer gebratenen Hammellende, in deren Zubereitung Michael Cibulas Hausfrau Meisterin war. Auch für den Durst der Wanderer hatte sie Sorge getragen und einen großen Krug ihres besten Gerstensaftes ihrem Liebling wohlverpackt auf den Rücken gebunden, voller Kümmernis, an welchem schrecklichen Ort dieser gute Trank von Mann und Sohn getrunken werden sollte, und nicht ganz sicher, ob sie das Gefäß nicht für Bären und Geister füllte.

Urs gönnte seinen stark beschäftigten Kinnbacken plötzlich eine Ruhepause; der Vater hatte ihn gefragt: »Also du würdest gern hier wohnen?«

Das wollte Urs für sein Leben gern; denn: »Hier sind die Forellen so groß wie bei uns die Lämmer!«

Er überlegte und setzte mit etwas weniger begeisterter Stimme hinzu: »Wie groß mögen da erst die Bären sein!«

Michael Cibula lachte.

»Vielleicht wie bei uns die Rinder,« meinte er belustigt.

Es war das erstemal in seinem Leben, daß Urs den Vater lachen hörte. Nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt, lachte auch er, bis er nicht mehr konnte. Dann sagte er:

»Aber es soll hier mehr Baren geben, als in Piatra Katzen,« und er sah sich dabei um – so nach der Seite.

»Die Leute werden sich verzählt haben,« beruhigte ihn der Vater. »Wir zählen sie wohl einmal gelegentlich selbst.«

Urs fühlte sich plötzlich schrecklich mutig, so daß er aufsprang und sich nach einem Bären umsah – nach einem Rudel von Baren!

»Wo meinst du, sollten wir unser Haus hinbauen?« fragte ihn der Vater.

Ohne sich lange zu besinnen, bezeichnete Urs den Platz, der ihm am besten gefiel: dicht am See, unter dem schönen, mit Eschen bestandenen Hügel. Der Vater sagte:

»Ich will es mir überlegen.«

Eifrig erkundigte sich Urs: »Nicht wahr, Vater, dann lassen wir keine Juden hier mit uns wohnen?«

»Ebensowenig wie die Bären.«

»Die Juden kommen nicht die Felsen herab?«

»Lebendig nicht.«

Michael Cibula stand auf.

»Ob deine Mutter auch gern hier wohnen wird? »Vielleicht kommt sie nicht mit uns.«

Da lachte Urs hell auf.

»Und wenn wir wohnten, wo die Bären und die Juden wohnen; mit dir und mit mir zieht die Mutter überall hin – mit dir noch lieber als mit mir.« Jäh wandte sich Michael Cibula ab. »Du sagst der Mutter nichts!« gebot er.

Bald darauf machten sie sich auf den Heimweg. Urs war plötzlich still und nachdenklich geworden; ihm fiel ein, daß nur die Eltern und er und die alte Russka an dem schönen See wohnen sollten, nicht auch Ilja Dozana.

Als am Abend Josepha ihren heimgekehrten und geretteten Knaben voller Jubel in die Arme schloß und ihn ausfrug, wie alles gewesen sei, äußerte sich Urs ziemlich kühl über den »schwarzen Grund«: »Wie soll es gewesen sein? Die Forellen waren wohl groß, aber – kein einziger Bar und kein einziger Geist hat sich sehen lassen.«

*

An diesem Abend zerstörten die Juden den Steg, der die beiden feindlichen Ufer mit einander verband. Der wilde Bach riß die Balken tosend davon, hob sie hoch auf, drückte sie tief hinab. Es war als spielten die Wellen damit.

Doch wurden sie dieses Zeitvertreibes bald müde. Sie warfen das Holz gegen die Felsen, wo es hängen blieb und von neuem eine Art Steg bildete, über den Asarja beinahe trockenen Fußes an das Ufer der Christen gelangte.


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