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Einführung

In den Karpathen, dort, wo sie am höchsten und wildesten sind, liegt, fernab von jeder Kultur, in einem engen und waldreichen, aber schönen und fruchtbaren Tale ein uraltes Dorf.

Das Tal heißt die Verrös und das Dorf Piatra.

Piatra wurde von den Römern gegründet, welche schon während der Republik in die Karpathen kamen und daselbst in der Verrös die ersten Silbergruben und Goldbergwerke Europas ausbeuteten, Minen, von denen seit geraumer Zeit jede Spur verloren gegangen. Die Bauern von Piatra nennen sich nicht Ungarn, sondern »Nachkommen der Römer«.

Sie bewohnen Blockhäuser, die sich wie eine vom Lämmergeier bedrohte Herde schwarzer Bergschafe hoch am Rande der Schlucht zusammendrängen, an den Klippen hängend, als ob sie sich aneinanderklammerten, um nicht hinabzustürzen.

Ringsum nachtet der Tann, dicht und mächtig wie Urwald. Er steigt aus der Tiefe auf, hoch hinan bis zu den ungeheuren Felsenwänden der Alpen.

Hin und wieder erhellen freie Stellen das Waldesdunkel, die, von weitem gesehen, im Sonnenschein wie große goldige Lichter auf dem schwarzen Grunde schwimmen. Noch sind solcher märchenhaften Eilande inmitten des Meeres von düsteren Arvenwipfeln und Tannenspitzen nur wenige; und es befinden sich dieselben beinahe ausschließlich auf der, dem Dorfe Piatra gegenüberliegenden, sonnigen und fruchtbaren Seite der Schlucht.

In der Tiefe bahnt sich ein ungestümer Bach zwischen Felsentrümmern und entwurzelten Riesenfichten seinen jungen Lebensweg. Das Wässerlein braust und schäumt wie in Wut über die vielen Hindernisse, die sich seinem Laufe entgegenstemmen. Vorwärts drängend stürmt es von Klippe zu Klippe.

Wald und Gebirge wimmeln von edlem Wild, von Hirschen und Rehen. Auf den Halden balzt der Auerhahn, höher hinauf haben Schneehühner und Berghasen ihr Revier, wilde Schafe und Ziegen sind häufig, der Bach liefert köstliche Forellen, und in den Waldseen wird den Muränen und den Aalen nachgestellt. Aber es gibt auch Adler und Lämmergeier, Luchse und Wölfe, und seit alters her sind die Bauern von Piatra berühmte Bärenjäger.

Ein einziger Weg führt aus der Welt in die Wildnisse des Verröstales, eher ein Pfad zu nennen als eine Straße. Gras und Blumen überwuchern ihn, und was von den abschüssigen Wänden an Gestein und Erdreich darauf niederrollt, bleibt liegen. Bis zu dem nächsten spärlich bewohnten Tale braucht ein tüchtiger Fußgänger einen starken Tagesmarsch.

Die Bauern von Piatra sind seßhafte, schwerfällige Leute, die sich ungern vom Flecke rühren. Daher kommt es, daß nur der eine oder der andere dieses Völkchens von der Welt mehr zu sehen erhält, als Felsen und Wald. Es ist auch ein jeder damit zufrieden, und niemand wünscht sich in seinem Leben mehr zu sehen, als Felsen und Wald, die beide den Bauern von Piatra gehören, so viel sie davon erblicken. Vielleicht macht diese stolze Umschau, die sie tagtäglich halten, sie so selbstbewußt: ein echter Bauer von Piatra hat in seinen Augen etwas von dem Blick eines Herrschers.

Was etwa der eine oder der andere winters am Herdfeuer den Seinen von der Welt jenseits ihrer Felsen und Wälder zu erzählen weiß, klingt den Zuhörern so befremdlich, daß sie ungläubig den Kopf dazu schütteln; sie lauschen, als hörten sie Märchen. Aber zu den wirklichen Märchen, die sie einander erzählen, hat noch niemals ein Bauer von Piatra den Kopf geschüttelt.

Indessen das seltsamste, das von diesem seltsamen Alpenvolke berichtet werden muß, ist: daß es, auf Grund seiner sagenhaften römischen Abstammung, sein Dorf für einen freien Ort, sein Gebirge und seinen Wald für einen freien Staat hält; und noch sagenhafter mag es sich anhören, daß man die kleine Felsenrepublik in Frieden das scheinen läßt, was sie seit unvordenklichen Zeiten zu sein behauptet. Kein Bauer von Piatra sendet seine Söhne zum Heeresdienst, keiner weiß von einer Regierung, keiner fragt nach einem Herrn und nach Gesetzen. Wie sie die Welt vergessen haben, so sind sie von der Welt vergessen worden.

Über ihre absonderlichen Rechte und Befugnisse haben sie uralte Dokumente aufzuweisen, ehrwürdige vergilbte Urkunden, deren Echtheit und Unantastbarkeit noch keiner von ihnen angezweifelt hat; das wäre auch keinem zu raten.

Dieses Geschlecht von Wald- und Bergkönigen von Gottes- und eigenen Gnaden ist ein überaus stattlicher Menschenschlag: hoch und schlank von Gestalt, die Glieder kräftig und zugleich geschmeidig, das Gesicht dunkel, mit großen und stolzen Zügen. Alle haben prachtvolles helles Haar und schwermütige dunkle Augen. Die Frauen sind häufig sehr schön.

Es ist ein ernsthaftes und schweigsames Volk. Die unerhörte Abgeschlossenheit ihres Tales, das Düstere ihrer Berge und Wälder hat sie selbst verschlossen und düster gemacht. Sie leben in einer Wildnis, von deren Größe und Furchtbarkeit etwas in ihre Seelen überging.

Die Bauern von Piatra haben ihre eigene Tracht, schön und phantastisch; sie sprechen ihre eigene Sprache, die, beschränkt in ihren Ausdrücken, voller Pathos ist; sie haben ihre eigenen Gebräuche und Gesetze, und es ist beinahe, als hätten sie auch ihre eigene Religion, trotzdem sie dem Namen nach Katholiken sind.

Heimatliche Sage und Sitte achten Sohn und Enkel, wie Vater und Großvater sie geachtet haben; wer dagegen seine Stimme erhebt, gilt als Frevler, des Todes würdig.

Es ist ein Volk, das keine Feste kennt und keine Lieder singt; dafür quillt ihm ein unerschöpflicher Born von Märchen und Geschichten. Die Phantasie dieser einsamen Menschen bevölkert die ganze Landschaft mit gespenstischen Wesen, mit Geistern und Alraunen. Jeder Berg hat seinen Kobold oder seine wilde Frau; aber es gibt unter der ganzen großen Geisterschar keinen, der dem Menschen freundlich gesinnt wäre. Alle sind tückisch und feindselig. bringen Unheil, locken ins Verderben, stürzen in den Tod. Wer von einem Bären zerrissen, unter einer Lawine oder einem Bergsturz begraben wird, wer in einen Abgrund stürzt und vom Blitz erschlagen wird, der ist den finsteren Mächten zum Opfer gefallen. Und da der Unglückliche unkommuniziert gestorben, gilt er überdies für ewig verdammt.

Je dumpfer diese Waldleute dahinleben mit Seelen, welche die ewige Musik des Urwalds, das Rauschen und Brausen der Wipfel in Schlaf gewiegt hat, ein um so mächtigeres Leben gewinnen die wenigen ursprünglichen Empfindungen, aus denen ihre Gefühlswelt besteht: ihre Heimatliebe und jener finstere, furchtbare Aberglaube, den sie ihre Religion nennen. Was eine wurde ihre tiefste und reinste, das andere ihre verderblichste und wildeste Leidenschaft.

Um größeren Herden zu nähren, bieten Piatras Umgebungen zu wenig Weideland. Zwar hätten sie aus der anderen Seite der Schlucht für ihre Tiere Futter in Fülle gefunden; da sie sich indessen nun einmal diesseits befanden, blieben sie auch dort. Auch sind die Bauern von Piatra niemals eigentliche Viehbauern gewesen; ebensowenig Feldbauern. Drüben auf der Südseite war vortreffliches Ackerland, aber drüben war Waldung, und kein Bauer von Piatra wäre jemals auf den Gedanken gekommen, daß man, um Ackerland zu gewinnen, Wald ausroden könne. Seitdem man vor geraumer Zeit die »neue« Kirche gebaut hatte, war in der Verrös kein größerer Holzschlag ausgeführt worden.

Die »neue« Kirche war ganz aus kostbaren Zirbenstämmen errichtet; im übrigen auch sie nichts anderes, als ein mäßig großes Blockhaus, lang und schmal, an der Seite mit einem hohen Anbau, den die Waldleute voller Stolz »den Turm« nannten. Die Glocke, die in diesem Turm tagsüber gar viele Male geläutet ward, stand bei jung und alt in hohem Ansehen, als sei sie eine vornehme Persönlichkeit.

Späterhin bemächtigte sich vieler Gemüter der leidenschaftliche Wunsch, in Piatra ein steinernes Gotteshaus zu besitzen. Die Beratungen, die darüber ein Jahrzehnt hindurch abgehalten wurden, führten zu keinem Ergebnis; denn wie sollte man in Piatra eines Baumeisters und vieler Steinmetzen habhaft werden? Selber Steine zu brechen, heranzuschleppen und zu schichten, duldete die Würde der Bauern von Piatra nicht, und an seiner Würde hätte ein Bauer von Piatra selbst nicht um Gottes- und der Heiligen willen sich etwas vergeben. Überdies verstand sich die Kunst der Waldleute nur auf Holz.

Auch stimmten die Cibula gegen den Steinbau. Die Cibula gehörten zu einer der ältesten Familien des Dorfes, aus der die größten Bärenjäger Piatras hervorgingen. Es waren Männer von trotziger und zornmütiger Art; und wenn es in Piatra überhaupt geschehen konnte, daß jemand sich gegen einen geheiligten Brauch erhob, war dieser große Übeltäter sicher ein Cibula: nur ein Cibula konnte es wagen, eigene Gedanken zu haben und zu sagen, was er dachte. Niemand gebürdete sich so wild über alles, was in Piatra streng nach dem Herkommen geschah, wie die Cibula; trotzdem verteidigte niemand in der Gemeinde die alten Rechte so entschieden, liebte niemand das Walddorf mit seinen eigentümlichen Sitten so glühend wie diese Familie. Sie stand in großem Ansehen, wurde jedoch ihrer unbezähmbaren Natur und ihres wilden Wesens halber allgemein gescheut, so daß die Republik möglichst Frieden mit diesen Republikanern zu halten suchte.

Die Cibula also stimmten gegen den Steinbau.

Aber für die Errichtung der neuen Kirche war der ganze Stamm der Dozana, die, indem sie dem alten Freistaat seit langen Zeiten seine Priester gaben, die geistlichen, infolge dessen auch die weltlichen Machthaber Piatras waren. Da dies einmal Brauch geworden, dachte niemand arges dabei – außer wiederum die Cibula. Diese unruhigen Köpfe behaupteten: Piatra wäre eine freie Bauerngemeinde und kein Priesterstaat! Als Folge ergab sich, daß seit Menschengedenken die Dozana und die Cibula miteinander in Fehde lagen, Piatra demnach, wie weiland Verona, seit Menschengedenken in zwei feindliche Lager geteilt war. Bei dem wilden Blute und den heißen Leidenschaften, welche beiden Parteien gemeinsam waren, würde dieser Zwist sicher nicht ohne Gewalttaten geblieben sein, wären die Cibula nur die heftigsten und nicht zugleich auch die frömmsten Gemüter Piatras gewesen: so oft im Gemeinderate ein Priester seine Stimme erhob, glühte in den Augen der Cibula die alte Erbfeindschaft auf; aber sowie derselbe Mann in der Kirche seines Amtes waltete, senkten sich vor dem Diener Gottes die trotzigen Häupter. Im Gemeindehause war der Dozana des Cibula schlimmster Feind, in der Kirche sah jeder Cibula in seinem Nebenbuhler nur den geweihten Diener des Herrn, vor dem er in Demut die Knie beugte, wenn jener ihm das Allerheiligste zeigte. Und demselben verhaßten Manne beichtete der Cibula seine Sünden und ließ sie sich von ihm vergeben; von demselben verhaßten Manne hoffte er auf seinem Sterbebette die Versicherung der Versöhnung mit Gott und eines ewigen Lebens zu empfangen. So hielten es alle Cibula mit allen Dozana, die Priester waren, und niemals wäre es ihnen in den Sinn gekommen, daß in Piatra ein anderer als ein Dozana hätte Priester werden können. Sie wären die ersten gewesen, sich gegen einen Fremden zu wehren: gehörte es doch mit zu jenen verbrieften heiligen Rechten und uralten Privilegien der Waldleute, sich ihre Geistlichen aus der Gemeinde zu erwählen.

Schon bei Lebzeiten des jeweiligen Geistlichen traten die Häupter von Piatra zusammen und bestimmten aus dem Stamm der Dozana den Nachfolger, der zuweilen – ein zweiter Cincinatus – von den Herden hinweg, oder von der Jagd auf Bären zurückberufen wurde. Ohne an die Möglichkeit eines Widerstandes zu denken, fügte sich der Erwählte dem Beschlusse der Väter und ließ sich hinausschicken in die fremde, unbekannte und gefürchtete Welt, zunächst um zu lernen. Starb inzwischen der Geistliche, so sandten die Waldleute eine Deputation in die nächste Stadt, sich von dort einen Interimspriester zu erbitten, der in Piatra als hochangesehener Gast behandelt wurde, ohne daß jemals die Waldleute Zutrauen zu ihm gefaßt hätten.

Unterdessen bereitete sich der junge Waldbauer zum Waldpriester vor. Mit Lesen und Schreiben begann es, um mit der Erteilung der Weihen zu enden. Erst wenn in des Jünglings Locken die Tonsur eingeschoren worden, durfte er zurückkehren in die heimatlichen Wälder, nach denen er sich in Sehnsucht verzehrte. Was ganze Dorf machte die festlichsten Anstalten zum Empfange seines jungen zukünftigen Regenten, Häuser und Küche wurden geschmückt, es ward gejagt, gefischt und geschlachtet – es ward gekocht, gebacken und gebraten. Ward auch gebraut! Ehe an dem großen Tage die Sonne aufging, zog, wer mitziehen konnte, Männer, Frauen, Kinder im Festschmuck dem Ankömmling entgegen. Es war wie eine Prozession. Die lauten Gebete der frommen Schar weckten das Echo der Felsen, schaurig die erhabene Stille der Wälder durchhallend. So wanderten sie bis zu der Grenze ihres Gebietes; ein Kreuz bezeichnete den Ort, Hier erwarteten sie ihren heimkehrenden Sohn.

Wer sich vor dem neuen Geistlichen am tiefsten neigte, das waren die Cibula.

So lebten sie von Geschlecht zu Geschlecht, so lebten sie noch Ende des letzten Jahrhunderts, in welcher Zeit die Begebenheiten, die in diesen Blättern erzählt werden sollen, sich ereigneten.


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