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Siebzehntes Kapitel

Dozia bringt Josepha die erlösenden Worte

Frühzeitig am nächsten Morgen tat Dozia ein dunkles Gewand an, legte einen schwarzen Schleier über ihr Haar und ihre Stirn, rief Asarja und ging mit diesem zu Baruch Kolon, dem Jehuda seines Weibes Vorhaben berichtet hatte. Der Patriarch segnete seine Schwieger und seinen Enkel für ihren schweren Weg und sprach: »Möchtet ihr Frieden geben und nehmen.«

Nun gingen sie fort; doch Asarja wußte noch nicht, wohin er seine Mutter begleiten sollte.

Alle, die in Reï-mi-Bal auf der Gasse waren, grüßten das Weib ihres Rabbiners ehrfurchtsvoll und schauten der hohen Frauengestalt verwundert nach; denn in der letzten Zeit geschah es selten, daß man die schöne Dozia außerhalb ihres Hauses zu sehen bekam. Seitdem die vertriebenen Juden von Tar fest und sicher in einem schnellaufblühenden Orte saßen, zeigte sie sich der Gemeinde nur im Betsaal.

Dozia nachblickend, sagten die Juden zu einander:

»Wandelt sie nicht dahin wie eine Königin?«

Und keiner dachte bei ihrem Anblick daran, daß die Mutter der stolzesten und tugendhaftesten Tochter des jüdischen Stammes eine Christin gewesen; dermaßen erfreuten sich die Juden an Dozias Schönheit und Hoheit, und so sichtbarlich lag der göttliche Geist Israels auf diesem Weibe.

Es war ein glanzvoller Septembermorgen, an dem die Jüdin mit ihrem Sohn diesen frühen Ausgang unternahm. Der Schlucht entstieg eine leichte Dunstwolke die, von den Sonnenstrahlen getroffen, in einen Nebel diamantener Funken zerstob. Zuweilen wurde zwischen einem solchen Strahlengeriesel ein Stück Fels oder Wald sichtbar. Hoch in den Lüften leuchteten unter einem tiefblauen Himmel frisch beschneite Gipfel so licht, als wäre dort oben ewige Tag.

»Wohin gehen wir, Mutter?« hatte Asarja wiederholt gefragt, aber stets eine ausweichende Antwort erhalten. Er war niedergeschlagen, weil Makkabea zu Hause gelassen worden war, und kam sich wie im Unrecht gegen die Schwester vor. Auch mußte er immer von neuem staunen und darüber sinnen, daß seine Großmutter eine Christin gewesen. Was würde Ilja Dozana dazu sagen? Seitdem sie ihm das Leben gerettet, hatte er sie nie wieder gesehen; und dann wunderten und kümmerten sich seine Eltern, daß er immer noch zu kranken schien, obgleich seine Wunden bereits geheilt waren.

Schon war vom Ausgang des Ortes an die neue Straße mit Steinen gepflastert. Sie führte eine lange Strecke durch Äcker, deren Früchte bereits zum größten Teil geerntet und eingebracht waren. Den angebauten Feldern folgte ein weites Stück Rodung, das für den Getreidebau vorbereitet wurde. Ehe sie in den Wald traten, kamen sie an dem Stollen vorüber, den die Juden in den Kryvan getrieben, um nach Erzen zu suchen, nach Silber und Gold.

Dozia beachtete und betrachtete alles; sie sah, daß der Juden Werk gesegnet war. Doch je größer ihr der Segen erschien, um so mehr fiel es ihr drückend auf das Herz: leicht war es gewesen, den Ort Reï- mi-Bal zu gründen – leicht, weil es Müh und Arbeit gewesen – aber schwer würde es sein, den Segen Reï-mi- Bals zu ertragen – schwer, weil er nicht Lohn, sondern Spende war. Und Dozia fühlte sich in tiefster Seele bekümmert, daß man die Stätte nach ihren Worten getauft hatte.

Sie gingen denselben Weg, auf dem damals die Waldleute den besinnungslosen Asarja getragen. Plötzlich wußte der Knabe, wohin er seine Mutter begleiten sollte:

Zu Ilja Dozana!

Sein Trübsinn wich von ihm wie Nebel im Sonnenlicht. Der Glanz des Tages spiegelte sich auf seinem bleichen Gesichte wieder. Er lief von seiner Mutter fort und pflückte Blumen, bereit, sich zum zweiten Male steinigen zu lassen. Dozia merkte sogleich, für wen ihr Sohn sich mit Blüten belud, und beschloß im stillen, heute die beiden Mütter zu besuchen. Demütig wollte sie bei beiden vor der Türe stehen bleiben, wenn man sie nicht einlassen sollte.

Sie überschritten den Bach und gelangten jenseits desselben auf das Gebiet der Christen. Sogleich ward ihr Weg schattig, die Landschaft wild und unbebaut.

Plötzlich sagte Asarja, der wieder neben der Mutter herging: »Ich weiß auch, warum der Jude die Felsen herabstürzte.«

Dozia mußte sich besinnen, was der Knabe meinte. Dann sagte sie: »Er hatte sich oben im Wald verstiegen und fiel ab.«

»Er hatte unten im Wald Maria Cibula gesehen und mußte zu ihr hinunter,« rief Asarja triumphierend.

Seine Mutter mußte lächeln.

Sie kamen nach dem exkommunizierten Piatra; weil Dozia nicht an der neuen Kirche vorbeigewollt, hatten sie einen weiten Umweg gemacht.

Trotz des Sonntags waren nur wenige Menschen auf der Gasse. Auch hier blieben alle stehen, auch hier schauten alle auf das Judenweib; aber mit Blicken, unter denen Dozia ihr Haupt sinken ließ – nicht aus Furcht, sondern aus Trauer. Mit einer jähen Bewegung riß sie Asarja an sich, sein Gesicht fest an ihren Leib pressend, wie um ihren Sohn vor diesen Blicken zu schützen.

Da vernahm sie hinter sich Stimmen; dumpfe, schauerliche, fürchterliche Töne. Es waren jedoch keine Verwünschungen, die ihr nachgerufen wurden, sondern Klagen, die einem Verstorbenen galten. Erbebend wich Dozia, so weit sie vermochte, beiseite, den Leichenzug an sich vorbeizulassen.

Der Tote lag im offenen Sarge; es war ein Mann. Deutlich konnte Dozia das fahle, starre Gesicht sehen. Nicht vom Todeskampf war dieses Antlitz so gräßlich entstellt; ein ganz anderer, ein viel entsetzlicherer Ausdruck lag darauf: wie ewiger Haß, wie ewige Qual und ewige Verzweiflung.

Und wie voll ewiger Verzweiflung erschallten die Klagen um diesen in Verdammnis dahingegangenen, geachteten Christen.

Als die Trauernden das Judenweib erblickten, ward das dumpfe, vieltönige Gemurmel zu einem einzigen gellenden Aufschrei: »Auf die Knie, Jüdin!«

Keiner hob seine Hand gegen sie, keiner wich aus dem Zuge; aber alle schrien ihr zu:

»Auf die Knie!«

Dozia umschlang ihren Knaben, nahm ihm seine Blumen aus dem Arm, warf diese mitten auf den Weg, grade vor die Bahre, und zog dann Asarja mit sich nieder. Nicht aus Furcht vor den Lebenden kniete sie, sondern aus Ehrfurcht vor dem Toten.

Aber auch als die Bahre mit dem Leichnam an ihr vorüber war, blieb sie noch auf den Knien liegen und erhob sich erst, als der letzte des langen Trauergeleits an ihr vorbeigekommen war. Das tat Dozia, weil sie sich auch vor den Lebenden demütigen wollte; sie tat es mit ihrem Sohne im Namen ihres ganzen Volkes.

Die alte Russka kauerte vor dem Hause im Sonnenschein, hielt den Rosenkranz zwischen den knöchernen, gekrümmten Fingern und plapperte vor sich hin, dieselbe Litanei wie damals, als sie noch die junge Russka gewesen war und Maria Cibula auf ihren Knien geschaukelt hatte.

Seitdem Piatra geächtet worden, tat sie nichts anderes, als irgendwo zu lauern, wo es warm war: entweder im Hause am Herdfeuer oder vor dem Hause im Sonnenschein, und sie tat nichts anderes als mit dem Rosenkranz in der Hand vor sich hin zu plappern. Da sie kaum noch schlief, trieb sie das unheimliche Wesen beinahe die ganze Nacht hindurch. Auch durfte sie keinen Augenblick verlieren, um sich die ewige Seligkeit zusammenzubeten. Denn da auch sie geächtet war, so würde auch sie eines unchristlichen Todes sterben; und da in Piatra keine Messen mehr gelesen werden durften, so würde auch für ihre arme Seele nichts geschehen, diese aus den Flammen des Fegefeuers zu erlösen. Demnach mußte Russka für sich selbst sorgen. Neunzig Jahr war sie alt, lebte sie bis hundert, so durfte sie hoffen, nach zehn Jahren unaufhörlichen Betens ihre Seligkeit zusammengebetet zu haben. So mußte sie denn nebenbei auch darum beten, hundert Jahre alt zu werden; und sie betete nebenbei um das Verderben der Juden, von denen sie nur zwei kannte und mühsam unterschied: der eine hieß Pilatus und hatte den Heiland zum Tod verurteilt, der andere hieß Simeon und hatte Maria Cibula einen Liebestrank eingegeben. Durch den einen war das Erbübel in die Welt – nach Piatra gekommen, der andere trug Schuld, daß in der Welt keine Messen mehr gelesen werden durften und die Menschen sterben mußten wie Tiere!

Seitdem in der Welt keine Messen mehr gelesen wurden, ging alles drunter und drüber, seitdem war keine Ordnung mehr auf der Welt: statt erst beim jüngsten Gericht zu erstehen, standen die Toten schon jetzt wieder auf! Am hellen, lichten Tage gingen sie durch die Gassen, kamen zu den Häusern und redeten die Lebendigen an. Mit der Stimme der toten Maria Cibula rief es am hellen, lichten Tage Russka an; aber Russka wunderte sich über nichts mehr, kaum, daß sie mit ihren halb erloschenen Augen aufsah, als sie mit Maria Cibulas Stimme sich fragen hörte:

»Ist Josepha Cibula im Hause?«

Russka plapperte fort und fort; denn um der toten Maria Cibula willen mochte sie von ihrer ewigen Seligkeit keine Stunde einbüßen. Doch nickte sie.

»So geh hinein und sage ihr, daß sie herauskomme.«

Toten muß man gehorchen, sonst nehmen sie einen mit und Russka wollte hundert Jahre alt werden. So raffte sie sich denn auf, wankte ins Haus und in die Kammer, wo Josepha bei ihrem Linnen stand. Michael Cibula war nicht zu Hause.

Verdrießlich, daß sie um der toten Maria Cibula willen ihr Beten unterbrechen mußte, sagte Russka:

»Ich soll dich rufen. Die tote Maria Cibula steht draußen vor der Tür und will mit dir reden.«

Und sie fuhr sogleich mit doppeltem Eifer in ihrer gestörten Andacht fort.

Josepha starrte die Alte mit Entsetzen an, aber Russka bekümmerte sich nicht weiter um ihre Herrin; da sie nicht hinaus zu der toten Maria Cibula mochte, schlich sie in die Küche an den Herd.

Nun wollte zwar Josepha nicht hundert Jahr alt werden, sondern hatte sich lieber heute als morgen ins Grab gelegt; aber so voller Sünden, wie sie war, und ohne ein einzigesmal von ihrem Manne freundlich angeblickt worden zu sein, mochte sie doch nicht in die Verdammnis eingehen. Also folgte sie gehorsam dem Rufe der toten Maria Cibula und begab sich mit wankenden Knien zur Türe.

Da sah sie vor dem Hause das wunderschöne Judenweib stehen, an ihrer Hand den Knaben, den ihr Sohn beinahe getötet hatte. Aber so sehr ihr auch vor dem Geiste Maria Cibulas grauen mochte, wäre ihr die Erscheinung der Toten lieber gewesen als der Besuch dieser Lebendigen.

Bangend trat sie vor – nicht über die Schwelle; stumm stand sie da.

»Sei mir gegrüßt, wenn du auch nicht von mir gegrüßt sein willst,« begann Dozia mit ihrer tiefen, klangvollen Stimme. »Ich bringe dir meinen Sohn. Siehe, er ist wieder heil und wohl. Der Herr, unser aller allmächtiger Gott, segne den deinen.«

»Er ist mit seinem Vater im Walde,« stammelte Josepha, deren Augen sich bei den weichen Worten der jüdischen Mutter mit Tränen gefüllt hatten – die ersten, die sie seit langer Zeit weinen konnte.

Dozia beugte sich zu Asarja herab und flüsterte ihm etwas zu, worauf der Knabe von ihr fort, tiefer in den Garten hinein ging.

Nun trat die Jüdin vor – bis zur Schwelle, deutete auf dieselbe und sagte leise:

»Auf dieser Schwelle hat meine Mutter Mirjam, welche Maria Cibula hieß, als Kind und Jungfrau gesessen – die Schwelle dieses Hauses sei gesegnet immerdar.«

Josepha wußte nicht, wie ihr geschah. Diese herrliche Frau, der sie nicht ohne Scheu ins Gesicht sehen konnte, die Tochter Maria Cibulas, der Verwünschten und Verdammten, für deren armen Seele sie manche Stunde in heimlichem Gebet auf den Knien gelegen! Und dieser Maria Cibula Tochter stand vor ihr und segnete die Schwelle ihres Hauses, über welche die Mutter heimlich mit ihrem satanischen Buhlen entwichen war. Und der Enkel Maria Cibulas war es gewesen, den ihr Urs, nachdem er schon der Schwester ins Antlitz geschlagen, hatte steinigen wollen.

Das arme Weib wußte nicht aus noch ein. Kaum vermochte sie ihres Mannes zu gedenken und dessen wütenden Hasses.

Dozia gewahrte die Angst der Christin und fühlte Mitleid mit ihrer Not. Hätte Josepha sie aufgefordert, mit ihr in das Haus ihrer Mutter zu treten, sie hätte abweisend den Kopf geschüttelt. Um einer solchen Einladung zuvorzukommen, bat sie:

»Gewähre, daß ich mich niedersetze auf diese Schwelle, die das Gedächtnis an meine Mutter Mirjam für mich weiht, daß sie mir der köstlichste und heiligste Platz der Welt ist. Ich bin müde von dem langen und schweren Leid, welches ich um meine Mutter gelitten, und möchte auf dieser Schwelle einen Augenblick davon ausruhen.«

Und sie setzte sich – zu Josephas Füßen.

Diese regte sich nicht. Obgleich ihr Kleid das Gewand der Jüdin streifte und sie der unheiligen Berührung hatte ausweichen sollen, blieb sie unbeweglich. – Wenn grade jetzt Michael Cibula nach Hause gekommen wäre!

Als sei sie mutterseelenallein, lehnte Dozia ihr Haupt gegen den Türpfosten, schlang beide Arme um ihre Knie, und gerade vor sich hin, auf die Blumen des Gartens sehend, begann sie zu Josepha zu sprechen, als rede sie mit sich selbst:

»Die Welt ist voller Jammer und Trübsal. Keiner kann sich dagegen wehren, alle müssen es über sich ergehen lassen, wie sie über sich ergehen lassen müssen Frühling und Herbst, Sommer und Winter, Regen und Wind, den himmlischen Tag und die göttliche Nacht. Also kommt auch Jammer und Trübsal über die Menschen und sind beide Kinder Gottes, wie Glück und Freude Kinder Gottes sind. Deshalb sollen wir nicht murren, sondern flehen, daß unsere Herzen stark werden und fest unsere Seelen. Denn nur schwache und kleinmütige Herzen verzagen, wenn sie der züchtigt, der sie liebt.

Und Schuld und Sünde sind in der Welt. Gleich Dieben und Räubern schleichen sie sich in das Herz und stehlen es Gott und rauben das Herz dem Himmel. Dann wachsen Jammer und Trübsal, wie eine Wasserflut wächst; und es gibt keine andere Rettung, als mit seiner sündigen Seele hineinzustürzen in das Meer von Leiden und Reue. Dann wird der Geist Gottes schweben über den Wassern, und aus den Fluten, darin der Geist Gottes lebt, wird steigen der entsündigte Mensch.«

Ein Schluchzen, wie aus der Brust eines Gemarterten kommend, unterbrach Dozias Rede. Da sie sich umwandte, blickte sie in ein Frauengesicht, so blaß von Leiden, so entstellt von Jammer und Trübsal, daß die Jüdin vermeinte, in das Antlitz jenes allerschmerzlichsten Weibes zu sehen, welches die Christen abbildeten mit einem Schwerte im Herzen. Unaufhaltsam entstürzten Josephas Augen die Tränen und ihr war, als löse sich damit das Feuer in ihrer Brust und rinne dahin in flammenden Tropfen. Doch da Dozia aufstehen und zu der Weinenden treten wollte, bat diese sie mit unwiderstehlicher Gebärde, sitzen zu bleiben und weiter zu reden. Und Dozia, dem Weibe Michael Cibulas näher rückend, redete weiter – –

»Und in der Welt sind Haß und Liebe! – – Niemand weiß, woher sie kommen, aber jeder fühlt, wohin sie gehen: gerade ins Herz! Und jedermanns Herz bewältigen sie, daß aus der Menschen Haß und Liebe werden kann Jammer und Trübsal, so groß wie sonst nichts auf der Welt, eine Not, die aufschreit zum Himmel. Denn es kann kommen, daß der Mensch haßt, was er lieben sollte, und liebt, was er hassen möchte; und es kann geschehen, daß er haßt, wo er geliebt wird, und liebt, wo er gehaßt wird. Und es ist nicht zu sagen, welcher Jammer von beiden der größere ist.

Es könnte ein solcher Mensch, dessen Liebe der andere nicht sieht, oder nicht sehen mag, zweifeln an der Liebe des allmächtigen und allgütigen Gottes.

Aber für einen solchen Menschen ist ein gewaltiges Wort gesprochen worden, ein Wort, so göttlich und groß, daß es die verzweifelnde Seele aus einem Abgrunde emporhebt in die offenen Himmel hinein. Es heißt dieses Wort:

Wenn ich dich lieb habe, was geht es dich an?

Aber wie wir nun einmal geschaffen sind, wir müssen unser Heimlichstes und Heiligstes, unsere Liebe, einander laut ins Gesicht sagen; sonst vermeinen wir nicht bestehen zu können. Viele von uns empfinden das Wort; aber nur wenige wissen, daß allerheimlichste Liebe allerheiligste Liebe ist.

Und ist alles Göttliche auf Erden mit dem einen Worte gesagt: Wenn ich dich lieb habe, was geht es dich an?«

Josepha weinte nicht mehr. Sie, welche Michael Cibula heimlich liebte, welche durch ihre heimliche Liebe so voller Jammer und Trübsal war, so voller Schuld und Sünden geworden, daß ihre Seele in einem Meer von Leiden und Reue unterging, dieses unselige Weib fühlte in den Worten der Jüdin den Geist der Menschenliebe und lauschte darauf, als würde ihr mit Engelszungen das Evangelium gepredigt! Denn es verkündete Josepha ihr Allerheiligstes, das war ihre allerheimlichste Liebe:

»Wenn ich dich lieb habe, was geht es dich an?«

Dann erklärte Dozia, weshalb sie das alles sagte:

»Um den Jammer und die Trübsal zu deuten, um zu deuten die Sünde und die Schuld, welche durch die heimliche Liebe des Juden Simeon ihren Anfang nahm.

Um den Haß zu deuten, der entstanden, weil für den Juden Simeon nicht das Wort Gottes geschrieben stand. Denn er ging hin und offenbarte der Christin Maria seine Liebe, die, wenn sie die allerheimlichste geblieben, die allerheiligste geworden wäre.

Auch das ist eine schwere Schuld, daß Juden und Christen nicht unterlassen können, einander ihren Haß zu offenbaren, da doch geschrieben steht, daß wir nicht hassen sollen. Und es sollten Juden und Christen zu dem einen Gott nur ein Gebet haben; und dieses gemeinsame Gebet sollte lauten: Herr, laß uns beginnen, einander heimlich zu lieben, so heimlich, daß keiner von dem anderen weiß, daß jeder zu dem anderen sagen würde: Was geht es dich an?«

Dozia schwieg; aber Josepha saß in solcher Verzückung, daß sie das Verstummen der weichen Stimme gar nicht merkte.

Wie im Herbst welke Blätter vom Baume fallen, so fiel von ihr der Jammer ab, so fiel von ihr ab ihre Schuld – wie im Frühling junge Blätter am Baume sprießen, so wurde ihr Leben wieder geboren. Ihre Liebe war die heilige, denn sie war heimliche Liebe! Was ging es Michael Cibula an, wenn sein Weib ihn lieb hatte?!

Dozia hatte sich zu Josepha emporgerichtet und flüsterte ihr zu: »Auf dieser Schwelle saß meine Mutter Maria, ein unschuldiges Kind, das nichts wußte von Haß – von dieser Schwelle wich meine Mutter Mirjam, ein schuldvolles Weib, das viel wußte von Liebe. – – Josepha Cibula, sollen nicht auch wir auf dieser Schwelle sitzen und nichts wissen von Haß, aber viel wissen von Liebe? Josepha Cibula – um unserer unschuldigen Kinder willen sollten wir Mütter in allerheimlichster Liebe auf dieser Schwelle sitzen, damit unsere Kinder ihrer Mütter Segen empfangen, der stärker ist als der Väter Fluch.«

Und Dozia schlug ihre herrlichen Augen zu Josepha auf, so daß Michael Cibulas Weib von dem leuchtenden Blick willenlos, unwiderstehlich, gewaltsam zu ihr gezogen ward, hin an das erlösende Herz dieser Jüdin.


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