Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Achtzehntes Kapitel

Himmelfahrt!

Der gekreuzigte und gestorbene, der begrabene und vom Tode auferstandene Gottessohn hielt in Rom seine Himmelfahrt, während Roms Gassenpöbel den Krieg leben ließ, die Entente unter die nach Geld und Blut lechzende Meute Millionen ausstreute und Polizei sowohl wie Militär dem niedrigen Schauspiel lachend zuschaute. Auch heute befand sich der Professor auf den Straßen. Trotz der beschwörenden Bitten Filomenas hielt er es im Hause nicht aus: er mußte selbst sehen, selbst hören das Unerhörte, und das ohne Begleitung und Schutz seiner Getreuen. Auch zu einem andern wollte er sich durchaus nicht verstehen; wollte seinen Gehrock nicht ablegen, an dem jeder Römer auf den ersten Blick den Deutschen erkannte, und wies voller Entrüstung die Zumutung zurück, wenigstens das Eiserne Kreuz von der Brust zu nehmen. Die Römer sollten in ihm sofort den Deutschen erkennen, und was das deutsche Ehrenzeichen anbetraf, so hatte er sich dasselbe in den Jahren 1870 – 71 unvergänglichen deutschen Ruhms im Kampfe wider den Erbfeind, der nun Deutschlands Todfeind geworden, ehrlich verdient. Vielleicht würden die Römer bei dem Anblick sich erinnern, was Italien dem deutschen Heldentum jener Zeit zu danken hatte. Unterhalb des Kapitols erhob sich das Riesenmonument von Italiens Herrscher, der ohne jene Jahre, ohne Deutschlands Siege, schwerlich in die Hauptstadt des geeinigten Königreichs hätte eintriumphieren können! Also: Ehrfurcht vor dem schwarz-weißen Kreuz aus Eisen auf einer deutschen Brust! Plötzlich in einen der johlenden Volkshaufen geratend, ward der Alte von diesem bis Campo de Fiori getrieben. Hier sah er sich vor Palazzo Farnese stehend, unweit des Denkmals des auf dieser Stätte verbrannten Märtyrers der Wahrheit, Giordano Brunos. Den Palast der französischen Botschaft umtoste der süße Pöbel, dem geliebten Nachbarstaat eine heulende Ovation darbringend. Von Lakaien wurde die Tür des Balkons geöffnet, eine Dame in heller Sommertoilette trat heraus, wurde jubelnd begrüßt, nahm mit anmutiger Gebärde von ihrer Brust eine rote Rose, küßte sie pathetisch, ließ sie, Roms Plebs Kußhände zu werfend, hinab fallen unter die Menge, die um die Rose der Frau Botschafterin sich raufte, als ob die Blätter der armen geschändeten Blume Frankreichs Tausendfrankscheine wären.

Rudolf Müller entwich dem eklen Schauspiel, Versuchend, den Ausweg nach der Via Regola zu gewinnen, erreichte er den Palazzo Spada. Hier mußte er erkennen, daß kein Durchkommen möglich, ihm auch der Rückweg versperrt sei. Also flüchtete er in den Palast, um in dessen Innerem abzuwarten, bis ein Durchkommen möglich sein würde. Zu seinem Erstaunen fand er die Statuengalerie offen. Er trat ein.

Die Kunst! Die Kunst der Antike! Das Ewigschöne! Herrgott, der du dieses Ewighäßliche zuließest, der alte Künstler dankt dir, du Allgeist, daß in deiner entgötterten Welt die Kunst, die wahre, große, heilige, eine bleibende Stätte gefunden; dankt dir mit erhobener Seele. Vor den berühmten antiken Reliefs der Sammlung stehend und in ihre hellenische Herrlichkeit sich versenkend, ward ihm leichter zu mut, fast frei und froh, als würde ihm nach langer Wanderung durch Qualen und Gluten ein Labetrunk gereicht. Er trank und trank –

Von den Reliefs sich abwendend, sah er sich plötzlich vor einer Bildsäule, deren Anblick sein Herz traf.

Es war die Statue des Pompejus. Sie hatte in der Curia Pompeji gestanden und sollte das Marmorbild sein, zu dessen Füßen Cäsar, von mehr als zwanzig Dolchstichen durchbohrt, sterbend niedergesunken war. Wie hatten doch Cäsars letzte Worte gelautet, als er zuletzt noch den Dolchstoß des Mannes empfing, des einen, den er geliebt, an den er geglaubt hatte?

»Auch du, mein Sohn Brutus!«

Und Cäsar verhüllte sein Haupt, sank nieder, starb ...

Ja, Brutus, auch du! Auch du, Italien!

Nach Jahrhunderten noch würden diese Worte durch deutsche Herzen hallen mit einem Ton, dem Schmerzenslaut gleich, mit welchem Cäsar unter der Bildsäule des Pompejus seinen Geist aufgab, durch den Dolchstoß des einen tödlicher getroffen als von den Todeswunden der andern:

Brutus, auch du!

Blutüberströmt wurde Rudolf Müller zurück in sein Haus gebracht. Der von der Raserei des Hasses besessene Pöbel hatte den Deutschen auf dem Heimweg umzingelt und gestellt; hatte ihm das Eiserne Kreuz abgerissen; hatte ihn, als er das Kreuz auf seiner Brust wie ein Jüngling verteidigte, zu Boden geworfen, hätte ihn am liebsten gleich einem Missetäter gelyncht.

Er lebte, erholte sich sogar wieder; aber mit dem Manne war es von Stund' an vorbei.


Pfingsten!

»Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen –« Für Deutschland kam es mit neuen Strömen vergossenen Blutes; mit neuen Scharen von Toten und Verwundeten, von Verstümmelten und Hinsiechenden, letztere in einer häufig barbarischen Gefangenschaft. Das lieblichste der Feste kam für die jählings überfallenen Staaten mit neuem Grauen und Jammer; aber auch mit neuer Größe und unsterblicher Heldenherrlichkeit. Für die Bundesgenossen Deutschlands und Österreich-Ungarns dagegen kam das Fest der Ausgießung des heiligen Geistes über die Seelen der christlichen Menschheit im Gefolge von Treubruch, Verrat und unsterblicher Schande. Alle Blüten Roms konnten die Gruft nicht füllen, in die Italien im Frühling dieses Jahres seine selbst gemordete Ehre und Würde begrub; und kein »Maienwunder« würde dem eklen Leichnam ein Ostern bringen: Italiens Ehre und Würde waren tot, und tot blieben die reinen Gewalten, ohne die ein Staat und ein Volk keine Zukunft besitzt...

»Filomena!«

»Herr! Mein guter armer Herr!«

»Ich muß reisen. Morgen schon!«

»Fort aus Rom?«

»Fort!«

»Fort aus Italien? Sie fort aus Italien? Das können Sie gar nicht.«

»Ich muß es können ... Morgen geht für uns Deutsche der letzte Zug. Unser Botschafter ließ es mir mitteilen. Ich verlasse Rom zugleich mit ihm.«

»Herr, ach Herr, Sie sind ja doch krank!«

»Ich bin gesund, und ich reise.«

»Lassen Sie mich nicht zurück; lassen Sie mich nicht allein; nehmen Sie mich mit. Ich bitte Sie, lieber Herr!«

»Gute Filomena, ich kann nicht.«

»Wer soll Ihnen denn in Deutschland die Makkaroni kochen? Und den Risotto? Herr, lieber Herr, denken Sie doch an die Makkaroni und den Risotto!«

»Italien wird seinen Bundesgenossen den Krieg erklären. Als Italienerin mußt du in deinem Vaterland bleiben.«

»Und wenn die Deutschen mich schimpfen und schlagen sollten, wie die Römer Sie beschimpften und schlugen – Herr, lieber Herr, nehmen Sie Ihre alte Filomena mit, Sie gehört ja doch nun einmal zur Familie.«

»Du mußt hier bleiben, um unser Haus zu hüten.«

»Unser Haus? Es bleibt also unser Haus?«

»Freilich!«

»Und ich soll es hüten?«

»Wer anders als du?« »Also kommen Sie zurück in unser Haus?«

»Aber ja doch!«

»Sie und das liebe gute Fräulein? Auch die Romana? Was für ein schlechtes Geschöpf ich bin! Madonna! O Madonna!«

Name Filomena brach in ein Wehgeheul aus ...

Nachdem die Schuldbewußte unter den Tröstungen ihres Herrn sich notdürftig erholt hatte, kleidete sich der Professor an. Er wollte ausgehen.

»Ausgehen wollen Sie?«

»Es ist Pfingstsonntag.«

»Sie können ja kaum auf den Füßen stehen.«

»Meinetwegen also ausfahren. Du kannst mir einen Wagen besorgen.«

»Herr, lieber Herr!«

»In unsrer Kirche auf dem Kapitol wird die Pfingstpredigt gehalten. Es wird der letzte deutsche protestantische Gottesdienst sein; der allerletzte auf dem Kapitol und auch wohl der allerletzte in Rom – für lange Zeit wenigstens.«

»Sie wollen ja doch wiederkommen?«

»Ich will wiederkommen; denn ich will bei der Cestiuspyramide begraben werden ... Geh also und hole den Wagen.«

»Ich fahre mit Ihnen!«

»Es geschieht mir nichts. Jetzt nicht mehr.«

»Ich lasse Sie nicht allein. Wie könnte ich Ihrer Schwester und Ihrer Tochter je wieder vor Augen kommen, wenn ich Sie jetzt auch nur für einen Augenblick allein ließe?«

»Also begleite mich.«

Rudolf Müller fuhr auf das Kapitol, an seiner Seite Filomena. Sein Professorenrock war bei dem Überfall des Pöbels zerfetzt, das Eiserne Kreuz ihm von der Brust gerissen, in den Schmutz der Gasse geworfen und zertreten worden. Also mußte er den letzten Pfingstsonntag in Rom im Mantel und ohne sein Ehrenzeichen feiern. Auch heute wieder Truppen, Geschrei und Gejohle; auch heute wieder grell bunte Riesenplakate, die den kriegs- und beutegierigen Pöbel zur Versammlung beriefen: vormittags vor dem Palast der Konservatoren auf dem Kapitol, nachmittags zu einem patriotischen Blumenkorso in der Villa Borghese: »ein Trikolorenfest für die Krieger im Felde«: für die Krieger Frankreichs und Englands, Rußlands und Serbiens! An hohen Stangen prangten marktschreierische Demonstrationen für den Sieg der »Kulturvölker Europas« über die Barbaren. Das Getöse wurde vermehrt durch wütendes Evvivageschrei. Leben sollte Salandra, Sonnino und Cadorna; leben sollten der wortbrüchige König und die ränkevolle Königin; leben sollte Italiens Dichterheros: »Evviva! Evviva!«

Nieder mit Österreich-Ungarn; nieder mit Deutschland; nieder mit dem Friedensfreund Giolitti!

Er sollte gehängt werden!

Gehängt werden an den ersten besten Laternenpfahl der Mann, der Italien bewahren wollte vor Unglück; bewahren vor Treubruch, Verrat und Schande. Diese war seit jenem historischen Pfingstsonntage Italiens Schicksal geworden.

»Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in der Not, die uns getroffen hat.«

Sechsundvierzigster Psalm –

Pastor Schubert predigte seiner Gemeinde zum letztenmal auf dem Kapitol, welches Deutschlands Botschaft trug, an der Stätte des Jupitertempels.

Klein war die Gemeinde der Deutschen geworden. Sie bestand aus den letzten, die noch geblieben waren – die am nächsten Tage scheiden sollten. Diese letzten konnten sagen, daß bei keiner Auslegung der göttlichen Worte die Herzen jemals so stolz, stark und hoffnungsfreudig geschlagen hatten. Bei den Deutschen war das Recht; also würde auch bei ihnen die Gerechtigkeit sein. Darum war in der Not, die Deutschland getroffen hatte, Gott der Deutschen Zuversicht, Stärke und Hilfe ...

Stolzen und starken Herzens verließ Rudolf Müller Kirche und Kapital. Kaum hatte er die ehrwürdige Stätte hinter sich, als ihn das Geheul des Gassenvolkes umtoste. Das Giornale d'Italia ließ ausschreien: um Mitternacht begänne der Krieg! Der Krieg mit Österreich-Ungarn! Es war gleich einer Kriegserklärung an Deutschland. Auch verließen Deutschlands Vertreter die Ewige Stadt, die den Pfingstsonntag des Jahres 1915 fortan als den Jahrestag von Italiens ewiger Schande begehen konnte, den Schandtag als Nationalfest feiernd ...

Bei Piazza Venezia konnte der Wagen des Professors nicht weitergelangen: Menschengewühl sperrte die Straße.

Sogenannte Studenten trugen auf ihren Schultern einen mit Rosen und Lorbeer Bekränzten den Weg zum Kapitel empor. Wo hatte Rudolf Müller diese phantastische Gestalt schon gesehen? Eine Gestalt war's, mehr einem Bühnenhelden als einem gekrönten Volksheros gleich.

Mit Mühe entsann er sich der Begegnung. Auf Tusculum war's gewesen, bei der Frühlingsfeier der Frascataner, in den Ruinen des Griechischen Theaters, damals bereits ein Komödiant, der die Ode Petrarcas deklamierte, heute wieder ein Komödiant, der einen zweiten Cola da Rienzi mimte; und –

Ekel, Ekel, Ekel!

Dem agierenden Poeten vorausziehend, als dessen Herolde, Amerigo Minardi und Orazio Petroni!

Das Kapitol hinauf wallte der Theaterzug.


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