Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Viertes Kapitel

Noch in seinen alten Tagen erhielt Professor Müller den ehrenden Auftrag, ein Gemälde der Villa Falconieri für den Deutschen Kaiser zu malen, dessen Eigentum das leuchtende Haus oberhalb der tusculanischen Weinstadt war. Er sollte Gast der Villa werden und siedelte daher für den Sommer mit Sack und Pack über, fort von Tante Minchen und Dame Filomena; aber auch fort von Enkel und Tochter, um die er im Herzen schwere Sorge trug. Seinem Einfluß gelang es, auch für Freund Heinz einen Aufenthalt in dem von Ölwäldern umschimmerten Landhause der Falconieri zu erwirken; aber Heinrich zauderte anzunehmen, so lockend eine Villeggiatur als Kaisergast im Albanergebirge auch war. Selbst seinem alten Freunde wollte er den Grund seiner Weigerung nicht nennen. Abgewandten Gesichts erkundigte er sich endlich mit stockender Stimme:

»Darf meine Frau mitkommen?«

»Ich erhielt nur für dich die Genehmigung ... Erinnere dich der Stunde am Zypressenteich und nimm an.«

»Ich kann nicht!«

»Deiner Frau wegen?«

»Sie würde in Rom zurückbleiben und –«

»Und?«

»Ich kann nicht!«

»Du kannst nicht los von ihr?«

»Nein!«

Schmerzlich ergriffen rief der Getreue aus:

»Dahin ist es gekommen!«

Aus bleichem Gesicht starrten den Alten zwei Augen an, in deren Blick des Mannes ganzes Schicksal, sein ganzer Jammer lag. Nach einer Weile stieß er mit klangloser Stimme hervor:

»Ich kann von ihr nicht los. Sie liebt mich nicht, haßt mich vielleicht und – Ich kann von ihr nicht los! Ich bin als Mensch und als Künstler verächtlich geworden und – Ich kann von ihr nicht los! Die Feierstunde dort oben unter den Zypressen trug ich in meiner Seele mit mir davon. Sie half mir nicht. Mir hilft nichts. Ich weiß, daß ich ein todkranker Mann bin. Aber ich darf nicht sterben; ich muß leben, ich muß leben, weil ich von ihr nicht loskommen will. Hörst du? Nicht will! Nicht etwa muß ich noch weiterleben, um große Werke zu schaffen. Große Werke? Worte, Worte! Wie hohl ihr Klang für mich ist. Einstmals; ja, einstmals – Aber jetzt. Nur sie – nur sie – nur sie! Das ganze Leben nur sie ... Du siehst mich traurig an. Weshalb trauerst du um mich? Der verlorene Mann, der vor dir steht, ist nicht mehr jener, den du Freund nanntest, den du liebtest, an dessen Genius du glaubtest. Der Genius eines Künstlers ist von der Gottheit erfüllt, und ich – Leidenschaft für ein schönes Weib; nichts weiter als das! Man muß es erlebt haben. Und selbst dann – Neulich sah ich im Quirinotheater Shakespeares Othello, gespielt von einer schlechten Truppe. Ein Schauspieler dritten Rangs, ein echter Komödiant, gab den Mohren. Seine Eifersucht, seine Wut, seine Rache, seine Mordgier und zuerst seine Liebe – Wie dieser Kulissenreißer, der als Othello ein großer Künstler war, seine Liebe ausdrücken konnte. Aufschreien hätte ich können vor Jammer um die Liebe des Mohren zu seinem süßen Weibe. Doch dann. In meiner Phantasie erwürgte ich sein süßes Weib zusammen mit ihm. Und dieses Weib war ihrem sinnlos eifersüchtigen Gatten treu; war unschuldig und rein wie eine Marienlilie, während mein Weib –«

»Heinrich! Heinrich!«

»Rufe ihn nur an. Du rufst ihn nicht mehr zurück. Nicht mehr zurück jenen Heinrich, den du einst hochhieltest. Jener Heinrich ist tot: ist totgeschlagen wie ein Hund von seiner Leidenschaft für ein schönes schändliches Weib.«

»Du hast recht, es ist furchtbar.«

Da warf sich der Junge dem Alten an die Brust, barg sein Gesicht an des Freundes Herz, stammelte:

»Verachten mich schon die andern, wie ich mich selbst verachte? Weist man schon mit Fingern auf mich? Verlacht und verhöhnt man mich schon? ›Das ist der Mann, der ein gottbegnadeter Künstler sein sollte, und der um eines schönen Weibes willen‹ – Sage mir's ... Nein, schweige!« Ich weiß ja. Im Othello sagt Cassio zu dem Schurken Jago: ›Guter Name! Guter Name! Guter Name! Ich habe meinen guten Namen verloren: habe das unsterbliche Teil von mir selbst verloren. Was übrig bleibt, ist tierisch.‹ Ist tierisch

Es war in des Professors oft recht schwerem Leben eine seiner schwersten Stunden. Was konnte es auch schwereres und zugleich Schmerzlicheres geben, als einen geliebten Menschen zugrunde gehen zu sehen und nicht helfen, nicht retten zu können. Nicht einmal ein Strohhalm ließ sich dem Ertrinkenden reichen. Ein Jammer war's, nicht auszudenken. Und dieser zugrunde Gehende war ein Künstler, der der Welt Bleibendes hätte geben können; etwas, das die Menschen aus der Tiefe des Erdenjammers hätte erheben können. Und wodurch ging er zugrunde? Heinrich Weber hatte recht: Schande war's und Schmach ...

Eine andere schwere Stunde brachte dem Professor die Trennung von seiner Tochter: Romanas Eheunglück konnte nicht länger verborgen bleiben. Dahin war es auch in dieser Ehe gekommen! Diese schmerzliche Tatsache war Dame Filomenas Rache. Denn das kam davon: von der Undankbarkeit! Hätten Amerigo und Romana Minardi sie, die Stifterin ihres »Glücks«, als guten Genius ins Haus genommen, wäre es nicht so geworden. Dame Filomena hätte alles gemacht, alles gerettet. Sie hätte keine deutsche Häuslichkeit, also keine deutsche Sentimentalität geduldet; hätte in Rom für den Römer die Wirtschaft geführt; hätte daneben ihren lieben Herrn Neffen straff am Zügel gehalten. Mit einem Wort: herrlich, wie anfangs alles gewesen, wäre unter ihrer Herrschaft alles geblieben. Nun hatte sie es: sie, Frau Romana Minardi, geborene Müller. Denn er; o er –

Er bezog die im Heiratskontrakt für ihn festgelegte Summe weiter, hatte sein Büro, hatte seit einiger Zeit seine Praxis, lebte sein Leben im Korso, im Klub, im Café Aragno und in gewissen Salons nach Gefallen. Seine Praxis! Etwas Dunkles und Geheimnisvolles war seit einiger Zeit in die Praxis des Herrn Advokaten Minardi gekommen. Ausländer, teils elegante, teils auffallend fragwürdige Gestalten, erschienen bei ihm, sprachen ein kümmerliches Italienisch, führten häufig einen Dolmetscher mit sich, verhandelten stundenlang bei verschlossenen Türen, brachten Geld, brachten viel Geld zu irgend einem dunkeln, geheimnisvollen Zweck.

Diese Männer, Klienten des jungen Advokaten, der alle Fähigkeit dafür besaß, es einmal ausnehmend weit zu bringen, sollten – so raunte man – Agenten fremder Staaten sein; und sie sollten – doch das wußte außer Herrn Minardi niemand. Das letztere war indessen nicht ganz richtig. Er hatte seit kurzem einen Sekretär, der es gleichfalls wußte. Diesen Sekretär mußte der Advokat haben, und es mußte eine für seine Stellung ganz besonders geeignete Persönlichkeit sein. Eine solche glaubte Herr Minardi gefunden zu haben, und zwar in einem Landsmann, einem wütenden Fanatiker, einem armen Fieberkranken und Hungernden, den er fest in der Hand hielt; denn der junge Mensch war vor einigen Jahren wegen Mordversuchs polizeilich verfolgt worden. Damals floh er in den sabinischen Buschwald, jetzt befand er sich wieder in Rom. Es bedurfte daher nur einer Anzeige, und – Mit einem Wort: der Mann war sicher.

Übrigens meldete er sich selbst bei dem Advokaten. Nachdem er lange Zeit dessen Büro umschlichen und dessen Klienten beobachtet, gab er sich selbst in die Hände seines mit Riesenschritten aufstrebenden Landsmanns aus Olevano, der ihn jede Stunde der Polizei ausliefern konnte; war es doch ein Mann, der seinen Weg zur Höhe empor über Leichen nahm, grausam, unerbittlich. Sollte der Sekretär also über gewisse Besuche und deren Absichten schwatzhaft sein, so –

Aber auch außer jener gemeinsamen Kenntnis von etwas Dunklem und Geheimnisvollem bestand zwischen Herrn und Diener ein Bindendes: der Haß. Der Diener war es gewesen, der an dem Felsenquell von Bellegra jenen Mordversuch tat, bei dem der Dolchstoß nicht tief genug saß; und der Herr war es, der des verhaßten Germanen junge Frau begehrenswert fand. Aber der Gatte stand Wache vor seinem Weibe. Deshalb haßte Herr Minardi den Mann, der Orazio Petronis Schwester seinen ehrlichen Namen gegeben. Überdies war es ein deutscher Name.

Weit hatte es der junge Advokat binnen kurzem gebracht. Nicht nur, daß er sein prächtig ausgestattetes Büro im Corso Vittorio Emanuele besaß, einen Sekretär hielt, seine sehr besondere Klientel hatte, im Café Aragno eine bekannte politische Persönlichkeit war, im Klub hohe Summen verspielte und gewann, als Freund verschiedener schöner Frauen galt – des trefflichen Virgilio Minardi entarteter Sohn wurde sogar in fremden Botschaften empfangen. Nicht nur in den Kanzleien, sondern auch in den Salons Englands, Frankreichs, Rußlands. Nur im Palazza Caffarelli fand der geschmeidige Herr keinen Zutritt. Man flüsterte sich sogar zu: er sei mit der Grobheit, die diesen Barbaren nun einmal zu eigen, hinausgewiesen worden, als er sich der Botschaft für gewisse Dienste angeboten hatte. Dasselbe war freilich auch Besitzern und Redakteuren großer römischer Blätter geschehen, als sie sich zum gleichen Zweck auf dem Kapitolinischen Hügel bei dem Botschafter Deutschlands eingefunden. Sie ließen sich abweisen, zuckten die Achseln, lächelten, begaben sich lächelnd zu den Vertretern anderer europäischer Großmächte, die sie nicht nur mit offenen Armen, sondern auch mit offenen Geldbeuteln empfingen. Den deutschen Hunnen aber war recht geschehen!

Auch Herr Minardi begab sich lächelnden Mundes zu den andern. Am angenehmsten waren ihm die Empfänge im Palazzo Farnese. Welch ein liebenswürdiger Herr war doch Monsieur Barrère! Und erst Madame Barrère! Wie ausgezeichnet verstand es das scharmante Paar, in dem königlichen Hause am Campo de Fiori zu residieren. Rom, das einst weltgebietende – was die Römer marktschreierisch als Reklame benutzten – huldigte dem Vertreter Frankreichs, lag dem schlauen Kuppler zu Füßen. Der Herr Franzose trat auf das einst weltgebietende Rom und auf das römische Volk; trat darauf so leise, weich und fast zärtlich, daß Rom durch den französischen Fußtritt sich sogar geschmeichelt fühlte. Nizza, das leuchtende, üppige, wollüstige, das an Frankreich abgetreten werden mußte, war vergessen. Wie Italien Frankreichs Mode, Kunst und Kultur sich verschwistert fühlte, ebenso inbrünstig sehnte es den Tag herbei, an dem es seine Blutsverwandtschaft mit der glorreichen Republik vor aller Welt proklamieren konnte. Monsieur Barrère tat das Seinige, Italiens Sehnsucht wachsen und wachsen zu machen, und er tat es mit Meisterschaft. Schritt für Schritt führte er Italien den Weg, der Staat und Volk auf den Gipfel aller Größe bringen sollte. Eine Legion geschickter Agenten war dem Herrscher, der von seines Daches Zinnen, der Loggia des Palazzo Farnese, auf Rom herabsah, bei dem großen Werke behilflich. Ein Gewebe satanischer Ränke spann sich von dem Gebälk Michelangelos aus, und das nicht nur über Rom und Italien, sondern weiter, weiter, über Länder und Meere, sich vereinigend mit andern Geweben, aus allen Teilen Europas und darüber hinaus. Heerscharen von Spinnen lauerten in dem grauen Netzwerk. Jedes von diesen Insekten war erfüllt von dem Gift der Tarantel, jedes bereit, seinen tödlichen Saft ins Herz seiner Feinde zu spritzen. Und diese Feinde waren Italiens Bundesgenossen, die an Italiens Treue glaubten: immer noch glaubten, trotz allem und allem. Sie verdienten in ihrem frommen Kinderglauben nichts Besseres, als diesem Teufelswerk zu erliegen, welches unter ihren Augen sich vorbereitete. Aber sie wollten nicht sehen ...

Da es Herrn Minardi nicht gelang, in die deutsche Botschaft einzudringen, so führte er eines Tages mit seinem Sekretär – als Landsmann und als Untergebenen duzte er ihn – folgendes Gespräch:

»Ich bedarf einer Person, die uns im Palazzo Caffarelli Dienste leistet.«

»Die spioniert?«

»Du wirst diese Person beschaffen!«

»Es wird schwer sein.«

»Es muß sein.«

»Wenn es sein muß –«

»Du hörst es.«

»Mann oder Weib?«

»Ganz gleich, ob Mann oder Weib. Ein Weib wäre vorzuziehen.«

»Das wäre es allerdings.«

»Kannst du ein derartiges Wesen verschaffen?«

»Ich denke wohl.«

»Sie muß jung sein.«

»Sie ist jung.«

»Und hübsch.«

»Sie ist reizend, eine Psyche.«

»Vortrefflich. Und sicher?«

»Wie ich selbst.«

»Sie muß die Geliebte eines der Lakaien des Herrn Botschafters werden.«

»Seine Geliebte!«

»Auch Botschafter sind für ihre Kammerdiener keine Helden. Vielleicht, daß die betreffende Person – Du verstehst?« »Ich verstehe.«

»Und –«

»Es wird geschehen.«

»Brauchst du Geld?«

»Das Mädchen muß gut gekleidet sein.«

»Laß die Person meinetwegen als Dame auftreten.«

»Sehr wohl ... Als Dame.«

»Sie wird dir gehorsam sein?«

»Sie wird mir in allem gehorchen.«

»Du sagst das in solchem eigentümlichen Ton –«

»Es ist nichts Eigentümliches dabei.«

»In allem wird die Person dir gehorchen?«

»In allem.«

»Es geschieht für das Vaterland.«

Und Herr Minardi lachte. Der andere aber – Für sein Vaterland hatte Orazio Petroni seine eigene Mutter zur Dirne werden lassen ...

Sie gehorchte dem Manne, der sie, seinem Schwur getreu, nicht berührt hatte; dem Manne, den sie lieben gelernt hatte, so heiß, wie ein junges leidenschaftliches Weib lieben kann. Aber sie gehorchte ihm. Er forderte von ihr das Furchtbare für das Vaterland, dem er selbst nicht nur sein Leben, sondern auch seine Würde, Ehre, Selbstachtung geopfert hätte: er, der ein stolzer Mensch war, wie er in all dem Schmutz seiner Zeit ein reiner Mensch geblieben war. Gehorsam legte sie, die noch immer ihre Kindergestalt und ihr Kindergesicht hatte, das Kleid der Dame an, ließ sich sogar mit einigem Schmuck behängen. So führte er das Opfer – ein Opfer auf dem Altar des Vaterlands! – einem Liebhaber zu, selber den Kuppler machend. Da geschah es, daß es plötzlich über ihn kam mit überwältigender Macht. Als er das Kind in den Armen eines andern wußte – Was ging da plötzlich mit ihm vor? Er, der vom Weibe nichts wußte, nichts wissen wollte, mußte sie sich vorstellen in den Armen des andern, dessen Küsse erduldend. Wie Raserei überfiel es ihn. Er lag auf seinem Lager, schlug um sich wie im Krampf, biß sich die Lippen blutig, um das Stöhnen zu ersticken, um ihren Namen nicht aufzuschreien mit einem Laut wie ein wildes Tier.

Ja, er liebte sie! Er liebte die schändlich Verkuppelte, die Verkaufte.

Im Morgengrauen kam sie nach Hause geschlichen. Todblassen Gesichts trat sie bei ihm ein. Beide sahen sich an und – beide schwiegen. Dann sagte sie, und sie bemühte sich, es ohne Ausbruch von Jammer und Verzweiflung zu sagen; bemühte sich, ihren zuckenden Lippen ein mattes Lächeln abzuzwingen – Sie sagte ihm, daß es wohl nach seinem Willen werden würde; daß sie wohl manches würde erlauschen können, was dem Vaterland dienen mochte. Sie sagte ihm lächelnd, daß sie zur Spionin geworden und daß –

Ja, und daß sie von jenem andern leidenschaftlich geliebt wurde, mit der bestialischen Lüsternheit des Barbaren von ihm begehrt.

Lächelnd sagte es die Geschändete dem Geliebten.


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