Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Sechstes Kapitel

Jeden frühen Morgen erwachte Sor Rodolfo mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit gegen gütige Götter, die ihm vergönnten, noch einmal einen Sommer in seinen geliebten Sabinerbergen zu verleben. Denn für ein Geschenk hielt es der greise Künstler, noch als alter Mann das Land der Römer mit den Augen sehen und seine Herrlichkeit mit dem Herzen fühlen zu können. Wie leuchteten die Felsenberge im ersten Tagesglanz! Jeder Umriß war von vollendeter Schönheit, und die Wohnstätten hatten sich in unbewußtem Stilgefühl der Natur angepaßt: dem kahlen graubräunlichen Gestein der Gipfel, dem graugrünen Laub der Steineichen, dem matten Silber der Ölbäume. Einen Gegensatz zu dem strahlenden Tageslicht bildeten die schwärzlichen Schluchten, die bläulichen Dünste der Fernen. Es war Italien, das sommerliche Italien in seiner ganzen Herrlichkeit.

Als echter Germane frühstückte der Alte im Freien. Unter den hochstämmigen Edelkastanien deckte Romana den Tisch, und Tante Minchen trug eigenhändig das Frühmahl auf: statt des »melancholischen« Kaffees den mit allerlei scharfen Gewürzen und aromatischen Kräutern behandelten stark geräucherten Schinken, dazu die fast schwarzblauen Feigen, frisch vom Baum gepflückt, überreif und aus purpurfarbenem Inneren goldige Säfte quellen lassend, ein Mahl, dagegen Nektar und Ambrosia armselige Genüsse gewesen sein mußten.

Die drei saßen noch unter den schattenden Gipfeln, als ein Bewohner Olevanos des Weges daherkam, ein Landmann in weißer Hose und einer Jacke aus grobem Linnen. Im breiten Ledergurt steckte das landesübliche sichelförmige Messer und über der Schulter hing am Riemen eine winzige Tonne, gefüllt mit einem dünnen säuerlichen Wein, dem Labetrunk des römischen Landmanns während der Sommergluten. In einem buntgewürfelten Tuch, dem »fazzoleto«, befand sich das Mittagsmahl, ein großes Stück Brot. Die Zuspeisen: Salat, Zwiebel und junge Artischocken würde der Sabiner seinem eigenen Acker entnehmen. Er war ein Mann in den Vierzigern, eine gedrungene sehnige Gestalt und ein Kopf wie aus Erz gegossen. Der Sindakus von Olevano war's, der seine Vigna und Oliveta bestellte wie jeder andere auch. Heute begab er sich auf seinen hochgelegenen Weinberg, wo bereits eine Schar junger Mädchen mit der frühlichen Arbeit des Abstreifens der Rebenblätter, der »scacciatura», begonnen hatte, um die schwellenden Trauben möglichst der reifenden Sonne auszusetzen.

Schon von weitem rief der Professor dem Bürgermeister seinen Morgengruß zu und ging dem guten Bekannten entgegen. Die beiden schüttelten sich die Hände, und Sor Virgilio begann das Gespräch, wie dortzulande jede Unterhaltung begonnen wird:

»Wie geht's, Professor?«

»Danke, vortrefflich! Bin ich doch wieder bei Euch, wieder in Olevano. Und wiederum habt Ihr mir zum Willkomm ein köstliches Weinchen geschickt. Heute abend stelle ich mich bei Euch ein, um mich auch bei Eurer Hausfrau, meiner werten Sora Pia, bestens zu bedanken. Euch und den Euern geht es doch gut?«

»So, so. Wir haben Krieg.«

»Italien wollte Krieg haben.«

»Nicht das Volk.«

»Immerhin führt den Krieg das Volk.«

»Die Regierung mit des Volkes Blut.«

Sor Rodolfo rief aus;

»Das Volk läßt diesen ungerechtesten aller Kriege durch seiner Sühne Blut führen!«

»Sie sagen ja wohl, Italien müsse fremde Länder erobern.«

»In Afrika drüben?«

»Sie sagen ja wohl, auch Afrika hatte einstmals uns Römern gehört und was uns einstmals gehört, müßten wir wiederhaben.«

Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, bemerkte der Professor:

»Euer Sohn braucht nicht zu dienen?«

»Da er unser einziger ist, so braucht er es nicht.«

»Was treibt der feine junge Herr?«

Der Vater zuckte schweigend die Achseln. Unwillkürlich meinte Sor Rodolfo:

»Euer Sohn sollte Euch eine tüchtige Frau ins Haus bringen.«

»So ist's, eine tüchtige Frau.«

»Denn eigentlich ist der hübsche Bengel ein Prachtjunge, Ihn nur anzusehen, macht Freude.«

»Ihr seid sehr gütig. Das seid Ihr immer für uns.«

»Weil ich unter Euch immer glücklich bin. Ich kann nicht sagen, wie sehr glücklich.«

»Wir fühlen es und ehren Euch deswegen.«

»Lieben sollt Ihr mich, das ist mehr als ehren.«

»Ihr seid ein großer Künstler.«

»Ein sehr kleiner, glaubt mir's nur.«

»Eure Bilder haben Olevano berühmt gemacht.«

»Ach, Sor Virgilio, berühmt machten Olevano andere und Größere als ich.«

»Immerhin sind wir stolz auf Euch.«

»Danke ... Setzt Euch einen Augenblick zu uns. Meine Damen möchten Euch begrüßen.«

Ein Edelmann hätte den beiden Frauen nicht ritterlicher begegnen können, als dieser schlichte Mann, ein Bauer der wilden Sabina, es tat. Dame Filomena kam hinzu, und die beiden Verwandten tauschten die üblichen Höflichkeiten aus, auf deren sprachliche Formvollendung der Professor mit Entzücken lauschte. Denn – Wie dieses Volk sich ausdrückte! Im lieben deutschen Vaterland stand eine derartige Ausdrucksweise selbst dem Gebildeten nicht zu Gebot; und in diesem wunderbaren Lande redete in solchen geradezu klassischen Wendungen das Volk.

Da der Sindakus seinen Weg ohne weiteren Aufenthalt fortsetzen wollte, gab ihm der Professor das Geleit. Dem alten Herrn ging ein Wort des tüchtigen Mannes nicht aus dem Sinn: »mit des Volkes Blut!« Mit seines Volkes blühendem Leben versuchte Italien in fernen fremden Ländern Provinzen zu erobern, die einstmals dem weltgebietenden Rom Untertan gewesen. Einstmals! Dabei war Italiens Volk nicht durchdrungen von Begeisterung für diesen Krieg, nicht erfüllt vom Glauben an die Gerechtigkeit seiner Sache. Schon einmal hatte der Deutsche zu seinem Kummer das nämliche gewahren müssen, und das erst vor wenigen Jahren. Damals kämpfte Italien in Abessinien, und die Schlacht bei Adua ward geschlagen. Damals breitete das Blut des italienischen Volkes einen Purpurmantel über die rote Wüste; damals blieben des Volkes von wilden Horden geschlachtete Söhne durch Wochen und Wochen auf dem grauenvollen Totenfelde liegen, den Geiern zum Fraß. Ein General, ein Feldherr und Führer, hatte in schmachvoller Feigheit die Flucht ergriffen, und Italiens Volk raunte sich zu: im römischen Königspalast wären, gleichfalls für die Flucht, bereits die Koffer gepackt gewesen, während man selbst im Generalstabe nicht gewußt hätte, wo dieses furchtbare Schlachtgefilde von Adua eigentlich lag.

Nein! Nicht mit des Volkes Willen, wohl aber mit des Volkes Blut kämpfte Italien seine Kriege, nicht gerade zu Italiens Ehre und Ruhm! Es war dies eine Erkenntnis, die selbst dem Fremden, dem Deutschen, der Italiens Geschick wie das seines eigenen Vaterlandes empfand, zu schwerem Leidwesen gereichte.

Ernsthaft besprachen sich die alten Freunde. Der Sindakus sagte:

»Wir Italiener sind gute Bürger. Gern geben wir dem Staate, was des Staates ist, sobald wir die Gewißheit haben, es sei zu seinem und unserem Besten. Aber jetzt haben wir nicht diese Gewißheit. Statt Vertrauen haben wir Mißtrauen. Da sind – um nur ein Beispiel zu nennen – unsre Schulen. Besucht im Sabinergebirge unsre Schulen, betrachtet unsre Lehrer, unsre Lehrerinnen. Es ist ein Jammer! Zählt die Söhne und Töchter unsres Volkes, die lesen und schreiben können; sie sind leicht zu zählen. Die Lehrer, die unsre Jugend unterrichten, sind unter den armseligen Gestalten unsres Volks fast die armseligsten. Viele von ihnen hungern. Und gerade in unsre entlegenen Ortschaften sollte der Staat tüchtige Lehrkräfte senden. Zählt die Scharen der jährlich von Italien Auswandernden; sie sind schwer zu zählen. Geht nach Sardinien, nach Apulien, nach Kalabrien; geht in die Abruzzen oder kommt hierher zu uns. Geht an die Meeresküsten, in die Gebiete der Sümpfe und der Malaria. Geht und seht selbst! Und von allen diesen Bewohnern nimmt der Staat Steuern, höhere, als Sklavenarbeit aufbringen könnte. Aber alles steht bei uns herrlich – auf dem Papier. Deswegen müssen wir Kriege haben, weil bei uns vieles von Übel ist. Um das Volk darüber hinwegzutäuschen, müssen wir Kriege haben; muß das Volk seiner Sühne Leben hingeben und deren Blut in Strömen fließen lassen: deswegen, Sor Rodolfo, der Ihr ein Freund unsres Volkes seid und Italien liebt.«

»Deswegen!« wiederholte der Künstler unwillkürlich und fühlte seine Liebe zu Italien als Schmerz...

Schweigend schritten die beiden auf schmalem Pfade weiter. Dieser führte bald zwischen von dem Gold der Ginsterblüte bedeckten Klippen dahin, bald unter dem Silber der Ölbäume steil empor. Als sie höher kamen, hörten sie vielstimmigen Gesang. Es waren die Arbeiterinnen in den Rebenfeldern. Das heilbringende Vitriol hatte die Weinstöcke mit metallisch glänzendem Blau überzogen, daraus die roten Kopftücher der Mädchen grell aufleuchteten. In allen Gefilden ringsum befanden sich die hübschen Kinder beim Pflücken, und eine Genossenschaft sang der andern zu, Frage und Antwort. Die Strophen waren improvisiert, desgleichen die Melodieen. Doch klangen die Weisen eintönig und schwermütig, obgleich die Sängerinnen jung und fröhlich waren. In der großen Natur dieser Landschaft lag etwas, das selbst der Lebensfreude der Jugend einen Zug von Trauer verlieh.

Bei seiner Vigna angelangt, unterbrach Sor Virgilio das Schweigen.

In anderem Ton als bisher sagte er:

»Meine Base Filomena, die Euch und Eurem Hause seit einem Menschenalter eine treue Dienerin ist, teilte mir mit, diesen Sommer würden es fünfzig Jahre, daß Ihr zum ersten Male nach Olevano kamt.«

»Fünfzig Jahre. Ich bin ein alter Mann.«

»Und jeden Sommer kehrtet Ihr seitdem zu uns zurück?«

»Mit Ausnahme meiner zwei Kriegsjahre jeden Sommer. Fast fünfzig Sommer reinsten Glücks in Euerm Lande bedeutet für mich diese Zeit. Auch ebenso viele Jahre ehrlicher Arbeit. Welche Fülle von Schönheit habe ich bei Euch genossen! Hundertfach mehr, als sonst einem Sterblichen zuteil wird.«

Das Herz des Greises wurde bei der Erinnerung an jene vielen Jahre der Arbeit und des Glücks weit und warm. Ihm war zumut, als müßte er seine Hände aufheben zu gütigen Göttern, die seine Schritte diesen Pfad geführt hatten; sie aufheben zum Dankgebet an die Gottheit,


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