Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Fünftes Kapitel

Eine Sommerphantasie war's, ein Sommernachtstraum unter dem Sternenhimmel des Südens.

Alle die zur Anbetung der dreieinigen Gottheit gekommen waren, übernachteten hoch oben in der Öde. Die jungen Burschen hatten Holz mitgebracht, Äste des knorrigen Ölbaums mit silbernem Blattwerk, Zweige wilder Myrten, bedeckt mit schimmernden Blüten, gelbgoldige Ginsterstauden. Rings um das ehrwürdige Heiligtum loderten die Feuer. Bei den knisternden Bränden nächteten, in Familien und Genossenschaften geteilt, die Pilger. Der flackernde Schein fiel auf Gestalten, wie aus einer um Jahrhunderte zurückliegenden Welt. Eine jede könnte dem Künstler als Modell dienen.

Sie schmausten und tranken. Aus den strohumflochtenen Foglietten floß der heimatliche Rebensaft in der Farbe des Bernsteins und des Scharlachs. Aber nirgends wurde die Luft laut, und das dumpfe Psalmieren währte beinahe die ganze Nacht. Immer wieder begannen die Ältesten mit Gebet und Gesang; immer wieder fiel der Chor ein. Eine kraftvolle Frauenstimme schwebte über all den Stimmen der einen Schar, einer einsamen Seele gleich, die sich selbst ausschließt von der Gemeinschaft des Menschen.

Ob es wohl die Stimme jener einsam Schreitenden war?

Bei dieser stummen Frage erwachte Heinrichs Künstlerphantasie von neuem. Um eine solche Phantasie ist es ein wunderlich Ding: wovon sie gepackt wird, davon kommt sie nicht wieder los. Das ergreift von ihr Besitz und ruht nicht eher, als bis es erschaffen ward, bis es Gestalt annahm, eine geheimnisvolle Macht, die den Künstler zwingt, seinen innerlichen Gebilden Form, Seele, Leben zu geben...

Heinrich fühlte sich durch die Fülle der Eindrücke erregt. Beständig sah er im Geist die vor ihm herschreitende hohe Frauengestalt, lauschte er auf die über allen andern Stimmen schwebende geheimnisvolle Stimme. Einmal – es geschah vor Jahren in Rom – hatte er geträumt: in einer Felsenöde schreite das Schicksal in Gestalt einer grau Verhüllten Frau vor ihm her. Er hatte versucht, sie zu erreichen. Aber sie blieb über ihm, vor ihm. Er ging schneller und schneller. Aber er erreichte sie nicht. Schließlich schrie er der gelassen vor ihm Herschreitenden zu: »Und wenn du mein Unglück wärst, ich will dich erreichen! Hörst du, ich will!« Plötzlich blieb die Frau stehen, und er stürzte auf sie zu. Sie schien leblos, ein Phantom, ein Schemen. Es überlief ihn. Trotzdem breitete er nach dem Spukbilde die Arme aus. Da entschleierte sie sich langsam, langsam. Er sah ein Antlitz von einer Schönheit, die nicht von dieser Welt war. Er taumelte, raffte sich auf, wollte die graue Gestalt an sich reißen, konnte plötzlich kein Glied rühren, fühlte sich entgeistert, entseelt. Mit einem Schrei erwachte er.

Seltsam! Nie wieder hatte er jenes weit zurückliegenden Traumes gedacht; hatte völlig vergessen, was ihm damals wie eine Vision erschienen war. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, und das mit solcher Deutlichkeit, als sei es ein Traum der letzten Nacht gewesen. Gerade wie damals packte ihn auch jetzt wieder die Empfindung: vor dir her schreitet dein Schicksal, und seinem Schicksal kann der Mensch nicht entgehen.

Wer mochte die Sängerin sein?

Irgend ein Weib aus einem Felsennest der Abruzzen oder dem Volskischen, den Sabinerbergen.

Wo mochte sie sich gegenwärtig befinden? War sie auch jetzt noch einsam? Gewiß lagerte sie mit den Genossinnen an einem der Feuer. Immerhin blieb es für den Künstler ein seltsames Erlebnis; denn jener vor ihm Herschreitenden gedenkend, stand die Komposition, die er seit langem in nebelhaften Umrissen in sich trug, plötzlich in scharfen Linien vor seinem inneren Gesicht. Plötzlich kam es über ihn, einer Eingebung gleich. Er sah einen Mann und ein Weib. Beide waren jung, beide waren vollkommen geschaffen. Das Weib stand vor ihm in unverhüllter göttlicher Schönheit, der Mann dagegen in der Gestalt, wie die Antike den Germanen, den »Barbaren«, als Typus gebildet. Mit dem Ausdruck höchsten Entzückens, einer Inbrunst, die Anbetung war, huldigte der Jüngling der Hohen und Herrlichen.

Deutschland huldigt Italien!

Italien nahm die Huldigung Deutschlands entgegen wie eine Göttin sich solche gefallen läßt. Sie schien dem Jüngling sich zuzuneigen; schien für den Hingesunkenen einen Blick, ein Lächeln zu haben; schien ihn emporziehen zu wollen. Die bloße Erwartung ihres Blicks und Lächelns verklärte das emporgehobene Antlitz des Mannes, der ein Barbar sein sollte, und der für Italien ganz Bewunderung, ganz Begeisterung, ganz – Liebe war.

Auch ganz Treue, ganz Glauben...

Heinrich verbrachte die Nacht, in seine Decke gehüllt, schlaflos und im Geist die zwei Gestalten schauend, deren Schöpfer er sein wollte. Er lag mit offenen Augen und sah über den Gipfeln die Sterne emporsteigen, als sprängen die himmlischen Welten aus dem wilden Gestein. Alsdann zogen sie ihre bestimmten Bahnen, um sie in Ewigkeit weiterzuziehen...

Allmählich verloschen die Feuer, verstummten Gebet und Gesang. Nur bisweilen flammte es an einer der Lagerstellen mit zuckendem Schein noch einmal auf, und eine schlaftrunkene Stimme rief einen Namen, murmelte ein Gebet, sang die Strophe eines Pilgerliedes wie in tiefem Traum.

Da war sie wieder!

Sie schritt durch die Reihen der Wallfahrer dem Heiligtum der Dreifaltigkeit zu. Kam sie an einem der noch glimmenden Feuer vorüber, so glitt der Schein blitzartig über sie hin.

Heinrich sah sie kommen, fuhr in die Höhe, grüßte sie heißen Blicks, als schaute er die Verkörperung seines inneren Gesichts: jener allegorischen Frauengestalt, der er den Namen »Italien« gegeben hatte. Er sah sie die Vorhalle des Sanktuariums betreten; sah sie in dieses eingehen. Einem unwiderstehlichen Drange folgend, erhob er sich nach einer Weile und schlich der Pilgerin nach, die in der Einsamkeit der Nacht beten wollte, vielleicht büßen mußte. Für welche Schuld?

Während er darüber noch nachsann, überkam ihn ein Gefühl wie Eifersucht auf ein Liebesglück, das die Unbekannte, deren Gesicht er nicht einmal gesehen, einem Manne gespendet hatte und das von diesem genossen worden war. Wahrlich! Geheimnisvolle Gewalten zwangen den Menschen zum Menschen: mystische Mächte waren geschäftig, seinem Leben das Gewand zu weben, und was ihm als Zufall erschien, war eben das Schicksal...

Der junge Künstler, dem solche Gedanken durch den Kopf gingen, stand in der Vorhalle der Wallfahrtskirche. Was wollte er hier? Der Fremden in das Heiligtum folgen? Sie erfüllte ein Gelöbnis und er wäre imstande gewesen, sie in ihrem Gebet, ihrer Buße zu belauschen? Überhaupt – was hatte sie mit ihm und jenem geheimnisvollen Etwas zu schaffen, das er pathetisch »Schicksal« nannte, dem niemand entgehen konnte. Also auch nicht er selbst. Aber besaß nicht der Mensch Willen und Kraft, sein Schicksal selber zu schmieden? Vollends, wenn es sich in Gestalt eines Weibes verkörperte? Heinrich hatte bisher genug Gelegenheit gehabt, solchem Geschick zu erliegen, war jedoch stets Herr seiner selbst geblieben, hatte Frauengunst heißer genossen als gute Freunde ihm wünschten, wollte auch fernerhin genießen; wollte leben, lieben, und das ohne jede gefühlvolle Anwandlung. Wie also kam er plötzlich zu solcher Einbildung, die der bloße Anblick dieser Fremden und die Erinnerung an einen vor langem gehabten Traum in ihm weckten?

Aber erwarten wollte er sie, ihr ins Gesicht sehen, sie anreden. Doch als sie endlich kam – Er trat ihr in den Weg, sprach kein Wort, starrte sie an. Dann begann er nach landesüblicher Art sie mit dem vertraulichen Du anredend:

»Ich wartete hier draußen auf dich.«

»Auf mich, Herr?«

Sie hatte die Stimme einer Römerin, jeglichen Wohllauts bar. Ihre Mienen blieben regungslos gleich denen eines Steinbilds und hätten doch Verwunderung ausdrücken müssen darüber, daß dieser Unbekannte mitten in der Nacht auf sie gewartet hatte, und das an dieser heiligen Stätte.

War sie eigentlich schön? ... Schön? Sie war mehr als nur schön. Ihre Züge hatten etwas von der strengen Erhabenheit der Antike, und ihr Mund, ihre Augen – Heinrich hatte diesen Mund und diese Augen nicht schildern, beides nur nachschaffen können in Marmor. Marmor vom Berge Pentelikon hätte es sein müssen!

Wie unter einem Zwange stehend, blickte er auf diesen Mund. Ein Mund war's, der Worte sagen konnte, die wie Dolche trafen; ein Mund war's, der Küsse geben konnte, die einen Mann um den Verstand brachten.

Nach einer Weile stummen Anstarrens stieß er hervor:

»Was tust du eigentlich hier oben?«

Eine müßige, eine ganz unsinnige Frage! Sie war ihm entschlüpft, weil er anderes nicht zu sagen wußte; weil es ihn verlegen machte, ihre mächtigen flammenden Augen auf sich gerichtet zu fühlen und er sich bei der Vorstellung ertappte, welche Küsse dieser Mund geben konnte.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach er in abgerissenen Worten hastig weiter:

»Du kamst jedenfalls aus dem nämlichen Grunde hierher wie alle andern. Aber weshalb wähltest du gerade diesen Gnadenort? Zu irgend einem Marienheiligtum hättest du pilgern sollen. Entweder zur schwarzen Madonna von Genazzano oder zu der göttlichen Liebe bei Albano, Sie hätte dir sicher mehr geholfen.«

»Mir mehr geholfen? ... Worin?«

»Der schwarzen Madonna hättest du eine Kerze und der himmlischen Frau von der göttlichen Liebe ein Wachsherz opfern können. Die beiden hätten sich dir sicher gnädig erwiesen in deinem Leid, das doch wohl Liebesleid ist. Denn welch anderes Leid solltest du haben?«

Sie sprach ihm nach:

»Welch anderes Leid sollte ich haben?«

»Nun ja.«

»Ein Liebesleid? Deshalb sollte ich hier heraufgekommen sein?«

Und noch einmal im Tone höchster Verachtung:

»Deshalb!«

»Du bist jung und schön!«

Er wollte es nicht sagen und ärgerte sich, weil er es gesagt hatte. Doch schenkte sie seinen bewundernden Worten nicht die mindeste Beachtung.

»Wie heißest du eigentlich?«

»Ich heiße Lavinia.«

»Das ist ein großartiger Name! Eine römische Kaiserin könnte so geheißen haben ... Aus welchem Dorf bist du?«

»Aus Bellegra dort oben.«

»Das ist ein wilder Ort!«

»Ihr kennt ihn?«

»Ich wohne in Olevano.«

»Dann freilich.«

»Lebst du dort oben Winters und Sommers?«

»Jetzt nur noch im Sommer.«

»Im Winter bist du wo?«

»In Rom.«

Heinrich rief aus:

»In Rom bist du?«

»Herr, ja.«

»Du bist – Modell?«

»Herr, ja.«

»Ich sah dich nie... Du mußt nämlich wissen, daß ich Künstler bin.«

»Habt Ihr deshalb hier draußen auf mich gewartet?« »Den ganzen Tag sah ich dich. Du schrittest beständig vor mir her. Ich konnte dich jedoch nicht erreichen... Modell bist du? Seltsam, daß ich dich in Rom nie sah.«

»Ich bin Modell in der Villa Medici.«

»Bei den Franzosen!«

»Herr, ja.«

»Sie nehmen immer die schönsten; nehmen sie uns andern fort.«

»Ich bin nicht schön.«

»Du bist –«

Er stockte.

»Lebt wohl, Herr.«

»Bleibe noch!«

»Es wird Tag.«

Er sagte wie tief gekränkt:

»Wenn du den Franzosen gehörst –«

Da er wiederum ins Stocken geriet, schloß sie den Satz:

»So kann ich den Deutschen nicht gehören.«

»Woher weißt du, daß ich ein Deutscher bin?«

Sie sah ihn an und lächelte. Er wollte auffahren, beherrschte sich, fragte:

»Weshalb gingst du während des ganzen langen Weges immer allein?«

»Weshalb?«

»Sprich doch!«

»Ich bin Modell. Da Ihr Künstler seid, werdet Ihr wissen –«

Er fiel ihr ins Wort:

»Weil du Modell bist, ließen dich deine Genossinnen allein gehen?«

»Das ist nun einmal nicht anders.«

»Sage mir –«

»Herr, was?«

»Gingst du mutterseelenallein beten in der Nacht, weil du Modell bist und einen Liebhaber hast?«

Er glaubte, sie wiederum voller Verachtung lächeln zu sehen. Sie sagte: »Herr, ich brauche weder zu der schwarzen Madonna von Genazzano noch zu der gnadenreichen Himmelsmutter von der göttlichen Liebe bei Albano eine Wallfahrt zu tun; brauche kein Opfer zu bringen, weder ein Wachsherz noch eine geweihte Kerze.«

»Nicht um deines Liebhabers willen, der sicher ein Künstler ist, einer von den Franzosen der Villa Medici?«

»Ich habe keinen Liebhaber. Übrigens – was geht's Euch an?«

»Nichts. Du hast recht. Verzeih!«

»Ihr kränktet mich nicht.«

Er konnte nicht von ihr loskommen, sprach daher weiter in sie hinein:

»Wenn du keinen Liebhaber hast, für den du opfern mußt, so brauchtest du keine Wallfahrt zu tun.«

Sie erwiderte:

»Herr, wißt Ihr nicht, was heute in aller Frühe hier oben vorgehen wird?«

»Für die Pilger wird ein Hochamt gehalten.«

»Christi Passion wird vom Volk vorgestellt.«

»Richtig. Ich hörte von dem seltsamen Brauch.«

»Er ist uralt.«

»Also kamst du um dieser Darstellung willen auf den Berg?«

»Herr, ja. Ich bin heute die Maria von Magdala.«

Leidenschaftlich rief Heinrich aus:

»Du die große Sünderin? Weshalb gerade du, wenn du doch keinen Liebsten hast und weder ein Herz noch eine geweihte Kerze der Madonna zu opfern brauchst? Trotzdem standest du mitten in der Nacht heimlich auf, gingst in die Kirche und – du willst gehen?«

Er trat von ihr zurück, und sie schritt an ihm vorüber, der dastand und ihr nachsah, wie sie zwischen den Reihen der Ruhenden und dem verglimmenden Feuer einsam ihres Weges ging, feierlichen Schrittes, erhobenen Hauptes, als wäre der Karyatiden eine beseelt worden und wandelte... Modell war sie. Eines jener Mädchen, wie sie die Dörfer der römischen Felsenwildnisse zu Scharen ausschicken nicht nur nach Rom, sondern nach allen Hauptstädten Europas, Berlin und München, Wien, London, Paris.

Modell war sie; aber – sie hatte keinen Liebhaber, brauchte keine Wallfahrt zu tun, der hilfreichen Madonna keine Opfer zu bringen. Dennoch ging sie getrennt von den andern: weil sie Modell war! Und bei der Darstellung der heiligen Passion durch das Volk der Felsenberge gab sie die Maria von Magdala, die große Sünderin und Büßerin. Sie stellte diese dar, eben weil sie Modell war und ihren Körper Männerblicken preisgab. Deshalb wurde sie von ihren Genossinnen gemieden; deshalb tat sie die Wallfahrt zu dem hohen Heiligtum; deshalb Gebet und Buße heimlich in der Nacht –

Noch immer stand er und sah ihr nach. Gleich einer Erscheinung verschwand sie in dem Schatten der Morgendämmerung. Heinrich hätte glauben können, es sei wiederum ein Traum gewesen. Aber er hatte vor ihr gestanden und zu ihr gesprochen; hatte ihren Namen erfahren; hatte erfahren, daß sie Modell war und in Rom den Franzosen gehörte.


Der Tag brach an. Gab es auf der Welt einen Tagesanbruch, diesem gleich in Roms Felsenbergen?

Grat und Wipfel schienen nicht Gestein, sondern Feuerwälle und Flammensäulen. Langsam röteten sie sich. Sie lohten und loderten.

Dann erklang das Glöcklein des Heiligtums. Die Scharen der Waller erhoben sich von ihren Lagerstätten, warfen sich auf die Kniee und stimmten den Morgengesang an.

Dünste entstiegen den Tiefen, die Gluten der Höhen erloschen.

Die Sonne ging auf.


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