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Dreizehntes Kapitel

Der Wagen fuhr vor; der Diener öffnete den Schlag. Arm in Arm mit einem jungen, auffallend gekleideten Mädchen trat Miß Kelly aus dem Hause. Lachend und scherzend kamen sie über den schmalen Perron, zärtliche Blicke tauschend, in ihren raschelnden Seidenkleidern, die sie über das vom Nebel des Oktobermorgens feuchte Pflaster emporhoben, die feinen Fesseln ihrer Füße und den gestickten Saum ihrer Untergewänder zeigend. Sie fuhren wohl in die Magazine des Strand; Miß Kelly, um sich mit der Schönheit ihrer kaum dem Kindesalter entwachsenen Freundin zu brüsten; das Mädchen, um sich in ihrem neuen Glanze zu sonnen ...

Kaum ein Jahr war's her, daß Emma durch dasselbe Portal geschritten war. An demselben zarten Frauenarm. Ein Königssohn hatte ihr leidenschaftliche Worte ins Ohr geflüstert. In jener Nacht des Höllenfeuerklubs ...

Und nun ...

Sollte sie vorstürzen, der unklaren Hoffnung folgend, die sie hergetrieben?

Nun, da sie Miß Kelly wiedersah, sank ihr der Mut. Durch ihre Diener würde jene die Zudringliche fortjagen lassen. Oder ihr ein Goldstück zuwerfen. Ein Almosen ...

Auch war es schon zu spät. Miß Kelly saß schon im Wagen neben ihrer Freundin. Eng aneinander geschmiegt fuhren sie davon.

– – – – – – – –

Alles durften sie sich erlauben, über alles spotten, alles in den Staub ziehen. Ungestraft. Während Emma ...

Nur nicht denken! Nicht denken!

Was nutzte das Denken auch? Es gab nicht Brot gegen den Hunger, nicht Kleider gegen den Frost, nicht Schutz gegen den Schmerz. Verrückt würde sie werden, wenn sie nicht aufhörte, zu denken!

Sie löste sich aus dem Winkel, in dem sie auf Miß Kelly gewartet hatte, und tauchte in den Nebel unter. Denselben Weg ging sie wie vor achtzehn Monaten. Wie eine Trunkene schwankte sie, murmelte vor sich hin, stieß gegen die ihr Entgegenkommenden. Zornig blieben sie stehen, und riefen ihr Schmähungen zu. Sie lachte. Was fragte sie darnach! Alles war ihr gleichgültig.

– – – – – – – –

Madame Beaulieus Laden war noch da. Auch der Spiegel im Schaufenster ...

Dieses graue Gesicht mit den leeren Augen, diese fröstelnde Gestalt in dem zerfetzten Kleid – war das Emma Lyon? Die schöne Emma Lyon?

Weiter ...

– – – – – – – –

Auch in Mr. Canes Magazin war noch alles wie früher. Kostbare Auslagen, vornehme Kunden, schwarzgekleidete Mädchen, die bedienten. Auf dem erhöhten Platz, den Emma einst eingenommen, eine Blondine mit hübschem, zufriedenem Gesicht.

Sollte sie es wagen einzutreten?

Mr. Cane würde sie wohl hinausweisen. Aber Mrs. Cane ... sie hatte ein mitleidiges Herz ...

Es war besser, zu warten, bis Mrs. Cane in den Laden kam ...

Was wollte der Wachmann?... Ärgernis erregte sie? ... Sperrte den vornehmen Leuten den Weg?

Pah! Sie spie auf die Vornehmen! Schurken waren sie alle!

Weitergehen?

Weiter ... weiter ...

– – – – – – – –

Es begann zu regnen.

Lange, gleichmäßige Wassersträhnen fielen herab, den Fußgängersteig überschwemmend, graue Lachen auf dem zähen Schmutz der Straße bildend.

Emma fühlte die Nässe kaum. Wie oft hatte der Regen in diesen Tagen ihre Kleider durchweicht! Aber die Kälte machte ihr die Haut schauern. Während ihr die Eingeweide brannten. Sie hatte Hunger ...

Plötzlich fiel ihr das Stück Brot ein, das sie am Morgen heimlich genommen hatte. Von dem Frühstück des Mannes, bei dem sie die Nacht zugebracht. Es mußte in der Tasche ihres Kleides sein.

Sie fand es und aß. Langsam, in kleinen Bissen. Die Bewegung ihrer Kinnbacken tat ihr wohl. Und der säuerlich-würzige Geschmack in ihrer Kehle.

Rüstiger schritt sie dann weiter. Auf der Brücke hatte sie schon zweimal Glück gehabt. Die Matrosen der Lastschiffe auf dem Flusse mußten die Brücke überschreiten, um in die Stadt zu gelangen. In kleinen Trupps kamen sie dann daher, lachend, ihre kurzen Pfeifen rauchend, mit den Silberstücken ihres Lohnes in den Taschen klimpernd. Vielleicht, daß einer von ihnen Gefallen an ihr fand und sie mitnahm.

Auch war da an dem Häuschen des Brückenwächters ein Winkel, den das vorspringende Dach gegen den Regen schützte. Dort würde sie sich trocknen.

Aber da sie hinkam, fand sie den Winkel schon besetzt. Ein junges Weib kauerte am Boden, blaß, abgezehrt, wie eben erst von einer langen Krankheit erstanden. Ein Knabe von ungefähr fünf Jahren drückte seinen hübschen, blonden Kopf wie Wärme suchend an ihre Brust. Als Emma sich näherte, kam er hervor und hielt bittend das offene Händchen hin.

»Eine arme, kranke Mutter!« murmelte das Weib. »Ein vaterloses Kind!«

Aber dann, da sie Emma ansah, rief sie den Knaben zurück.

Etwas würgte Emma in der Kehle. Sie dachte an ihr kleines Mädchen, das fern bei seiner Großmutter in Hawarden war. Vier Monate war es nun alt. Ob sie es jemals wiedersehen würde?

Eine plötzliche Müdigkeit überfiel sie. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf einen Prellstein neben dem Winkel sinken.

Lange saß sie so. Der Regen löste ihr das Haar und rieselte in ihren Schoß. Der Kopf fiel ihr auf die Brust.

»Eine arme, kranke Mutter ... Ein vaterloses Kind ...«

Jedesmal wenn ein Mensch über die Brücke kam, ertönte das leise Murmeln, der Knabe trat vor und hob flehend das Händchen. Und fast immer hatte er Erfolg.

Auf Emma achtete niemand ...

– – – – – – – –

Eine große, dicke Frau kam die Straße herauf. Dicht in Tücher gehüllt ging sie unter einem breiten Regenschirm. Hinter ihr schritt zögernd ein Mann, mit seinem Stocke den Weg betastend. Er war blind. Ein kleines Mädchen führte ihn. Das Weib im Winkel stand auf, schüttete das erbettelte Geld in die Tasche der Frau und führte den Knaben fort. Ihren Platz nahmen der Blinde und das kleine Mädchen ein.

Plötzlich kam die Frau eilig zurück. Neben Emma blieb sie stehen, als gehöre sie zu ihr.

Eine Equipage bog auf die Brücke ein. Übergroß erschienen die dampfenden Körper der Pferde im Grau des Nebelregens.

Flehend hob das kleine Mädchen die Hand und stürzte vor, fast unter die Räder. Kaum vermochte der Kutscher die Pferde zurückzureißen. Im Innern der Equipage ertönte ein Schrei. Das Fenster fiel herab, der geschmückte Kopf einer Dame erschien im Rahmen.

»Ein armer, blinder Vater!« schrie der Mann im Winkel. »Ein mutterloses Kind!«

Ein Goldstück fiel vor dem Mädchen nieder, dann jagte die Equipage weiter.

– – – – – – – –

Emma stieß ein lautes, schneidendes Gelächter aus.

Närrisch war das Leben, roh und gemein. Ein einziger großer Betrug aller gegen alle.

Sie lachte noch, als jemand ihre Schulter berührte. Aufblickend sah sie unter dem Regenschirm das Gesicht der dicken Frau.

Dieses Gesicht ...

»Miß Lyon!« schrie die Frau.

Emma fuhr vom Steine auf. Alles Blut strömte ihr in den Kopf. Hoch riß sie die Hand empor, sie in dieses aufgedunsene Gesicht zu schmettern.

Aber plötzlich packte etwas sie, wie ein Krampf, und die Hand griff ins Leere. Vor ihren Augen; zuckten rote Lichter. Etwas Großes, Dunkles schien, auf sie herabzufallen. Unwillkürlich duckte sie sich und stieß einen Schrei der Angst aus.

Gleich darauf spürte sie einen dumpfen Schlag. Alles ging in jenem schrecklichen Dunkel unter ...

– – – – – – – –

»Sie fielen um wie ein Stück Holz!« sagte Mrs. Gibson wichtigtuerisch. »Ihre Kleider waren so naß, daß ich sie Ihnen vom Leibe schneiden mußte. Und Ihre schönen, weißen Zähne hatten Sie krampfhaft aufeinander gepreßt. Kaum, daß ich Ihnen ein wenig Bouillon einflößen konnte. Erinnern Sie sich wirklich nicht?«

Mit Behagen dehnte sich Emma in den weichen Kissen des Bettes. Ihre Blicke glitten durch das kleine, üppig ausgestattete Zimmer. In tiefen Zügen atmete sie die warme Luft ein.

»Nichts. Ich weiß nichts,« sagte sie leise. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Am Freitag fand ich Sie an der Brücke, Und heute ist Montag. Sie haben also beinahe drei Tage und Nächte geschlafen.«

»Und wo bin ich?«

»In guten Händen, Miß Lyon! Bei mir. In meinem Hause, am Haymarket.«

... Haymarket? Was war doch mit diesem Haymarket gewesen? Hatte sie nicht immer Furcht gehabt, dorthin zu gehen? ...

»Bei Ihnen!« Ihre Augen wanderten zu dem Fenster. Auf den zugezogenen Vorhängen schien sich etwas wie der Schatten eines Gitters abzuzeichnen. Mißtrauisch hob sie den Kopf. »Was wollen Sie von mir?« stieß sie finster heraus. »Wie kommen Sie dazu, sich meiner anzunehmen?«

Mrs. Gibson streichelte zärtlich die schmale Hand, die auf der Bettdecke lag.

»Ich hab' Sie doch immer gern gehabt, Miß Emma. Wenn ich mich auch an Ihnen vergangen habe, damals, als ich Sir John zu Ihnen verhalf. Das möchte ich doch möglichst wieder gut machen! Ich tat's nicht aus Bosheit, sondern aus Not. Sir John zahlte gut und es ging uns schlecht im ›Schwan von Avon‹. Das Geld von Sir John hielt den Zusammenbruch noch ein paar Monate auf. Nachher freilich ... mein armer, guter Mann hat darunter; leiden müssen. Er ist in Kingsbench, im Schuldgefängnis. Und ich – was soll eine arme Frau tun, wenn sie allein ist? ... Die Kinder auf der Brücke? Das bringt wenig ein. Man muß den Leuten abgeben. So blieb mir nur das Haus hier, das schreckliche Haus! Wer mir das früher gesagt hätte, daß ich in einem solchen Hause ... Was haben Sie denn, Miß Emma? Sie fürchten doch nicht, daß ich Ihnen etwas zumuten, werde, was Ihnen gegen den Willen ist? Ich werde Sie doch nicht in Verzweiflung stürzen. Das sieht doch ein Kind, daß Sie Schweres durchgemacht haben. Ich verstehe es nicht. Sir John war doch immer ein vornehm denkender Mann! Haben Sie sich mit ihm entzweit? Und dann... in Ihren Fieberphantasien... Sie sprachen von einem Kinde ...«

Erschreckt verstummte sie. Emma hatte sich im Bett aufgerichtet und starrte sie wild an.

»Schweigen Sie! Wollen Sie mich wahnsinnig machen?« Und die Bettdecke zur Seite werfend, setzte sie die Füße auf den Boden. »Ich will fort! Wo sind meine Kleider? Bringen Sie sie her!«

»Aber liebste, beste Miß Emma ... ich sagte Ihnen doch, daß wir sie zerschneiden mußten! ... Beruhigen Sie sich doch nur! Wie Sie da sind, können Sie doch nicht auf die Straße gehen!«

»Ich will nicht in diesem Bette liegen, wehrlos gegen jeden, den Sie hereinschicken! Verstehen Sie mich? Ich will mich nicht mehr hingeben!« Ihre Augen fuhren wie suchend durch das Zimmer. Plötzlich stürzte sie sich auf eine Schere, die auf dem Fensterbrett lag. »Eine Waffe! Ich habe eine Waffe! Nun schicken Sie ihn doch herein! Den Menschen, dem Sie mich verkaufen wollen!«

Höhnisch lachte sie und nickte.

Mrs. Gibson war zur Tür gelaufen, um sich gegen einen Angriff in Sicherheit zu bringen. Nun kam sie vorsichtig zurück. Ihrem Zureden gelang es endlich, Emma zu beruhigen, daß sie ins Bett zurückkehrte. Aber die Schere ließ sie nicht aus der Hand.

– – – – – – – –

Eine Magd brachte eine Badewanne und warmes Wasser herein, wohlriechende Seifen, weiche Handtücher, Schwämme, Bürsten, Kämme. Einen schweren Teppich breitete sie in der Mitte des Zimmers aus. Ein großer, bis zum Boden reichender Spiegel stand dem Bette gegenüber an der Wand. In das Badewasser goß Mrs. Gibson ein Parfüm, das mit zartem Dufte das ganze Zimmer füllte.

Emma beobachtete die Vorbereitungen mit einem Gefühl des Behagens. Auf den Duftwellen des Parfüms schien es ihr ins Herz zu schleichen. Die Räume kamen ihr in den Sinn, in denen sie während zweier Monate eines unaufhörlich gesteigerten Schwelgens ihr tägliches Bad genommen hatte. Gehätschelt von weichen Zofenhänden, umschmeichelt von Wohlgerüchen, angebetet von Sir Johns trunkenen Augen ...

Tränen traten in ihre Augen.

Dann lächelte sie über sich selbst.

Ein närrisches Geschöpf war der Mensch. Das Unglück verhärtete ihn zu Haß und Selbstzerfleischung, ein Hauch von wohlriechendem Wasser aber brachte ihn zum Weinen ...

Endlich war sie allein. Sie sprang aus dem Bette und verriegelte die Tür. Eilig stieg sie ins Bad und dehnte die Glieder in der warmen Flut.

Dann lag sie, ohne sich zu bewegen, ohne zu denken. Es war ihr, als sei ihre Haut von langer Dürre ausgetrocknet gewesen. Und als sauge sie sich nun wieder voll mit würziger Feuchtigkeit, mit junger Kraft, frischem Blute,.

Leise begann sich etwas in ihrem Herzen zu regen.

Neue Sehnsucht? Kam vielleicht doch noch einmal ein Tag des Glückes?

Overton ...

Immer hatte sie in dieser ganzen Zeit an ihn gedacht. Wenn, sie fröhlich war, wenn Traurigkeit sie überfiel. Im Arm des Verhaßten hatte sie nur ihn geliebt, in der Stunde der Verzweiflung nur ihm das Kind geboren ...

Zufall? Ein Spiel ihrer erregten Sinne? Oder nicht doch vielleicht das geheime Walten eines bestimmenden Schicksals?

Sie stieg aus dem Bade, um sich auf dem Teppich zu trocknen. Hüllenlos trat sie dann vor den Spiegel. Lange betrachtete sie sich. Jede Linie, jeden Muskel prüfte sie.

Sie war noch schön. Schöner vielleicht als zuvor. Und keine Spur hatte die Vergangenheit zurückgelassen. Was da aus dem Glase strahlte, war der weiße Leib einer unberührten Jungfrau.

In diesem Leibe ruhte ihre Kraft. Wenn ihr das Glück doch nur ein einziges Mal lächelte! Nutzen wollte sie diese Kraft. Besser als das erstemal.

Auf dem Stuhl am Bett lag blütenweißes Leinen und ein zartfarbiges, seidenes Hausgewand. Langsam kleidete sie sich an, wand das üppige Haar um den Kopf zu weicher, rotleuchtender Welle.

Sie war nun ganz ruhig und fürchtete sich nicht mehr. Die Schere barg sie unter dem Kleide, dann entriegelte sie die Tür und läutete.

Sofort kamen Mrs. Gibson und die Magd, um das Zimmer wieder in Ordnung zu bringen. Dann trugen sie einen gedeckten Tisch herein, den sie auf den Teppich niedersetzten. Aus verdeckten Schüsseln stieg der Dampf, warmer Speisen, aus silbernem Kühler blinkte der Hals einer Flasche französischen Champagners.

Auf dem Tisch lagen zwei Gedecke ...

Emma lächelte spöttisch.

Sich hinter das eine Gedeck setzend deutete sie auf das andere ihr gegenüber.

»Und der Herr? Warum kommt er nicht?«

Verwirrt, ängstlich sah Mrs. Gibson sie an. Dann, da sie ihre Ruhe bemerkte, lächelte auch sie.

»Ich wußte ja, Sie würden Vernunft annehmen! Kommen Sie herein, Herr, Miß Lyon erwartet Sie!« Und sich an Emmas Ohr beugend, flüsterte sie geheimnisvoll: »Seien Sie klug, Kind! Ihr Glück kommt zu Ihnen, Ihr Glück!«

Der Herr trat ein.


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