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Fünftes Kapitel

Am folgenden Tage verlangte Mrs. Cane das geliehene Buch zurück. Emma verschaffte sich bei einem Buchhändler ein anderes. Alles kaufte sie ihm ab, was er von Shakespeare besaß. Und mit dem wütenden Eifer einer Fanatikerin stürzte sie sich auf ihre neuen Aufgaben. In fünf Nächten bewältigte sie die Julia, in sieben die Desdemona. Dann ging sie an die Ophelia.

Das Lernen wurde ihr leicht. Auch das Mienenspiel machte ihr wenig Schwierigkeiten. Der kleine Spiegel genügte, um Mund, Augen und Kopfstellung zu prüfen. Aber über die Bewegungen der Schultern und Hüften war sie im unklaren. Und die Behandlung der Stimme bereitete ihr Sorge. Sie durfte nicht laut sprechen, um die übrigen Verkäuferinnen nicht zu stören, die in den Nebenmansarden schliefen, daher dämpfte sie ihre Stimme fast bis zum Flüstern herab. Würde sie später den rechten Ton treffen, wenn sie sich zur Aufnahme in das Drurylane-Theater meldete?

Dorthin zielte ihr Ehrgeiz. Sie brannte darauf, neben Garrick zu spielen und Mrs. Siddons in den Schatten zu stellen. Daß es ihr gelingen würde, daran zweifelte sie nicht einen Augenblick. Nur erst einmal auf der Bühne stehen! Der Sieg würde ihr gehören!

Und Charles Overton würde die wahre Julia sehen …

– – – – – – – –

Am Morgen nach jenem ersten Zusammentreffen mit ihm war sie in den Laden gekommen in der festen Erwartung, ihn im nächsten Augenblick eintreten zu sehen. Er hatte sie ausgekundschaftet und kam unter dem Vorwand eines Einkaufes, um sie wiederzusehen, und sie um eine Zusammenkunft zu bitter. So hatte sie es sich ausgemalt und so hätte sie an seiner Stelle gehandelt.

Was daraus entstehen würde? Sie wußte es nicht, sie wollte auch nicht darüber nachdenken. Dazu war noch Zeit, wenn er gekommen war.

Aber er kam nicht. Liebte er sie nicht? Was aber hatte dann aus seinen Augen zu ihr gesprochen? Warum hatte er sie geküßt? Irgend etwas Feindliches mußte ihn abhalten. Doch er würde es überwinden. Und eines Tages würde in dem Menschengewühl der Straße seine hohe Gestalt auftauchen ...

Jedesmal seitdem, wenn sich der Eingang des Ladens verdunkelte, begann ihr Herz schneller zu schlagen und ihre Augen flogen nach der Tür.

– – – – – – – –

An einem der ersten Tage des August sah sie eine Equipage vor dem Magazin halten. Ein Groom öffnete den Schlag, eine Dame in kostbarer Promenadentoilette stieg aus und kam in den Laden.

Miß Kelly!

Mr. Cane eilte ihr entgegen und empfing sie mit tiefen Verbeugungen.

»Entzückt, Euer Gnaden zu sehen! Herrlichkeit haben mich lange nicht mehr beehrt!«

Hochmütig sah sie auf ihn herab.

»Sie haben mich das letztemal schlecht bedient, da Sie der Herzogin von Devonshire schönere Brillanten vorlegten als mir. Ich wünsche vor niemand zurückzustehen, wer es auch sei! Bitte, sich in Zukunft danach zu richten!« Lässig setzte sie sich in den Sessel, den er ihr diensteifrig hinschob, und ließ ihre Augen wie zerstreut durch den Raum schweifen. Ihr Blick fiel dabei auf Emma, aber kein Zeichen verriet, daß sie sie erkannte. »Ich war kürzlich in Paris in Gesellschaft der Gräfin Polignac ...«

»Der Oberhofmeisterin der Königin von Frankreich?«

»Wie sie erzählte, hat Marie Antoinette für die erste große Cour des nächsten Winters einen kostbaren Smaragdschmuck bestellt. Smaragd wird also Mode werden!«

Mr. Cane verneigte sich tief.

»Ich bin Euerer Herrlichkeit für den Wink äußerst dankbar! Ich werde meine Lieferanten ...«

Mit einer Handbewegung schnitt sie ihm das Weitere ab.

»Wie Sie meine Nachricht ausbeuten, interessiert mich nicht! Jedenfalls wünsche ich acht Tage vor der Königin von Frankreich Smaragden zu tragen. Und keine Lady in ganz England darf mir zuvorkommen. Haben Sie verstanden?«

Er nickte lächelnd.

»Nicht Marie Antoinette, Königin von Frankreich, wird die neue Mode einführen, sondern ...«

»Miß Arabella Kelly, Königin von London. Zeigen Sie also, was Sie an Smaragden haben!«

Eilfertig ließ er von Emma Kästen und Etuis herbeiholen.

»Gestatten Euer Gnaden, daß Miß Lyon mir behilflich ist?« Und mit einem verstohlen forschenden Blick setzte er hinzu. »Miß Lyon, eine neue Verkäuferin!«

Langsam hob Miß Kelly ihre Augen zu Emmas Gesicht empor.

»Miß Lyon?« sagte sie gleichgültig. »Sie scheint recht hübsch zu sein.« Sie wandte sich zu den Steinen, prüfte sie sorgfältig und wählte einen Schmuck zum Preise von dreitausend Pfund. »Senden Sie ihn heute nachmittag fünf Uhr in meine Wohnung. Mit der quittierten Rechnung. Die hübsche Miß hier wird ihn mir bringen! Wie hieß sie doch?«

»Miß Lyon, Euer Gnaden!«

»Also Miß Lyon!«

– – – – – – – –

Arlingtonstreet 14 ...

Mrs. Krook, die Hausverwalterin, führte Emma eine breite, teppichbelegte Treppe empor und ließ sie eintreten, um selbst gleich wieder zu verschwinden.

Miß Kelly, saß in der Nähe einer großen Glastür, durch die man in das grüne Laub eines Parkes sah. Vornübergebeugt wandte sie das Gesicht der Sonne zu, deren Strahlen durch Vorhänge gedämpft hereinfielen. Ihre Finger glitten lässig über die Saiten einer Harfe, die in ihren Armen ruhte, und entlockten ihnen leise, weiche Akkorde. Wie fernes Windessäuseln klang es.

Emma war gleich neben der Tür stehen geblieben. Sie wagte kaum sich zu bewegen. Die lauschige Stille und die Pracht des Raumes nahmen ihre Sinne ganz gefangen.

Das schneeig weiße, mit goldenen Schnitzereien verzierte Holzgetäfel der Wände ließ große Felder von blauer Seide offen. Farbensprühende Malereien zauberten ein seltsames, fremdartiges Leben darüber hin. In dunkeln Hainen flohen zartgliedrige Mädchen vor bocksfüßigen Männergestalten, die mit zottig behaarten Armen nach den rosigen Leibern haschten ... Aus einem grünen Weiher stieg ein silberweißer Schwan, mit gespreizten Flügeln sich um die schwellenden Hüften einer Frau schmiegend, die den Kopf des Tieres mit zärtlicher Gebärde an ihre Brust drückte ... Auf blumensprießenden Wiesen schwangen lachende Dienerinnen die junge Herrin auf den Rücken eines Stieres; große, schöne Menschenaugen glänzten feurig in seinem zurückgebogenen Haupte ... Auf seidenen Kissen ruhte träumend ein nacktes Weib; in ihren Schoß fiel goldener Regen aus einer sonnebeglänzten Wolke ...

Bilder und Gestalten wie diese hatte Emma nie gesehen. Sie erregten in ihr fast ein Gefühl des Schreckens. Scheu wandte sie die Augen ab, in brennender Scham. Als sähe sie in diesen weißen, lustatmenden Frauenleibern sich selbst.

Endlich schob Miß Kelly die Harfe fort und wandte sich um. Schweigend richtete sie ihre großen, schwarzen Augen auf Emma und sah sie unverwandt an. Befangen hob Emma das Kästchen ein wenig empor, das sie in den Händen hielt.

»Ich bringe den Smaragdschmuck von Mr. Cane!« sagte sie mit zitternder Stimme. »Mr. Cane läßt Mylady bitten ...«

Mit einer Handbewegung gebot ihr Miß Kelly Schweigen. Langsam stand sie auf und ging in den entferntesten Winkel des Zimmers, wo sie sich auf den Kissen eines Ruhebettes niederließ. Sie trug ein reiches türkisches Gewand. Goldene Zechinen glänzten in ihrem Haar, aus dem roten Samtmieder trat ihre weiße Brust frei hervor, zierliche orientalische Schuhe zeigten das rosige Fleisch ihrer feingeformten, nackten Füße.

Plötzlich streckte sie die Hand gegen Emma aus.

»Komm hierher!« sagte sie in einem seltsam dunkeln Tone. »Bring' das Kästchen mit!«

Aufmerksam sah sie zu, wie Emma durch die ganze Länge des Zimmers herankam. Dann deutete sie auf das Kissen zu ihren Füßen.

»Knie nieder! Sieh mich an!«

Emma tat alles, wie im Traume. Sie sah Miß Kelly an. Und es war ihr, als flögen aus Miß Kellys schwarzen Augen feurige Strahlen in die ihren.

»Wie kamst du nach London? Sage alles! Verschweige nichts!«

Emma gehorchte. Schweigend hörte Miß Kelly zu, mit demselben seltsam starren Blick Emma in ihren Bann zwingend. Nur als Emma von Tom sprach, warf sie eine kurze, heftige Frage dazwischen.

»Tom Kidd? Liebst du ihn?«

Emma wagte kaum den Kopf zu schütteln.

»Ich liebe ihn nicht!«

Mit leiser Stimme fuhr sie fort. Sie wollte Overton nicht erwähnen; ein ihr selbst rätselhaftes Gefühl sträubte sich in ihr, die Träume ihrer Nächte dieser Frau zu offenbaren. Aber als sie von dem Abend im Drurylane-Theater berichtete, flog ihr der Name unversehens heraus. Sie erschrak und brennende Röte überflutete ihr Gesicht.

Plötzlich fühlte sie Miß Kellys Hand schwer auf ihrer Schulter.

»Warum wirst du rot? Weshalb siehst du mich nicht an? Wer ist dieser Overton? Liebst du ihn? ... So antworte doch! Bist du feige?... Den anderen, jenen Tom – den verachtest du, den magst du nicht! Aber diesen Overton – den liebst du, den möchtest du haben! Ist es so? Ja oder nein!«

Zitternd ließ Emma den Kopf auf die Brust sinken.

»Ich weiß es nicht!« murmelte sie. »Ich weiß nicht, was das ist – Liebe!«

Erregt stand Miß Kelly auf.

»Hast du ihn wiedergesehen?« fragte sie scharf. »Ist er zu Mr. Cane gekommen?«

»Niemals! Niemals habe ich ihn wiedergesehen!«

»Es ist gut! Ich werde erfahren, wer dieser Mensch ist! Steh auf!«

Verwirrt erhob sich Emma, während Miß Kelly von einem Tischchen eine kleine silberne Glocke nahm und läutete. Gleich darauf kam Mrs. Krook.

»Zwei Aufträge, meine Liebe! Sofort sorgfältig auszuführen! Hawkes soll sich nach einem gewissen Charles Overton erkundigen. Alles, was diesen Menschen betrifft, will ich genau wissen. Mein Name darf nicht genannt werden.«

»Zu Befehl, Mylady!«

Miß Kelly deutete auf ein Päckchen Banknoten neben der Tischglocke.

»Diese dreitausend Pfund bringen Sie Mr. Cane. Sagen Sie ihm, ich habe die Smaragden behalten. Ich habe auch Miß Lyon behalten. Verstehen Sie? Auch Miß Lyon!«

»Auch Miß Lyon, Mylady!«

Erstaunt, verwirrt fuhr Emma auf.

»Mylady ...!«

»Still! – Worauf warten Sie, Krook? Gibt es noch etwas?«

Die Hausverwalterin war an der Tür stehengeblieben.

»Darf ich daran erinnern, daß Mylady einen Besuch erwarten? Wenn ich zu Mr. Cane gehe, wird niemand Myladys Gast hereinführen können!«

Miß Kelly nickte.

»Schicken Sie also Jennings zu Mr. Cane! Wenn der Besuch kommt, bitten Sie ihn, einen Augenblick zu warten, und benachrichtigen Sie mich!«

Mrs Krook verließ das Zimmer.

Verwirrt von all dem Neuen, das auf sie einstürmte, näherte sich Emma Miß Kelly.

»Oh, Mylady, Sie wollen, daß ich hier bleibe? Wie kann ich das? Mrs. Cane hat mich aufgenommen und war immer gut zu mir. Ich bin ihr zu großem Danke verpflichtet!«

Miß Kelly lachte spöttisch.

»Du bist noch sehr jung, mein Kind! Und sehr gutgläubig! Denkst du, Mrs. Cane hätte sich deiner angenommen, wenn sie aus deiner Erzählung nicht gemerkt hätte, daß ich mich für dich interessiere? Während eines ganzen Jahres habe ich nichts mehr von Mr. Cane gekauft, und natürlich sind ihm auch mein Prinz und dessen ganzer Hofstaat seitdem untreu geworden. Ein bedeutender Ausfall für ihn. Die gute Frau hat darum Gott gedankt, daß er dich ihr in den Weg führte und Mr. Cane eine Gelegenheit gab, mit mir wieder anzuknüpfen. Kühle Berechnung war's, ein Geschäft! Wozu also Dank? Der steckt ja schon in den dreitausend Pfund. Oder drückt es dich, daß Mrs. Cane dir ein Kleid und sonst ein paar Kleinigkeiten geschenkt hat? Gut, ich werde ihr auch das bezahlen. Etwas anderes freilich wäre es, wenn du nicht gern bei mir bliebest!«

Unwillkürlich hob Emma ihre Hände zu ihr empor.

»Wie gern, Mylady, wie gern! Sie sind so schön, so gut!«

Miß Kelly lächelte.

»Gut? Was weißt du von gut, Kind? Ich bin verliebt in dich, das ist alles. Und wenn du mich ein wenig wieder lieben könntest ...«

Sie zog Emma neben sich auf ein Ruhebett nieder und strich ihr zärtlich durch das Haar.

»Wie schön würden wir miteinander leben! Zwei wahre Freundinnen, ohne Neid, ohne Eigennutz. Kein Mann sollte zwischen uns treten, niemand uns trennen. Ach, wie habe ich mich nach dir gesehnt, diese langen Monate hindurch! Aus Paris schrieb ich an die Krook, sie solle dich hier behalten, wenn du kämest. Sie antwortete mir ... oh, dieser Brief! Du warst schon hier gewesen und fortgegangen. Sie wußte nicht, wohin. Sofort kam ich zurück. Alles gab ich auf, um dich zu suchen. Schreckliche Wochen waren es, bis Hawkes dich endlich bei Mr. Cane aufspürte! Aber nun habe ich dich! Und ich halte dich und lasse dich, nicht wieder!«

Sie schlang ihre Arme um Emmas Hals und zog sie an sich, wie um sie zu küssen. Unwillkürlich wich Emma zurück. Über Miß Kellys Gesicht glitt etwas wie ein Schatten. Langsam gab sie Emma frei.

»Du liebst mich nicht!« sagte sie traurig. »Niemand liebt mich!«

»Oh, Mylady ...«

»Mylady! Warum sprichst du in diesem kalten, förmlichen Ton zu mir? Wenn du mich liebtest, würdest du mich Du und Arabella nennen, wie ich dich Amy nenne!« Sie schien in düsteres Nachdenken zu versinken. Plötzlich aber fuhr sie auf und aus ihren Augen brach ein Blitz des Zornes. »Merkst du denn nicht, daß ich mich nach dir verzehre? Nenne mich Arabella, hörst du? Ich befehle es! Ich will es!«

Halb erschreckt, halb von Miß Kellys seltsamer. Art hingerissen stieß Emma den Namen heraus.

»Arabella ...«

Sofort brach Miß Kelly in ein helles Lachen aus.

»Wie schüchtern! Und du willst Schauspielerin werden?« Sie schürzte spöttisch die Lippen. »Auch ich wollte es einmal. Bis ich merkte, daß es völlig überflüssig ist, irgend etwas zu werden. Selbst die größte Schauspielerin ist nur eine vom Manne ausgehaltene Frau. Was starrst du mich so entsetzt an? Es ist so. Aber ich will dich nicht entmutigen. Auch bietet die Kunst immer noch die leichteste und schnellste Gelegenheit, sich auszustellen. Studiere also, memoriere, deklamiere! Und wenn du ins Theater gehen willst – ich habe überall eine Loge; benutze sie, so oft du magst!« Sie unterbrach sich mit einem Blick auf eine Uhr, die auf dem Kamin in der Nähe stand. »Schon so spät? Mein Gast wird bald kommen. Weißt du, wer?«

»Mr. Romney?«

Miß Kelly machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach, der! Der wird überhaupt nicht mehr hierherkommen. Ich habe mit ihm gebrochen. Fortwährend hat er moralische Anwandlungen und will den Sittenrichter spielen. Nein, Dickerchen kommt. Er will die neuen Smaragden an mir bewundern. Er ist noch so jung, so kindisch! Aber da er mich bezahlt, muß ich schon etwas für ihn tun. – Was hast du, Amy? Warum fährst du auf?«

Erschreckt sah Emma Miß Kelly an.

»Bezahlt?« wiederholte sie. »Er bezahlt?«

Lächelnd legte sich Miß Kelly auf das Ruhebett zurück. Mit einem seltsamen, wie tastenden Blicke gingen ihre Augen über Emmas ganze Gestalt.

»Alles, was du hier siehst, ist von ihm bezahlt. Es kostet ihn etwas! Der arme Kerl ist noch minorenn und hat nur das bißchen Taschengeld, das ihm sein Papa, dieser König der Hauptphilister, aus gesetzt hat. So muß er borgen und zu den Wucherern gehen.«

»Und Sie – du nimmst das von ihm an?«

»Wer König werden will, muß früh anfangen zu lernen. Und nehm' ich's nicht, nimmt's eine andere. Bezahlt werden wir ja alle. Auch die ehrsamen Ehefrauen. Nur daß die es schlechter haben als wir anderen. Sie kommen nicht so leicht wieder los, wenn sie erst einmal an der goldenen Kette liegen. Das ist der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns. Alles andere ist Lüge, Phrase, Heuchelei. Mach' nicht ein so bestürztes Gesicht, Närrchen! Komm lieber her zu mir und bring' die Smaragden mit. Schmücke mich für Dickerchen und leg' mir die goldene Kette an!«

Lachend hielt sie den weißen Arm hin, von dem das Kleid zurückfiel, das fein gemeißelte Gelenk enthüllend.

Mechanisch gehorchte Emma. Sie war von dem Gehörten wie betäubt. Der spöttische Ton, mit dem Miß Kelly über Romney, den Prinzen, sich selbst und die ganze Welt sprach, verwirrte sie und machte sie traurig. War es wirklich so? Herrschte überall nur kalter Nutzen und nüchterne Berechnung?

Sie legte die Armbänder an, befestigte das Kollier um den Hals, der rund und schlank aus vollen Schultern herauswuchs, und steckte die Ohrringe in die rosigen Ohrläppchen.

Ihre Hände bebten, während sie an Miß Kellys Seite auf dem Polster kniend das warme Fleisch berührte. Hinreißend schön erschien ihr die Frau, wie sie ausgestreckt lag, die Hände unter dem schwarzen Haar gefaltet, die blütenweiße Brust in leisem Heben und Senken aus dem roten Mieder hervorquellend. Dunkeln Ringen gleich lagen die Wimpern auf den bleichen Wangen, unter den ernsten schwarzen Brauen. Und der Mund ...

Als sie ihn sah, schrie sie unwillkürlich auf.

Ein zarter Flaum bedeckte die Oberlippe. In reinem, edlem Bogen schwang sie sich. Leicht eingedrückt bildete sie an ihren Enden kleine, beschattete Winkel. Rosenfarbenen Buchten glichen sie ... Buchten der Sehnsucht ...

»Was hast du, Amy?« fragte Miß Kelly. »Warum erschrickst du?«

Noch immer lag sie ausgestreckt, bewegungslos, mit geschlossenen Augen. Weiße, elfenbeinweiche Zähne schimmerten durch das brennende Rot ihrer Lippen.

Emma starrte hin wie berückt.

»Dein Mund!« stammelte sie. »Wie schön ist dein Mund! Wie Overtons Mund! Immer mußte ich hinsehen ...«

»Und hättest ihn wohl gern geküßt?«

»Geküßt ...«

»Nun, warum küssest du ihn nicht, Närrchen?« Und sich plötzlich emporschnellend warf sie ihre Arme um Emma, zog sie zu sich nieder, bedeckte ihr Gesicht, Hals, Brust mit unersättlichen, flammenden Küssen. »Dein Overton bin ich! Ich liebe dich, ich liebe dich! Küsse mich, kleine, weiße Taube! Küsse mich, küsse mich!«

– – – – – – – –

Endlich riß Emma sich los.

Mit beiden Händen fuhr sie sich heftig über den Kopf. Es war ihr, als brächen knisternde Funken aus ihrem aufgelösten Haar, als werde ihre Haut mit Nesseln gepeitscht. Als Miß Kelly sich aufrichtete, wich sie voll Grauen vor ihr zurück.

»Kommen Sie mir nicht nahe! Bleiben Sie dort! Wenn Sie aufstehen, wenn Sie mich noch einmal so küssen, gehe ich und komme nicht wieder!«

Miß Kelly saß auf dem Rand des Ruhebettes, sich schwer auf das Polster stützend. Sie atmete keuchend, graue Schatten gingen über ihr Gesicht, ihre Augen blickten glanzlos und trübe. Schlaff und welk, schien sie plötzlich um Jahre gealtert.

»Die Glocke!« stammelte sie mit erlöschendem Atem. »Klingeln! ... Krook soll kommen! ... »Krook! ...«

Mrs. Krook kam.

Als sie ihre Herrin ansah, nickte sie vor sich hin und holte aus einem Schränkchen etwas hervor, das sie vor Emma verbarg. Dann ging sie zu Miß Kelly und beugte sich über sie, durch ihre breite Gestalt die Sitzende Emmas Blicken entziehend. Ein scharfer Geruch verbreitete sich sofort im Zimmer und Miß Kelly sank mit einem leisen Seufzer zurück.

»Miß Kelly ist nicht wohl!« sagte Mrs. Krook mit ihrer ruhigen Stimme, während sie das Schränkchen wieder verschloß. »Es ist besser, sie allein zu lassen. Kommen Sie mit mir, Miß Lyon! Ich werde Ihnen das Haus und Ihre Zimmer zeigen!«

Ihre Worte klangen wie ein Befehl. Wortlos strich Emma sich Haar und Kleider zurecht und folgte ihr. Im Hinausgehen warf sie einen schnellen Blick zurück.

In sich zusammengekrümmt lag Miß Kelly in den Kissen, wie eine Sterbende.


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