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Viertes Kapitel

Wie der Palast einer Feenkönigin erschien Emma das weite Haus. Diademen gleich krönten goldene Zieraten die Logenbrüstungen, die über dem dunkeln Rot der Sitzreihen schimmerten, wie bleiche Stirnen über schwellenden Purpurlippen. Durch das blendende Lichtmeer streuten Edelsteine farbige Blitze. Von weißen Frauenschultern sandten Blumenblüten zarte Wohlgerüche empor, die sich mit dem Flirren der Lichter zu mischen schienen, um alles in einen durchsichtigen Mantel von duftenden Strahlen zu hüllen. Das Gehen der Türen, das Rascheln der Gewänder, das Murmeln der Stimmen vereinigte sich zu einer leise auf- und abwogenden Tonwelle von unbestimmter Klangfarbe, über der das feine Schwirren der Geigen, das ferne Hallen der Hörner, das traumhafte Klagen der Klarinetten einherschwebten wie eine einzige süße Melodie von Sehnsucht und Liebe.

Bis sich der Vorhang von der Szene hob und vor Emmas Augen eine fremde, wunderbare Welt öffnete.

Italien ... Verona ...

»Lauf, Amme, lauf! Erkunde, wie er heißt!
Und ob er frei! – Ist er vermählt,
So ist das Grab zum Brautbett mir erwählt!«

Eine Glutwelle rann durch Emmas Leib, als Julia die Worte sprach, durch die sie ihre Liebe zu Romeo offenbarte. Unwillkürlich dachte sie sich an die Stelle dies Mädchens. Wenn ihr einmal ein Romeo begegnete – auch sie würde ihn lieben! Wie Julia liebte. Glühend, rücksichtslos, bis zum Vergessen des eigenen Ich ...

Romeo ...

Die Erinnerung an Tom schoß ihr durch den Sinn. Mit einem Lächeln des Mitleids schob sie ihn zur Seite. Tom war kein Romeo, würde nie einer werden. Von allen Männern, die sie bisher gesehen, vermochte sie sich keinen als den Geliebten einer Julia vorzustellen. Auch Romney nicht. Romney war alt und müde. Jung aber mußte Romeo sein, stolz, siegreich.

Weit vorgebeugt, den Atem anhaltend, folgte sie dem Gange der Handlung. In den Pausen saß sie in sich versunken, achtlos gegen alles, was um sie war. Den Stimmen der Dichtung lauschte sie, die tönend in ihr nachklang. Ihr war es nicht Dichtung, was sich da unten abspielte; ihr war es greifbare, fleischgewordene Wirklichkeit. Alle die starken Empfindungen, die in Julia lebten, lebten auch in ihr: Liebe, Frömmigkeit und Schrecken.

Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gib
Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,
Nimm ihn! Zerteil' in kleine Sterne ihn!
Er wird des Himmels Antlitz so verschönen,
Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt,
Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt!«–

Durstigen Mundes trank sie die Sehnsucht aus Julias Worten, und wie Julia fühlte sie ihr Herz erzittern von dem süßen Rausche des erfüllten Glücks. Brennenden Auges, die Hände gegen die wogende Brust gedrückt, durchlebte sie die Wonne der beiden Balkonszenen. Wie Julia wollte sie den Geliebten in ihren Armen zurückhalten zu unaufhörlichem, stammelndem Liebesgeflüster. Und ihn doch gleichzeitig fortgehen heißen aus Furcht vor dem anbrechenden, verräterischen Tage.

Aber dann, als Julia, während sie den Schlaftrunk nahm, sich ihr späteres Erwachen im Grabmal ihrer Ahnen vorstellte...

»O wach' ich auf, werd' ich nicht rasend werden,
Umringt von all den greuelvollen Schrecken?
Und toll mit meiner Väter Knochen spielen?
Und Tybalt aus dem Leichentuche zerren?«

Das ganze, furchtbare Grausen in Julias weit aufgerissenen Augen sprach auch aus Emmas Augen. Es litt sie nicht mehr auf ihrem Sitze. Aufspringend trat sie hart an die Brüstung der Loge, bleich, mit zuckenden Lippen und fliegendem Atem. Sie fühlte nicht, wie Mrs. Cane ihre Hand ergriff und sie zurückzuziehen suchte. Sie hörte nicht die beruhigenden Worte, die sie ihr zuflüsterte, und sah das Gesicht des Mannes in der Nebenloge nicht, der sich zu ihr vorbeugte und sie nicht mehr aus den Augen ließ. Für sie waren alle die Menschen nicht mehr da. Nur eins noch gab es – das Unerhörte, das sich da unten abspielte. Sie selbst war da unten ... Julia war sie ... namenloses Entsetzen durchschauerte ihren Leib ...

Es nahte der Tod ...

– – – – – – – –

In dem Bestreben, die Tragik des Werkes bis zum höchsten Gipfel zu steigern, hatte Garrick die Sterbeszene geändert. Bei Shakespeare starb Romeo, ohne zu wissen, daß Julia nur schlief, und Julia erwachte erst, nachdem Romeo seinen letzten Seufzer schon ausgehaucht hatte. Garrick dagegen ließ Julia bereits in dem Augenblick erwachen, da Romeo eben das Gift getrunken hatte.

Zu spät erkennen nun beide den ungeheueren Irrtum, dem sie zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen peitscht sie auf. Um dem Grausen zu entfliehen, das über dem düsteren Grabe lastet, stürzen sie nach der Tür. Im Fliehen bricht Romeo in die Knie. In ihm wirkt das Gift. Julia in seine Arme reißend, wirre Liebesworte ihr ins Ohr stammelnd, stirbt er, während sie seinen Mund küßt...

Und Julia greift zum Dolche ...

– – – – – – – –

Die Verzweiflungsschreie der Liebenden, das Furchtbare ihres Schicksals, die ungeheuere Wucht des Vorganges zerrissen Emmas Seele. Als Julia sich den Dolch ins Herz stieß, fiel Emma wie tot zu Mrs. Canes Füßen nieder.

– – – – – – – –

Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme an ihr Ohr. Mit einem Seufzer schlug sie die Augen auf und blickte in Mrs. Canes besorgtes Gesicht.

Was war geschehen? War nicht eben noch Romeo in ihren Armen gestorben? Und fühlte sie nicht noch den stechenden Schmerz, mit dem das kalte Eisen durch ihre Brust gedrungen war?

»Mein Gott, Kind, wie Sie mich erschreckt haben!« sagte die alte Dame. »Nie hätte ich gedacht, daß ein Theaterstück einen derartigen Eindruck machen könnte!«

Emma erinnerte sich nun an alles. Verwirrt und beschämt richtete sie sich auf und suchte sich zu fassen. Plötzlich aber brach sie in Tränen aus. Schluchzend ergriff sie Mrs. Canes Hand und bedeckte sie mit heißen Küssen.

»Bitte, bitte, Ma'am, zürnen Sie mir nicht, daß ich so töricht war, alles für Wirklichkeit zu halten! Es war so grauenerregend und ich fürchtete mich so. Und doch war es wieder so schön, so wunderbar, so groß!« Sie strich sich das Haar; aus der heißen Stirn und sah mit traumhaftem Blick ins Leere, »Glauben Sie, Ma'am, daß es Menschen gibt, die einander so lieben, wie Romeo und Julia? Lieben bis zur Entrücktheit, bis zum Allesvergessen?«

Mrs. Cane lächelte sanft.

»Dichter übertreiben gern, Kind! Wenn Sie erst älter sind, werden Sie merken, daß das Leben sehr kalt und nüchtern ist. – Aber wir müssen gehen. Das Haus ist schon leer und die Lichter werden gelöscht. – Haben Sie vielen Dank, Sir!«

Sie grüßte einen Herrn, der im Hintergrunde der Loge stand und ein Glas Wasser in der Hand hielt. Erst jetzt bemerkte ihn Emma und errötete.

»Der Herr sah von der Nebenloge aus, wie Sie ohnmächtig wurden!« erklärte die alte Dame. »Er bot seine Hilfe an, und ich bat ihn um ein Glas frischen Wassers. Aber als er es brachte, kamen Sie schon wieder zu sich!«

Emma sah zu ihm hinüber. Er hatte sich ein wenig vorgeneigt, und das Licht der Loge fiel auf sein junges, schmales Gesicht. Es hatte zarte, sanft ineinander fließende Farben, wie ein Frauenantlitz.

»Ich weiß nicht,« sagte er mit weicher, voller Stimme, »ob ich bedauern soll, daß ich umsonst ging, oder ob ich mich freuen muß, daß ich zu spät kam!«

Seine dunkelblauen Augen unter dichten, blonden Brauen strahlten einen feuchten Glanz aus. Emma wußte nicht warum, aber unter seinem Blick stieg in ihr plötzlich etwas auf, das ihr das Herz froh und leicht und das Blut schneller kreisen machte. Mit einer raschen Bewegung nahm sie das Glas aus seiner Hand.

»Ist es wirklich Wasser?« fragte sie scherzend. »Oder haben Sie einen Zaubertrank gemischt vom der Art, wie Bruder Lorenzo ihn der Julia gab?«

Er hielt ihren Blick fest.

»Wenn es ein solcher Zaubertrank wäre, würden Sie an Julias Stelle nicht trinken?«

Sie sah auf seine Lippen, die lächelten. Volle, tiefrote Bogen, an den Enden leicht eingedrückt. Zarte, rosenfarbene Winkel bildeten sich hier, weich beschattet, wie verschwiegene Buchten der Lust.

»Vielleicht!« sagte sie träumerisch. »Vielleicht! Wenn Romeo es wollte ...«

Langsam trank sie das Glas leer und gab es ihm zurück. Ihre Hand berührte dabei die seine. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Ein heißer Strom schien aus seinen schlanken, bleichen Fingern in ihre Adern hinüberzugleiten.

Verwirrt ging sie dann neben ihm her, Mrs. Cane zum Ausgang des Theaters folgend. An der ins Erdgeschoß hinabführenden Treppe blieb die alte Dame stehen.

»Wir werden einen Wagen nehmen!« sagte sie höflich kühl und machte dem Herrn eine verabschiedende Verbeugung. »Haben Sie nochmals Dank, mein Herr!«

Er merkte wohl ihre Absicht, ihn von Emma zu trennen, und lächelte belustigt.

»Sie glauben doch nicht, Ma'am, daß ich Sie allein diese engen Treppen hinabsteigen lassen werde? Nachdem Ihr Fräulein Tochter eben erst einen Schwächeanfall überstanden hat?«

Mrs. Cane zog die Brauen zusammen.

»Miß Emma ist nicht meine Tochter!« sagte sie abweisend. »Und es ziemt sich für Frauen aus gut bürgerlichem Hause nicht, die Begleitung eines Unbekannten anzunehmen!«

Er verneigte sich ernst vor ihr. Aber Emma sah, daß seine Augen lachten.

»Sie haben recht, Ma'am, wenn Sie Fremden kein Vertrauen schenken. London ist ein schlimmer Ort. Gleichwohl hoffe ich auf eine Ausnahme zu meinen Gunsten. Ich heiße Charles Overton und arbeite in Doctors Commons Londoner Gerichtshof.

Mrs. Cane nickte kurz.

»Trotzdem ...«

»Berechtigt mich das noch nicht, dem schönsten Fräulein von ganz London meine Huldigungen zu Füßen zu legen? Es soll auch nicht geschehen, Ma'am! Miß Emma interessiert mich aus einem anderen Grunde. Ich habe sie während des Abends beobachtet und Vergleiche angestellt. Vergleiche – wissen Sie, mit wem, Miß Emma?«

Er wandte sich ihr zu und bot ihr den Arm in seiner ruhigen, bestimmten Weise, die kein Widerstreben zuließ. Und mit ihr hinter Mrs. Cane die enge, halbdunkle Treppe hinabsteigend fuhr er ohne ihre Antwort abzuwarten fort.

»Ich verglich Sie mit Julia. Das heißt, mit der Julia, wie sie von Mrs. Siddons gespielt wird. Ich bin dabei zu merkwürdigen Entdeckungen gekommen. Mrs. Siddons ist eine unvergleichliche Lady Macbeth, eine grandiose Königin im ›Hamlet‹, aber eine gute Julia ist sie nicht! Ihrer majestätischen Gestalt fehlt die leichte, gleitende Grazie, ihrer Stimme der weiche Schmelz, ihrem ganzen Wesen die träumerische Jungfräulichkeit. Nie ist mir das so klar geworden wie heute. Als ich plötzlich die wahre Julia vor mir sah!«

Seine Augen tauchten in die ihren; verstohlen faßte er ihre Hand, die auf seinem Arme lag.

Sie ließ es geschehen. Sein herrischer Wille, seine leichte, sichere Sprache, die vornehme Schönheit seiner hohen Gestalt – alles das umwob ihn mit einem Schleier des Unbekannten, Geheimnisvollen, der sie widerstandslos gefangen nahm. Und seine Lippen – diese brennendroten Lippen, die beim Sprechen leuchtend weiße Zähne zeigten ... was war es nur, daß sie ihr so bekannt vorkamen? Daß sie immer auf sie hinstarren mußte?

Unmerklich blieb er ein wenig zurück, als solle Mrs. Cane seine Worte nicht hören.

»Julia saß fast unmittelbar neben mir. Sie aber beachtete mich nicht. Sie sah nur, was auf der Szene vorging. Sie lebte so in dem Spiel, daß ihre Lippen unwillkürlich alle Worte nachformten, die an ihr Ohr schlugen. Jede Empfindung prägte sich in ihren Mienen aus, ihre Hände fanden Bewegungen von einem Ausdruck, wie ich ihn nie gesehen. Und als sie starb – der größte Bildhauer Griechenlands hätte den Tod nicht schöner und erhabener darstellen können! Wissen Sie nun, wer meine Julia ist?«

Er beugte sich zu ihr nieder, daß der warme Atem seines Mundes ihre Stirn streifte. Wie ein Strom flüssigen Feuers rann es durch ihre Glieder. Unwillkürlich schloß sie die Augen.

Plötzlich fühlte sie seine Lippen auf den ihren …

– – – – – – – –

Im Portal des Theaters trafen sie wieder mit Mrs. Cane zusammen, die eben einen Diener beauftragte, einen Wagen herbeizuholen. Unbefangen redete Mr. Overton sie an.

»Ich sagte eben zu Miß Emma, daß sie unbedingt Schauspielerin werden muß. Eine große Zukunft ist ihr sicher!«

Mrs. Cane zuckte die Achseln.

»Was nennen Sie eine große Zukunft, Mr. Overton?« fragte sie mit ungewohnter Schärfe zurück. »Halten Sie eine Zukunft für wünschenswert, die nur durch Unmoral und Sittenlosigkeit erreicht werden kann? Und selbst wenn Miß Emma eine gefeierte Künstlerin wird, was bietet ihr das Leben? Man klatscht ihr Beifall, wirft ihr Kränze und kauft ihr Bild in den Läden! Aber eines Tages merkt sie, daß das alles hohl und nichtig, und daß die Kunst nicht das Glück ist. Wenn das Weib in ihr nach Besserem verlangt. Dann aber ist es zu spät!«

Er hatte sie ruhig ausreden lassen. Mit einem Lächeln leichten Spottes, das seinem Munde einen neuen Reiz verlieh.

»Zu spät!« wiederholte er nun. »Warum sollte nicht auch eine Künstlerin in der Liebe und Ehe das Glück finden können, von dem junge Mädchenherzen träumen? Ich könnte Ihnen Ladies nennen, die vor ihrer Verheiratung Künstlerinnen waren. Genie und Schönheit ersetzen eben den ältesten Stammbaum!«

»Aber nicht die gutbürgerliche Achtung!« erwiderte sie feindselig. »Solange Miß Emma unter; meiner Obhut steht, soll die Versuchung nicht an sie herankommen! – Nichts für ungut, Herr!« schloß sie in einem Tone, der jeden weiteren Einwand abschnitt. »Aber dies ist die Meinung einer; alten Frau, die das Leben kennt und weiß, daß man nur durch feste Grundsätze glücklich werden kann. – Und nun ... der Wagen ist da! Steigen Sie ein, Kind! Und Sie, Mr. Overton, seien Sie nochmals freundlichst bedankt und leben Sie wohl!«

Sie ließ Emma einsteigen, sich zwischen sie und Overton drängend. Dann folgte sie selbst und schloß hastig die Tür.

Mit abgezogenem Hute stand Overton am Schlag. Noch einmal sah Emma das feine, mädchenhaft zarte Gesicht, die feucht schimmernden Augen, die vollen, roten Lippen ...

Sie wölbten sich ihr entgegen, wie zu einem langen, zärtlichen, abschiednehmenden Kuß ...

Dann rollte der Wagen davon.

– – – – – – – –

Warum hatte sie ihm nicht ihren Namen und ihre Adresse zugeflüstert? Nun wußte er nicht, wer sie war und wo er sie finden konnte. Auseinandergegangen waren sie, wie sie zusammengekommen waren – durch ein blindes Spiel des Zufalls. Niemals vielleicht würden sie einander wiedersehen.

Blätter waren sie, die ein neidischer Wind vom Baume riß und weit in dunkle Fernen verstreute …

– – – – – – – –

In sich versunken fuhr sie neben Mrs. Cane dahin.

Wohl in dem Bestreben, ihr schroffes Benehmen gegen Overton zu rechtfertigen, zählte jene eine Reihe von Fällen auf, in denen Gutgläubige von Abenteurern getäuscht worden waren. London war eine schlimme Stadt, voll von Gefahren und Anfechtungen. Die Zeitungen wimmelten von Berichten über Raubanfälle, Entführungen und Morde, die niemals aufgeklärt wurden. Täglich nahm die Unsicherheit zu. Anständige Damen konnten nach Dunkelwerden nicht durch die Straßen gehen, ohne Belästigungen und Verfolgungen ausgesetzt zu sein.

Man durfte niemand glauben. Je vornehmer sich jemand gab, um so vorsichtiger mußte man sein. Nirgends war die Sittenverderbnis allgemeiner und die Gewissenlosigkeit größer, als in den Kreisen der Aristokratie. Vergebens gab König Georg III. das Beispiel eines schlichtbürgerlichen Lebens; Hof und Adel waren von der moralischen Pest ergriffen, die in Frankreich wütete und von neuerungssüchtigen Reisenden über den Kanal in England eingeschleppt wurde.

Ein junges, unerfahrenes Mädchen durfte man niemand anvertrauen, den man nicht genau kannte. Overton war ein hübscher Mensch, aber er hatte lüsterne Augen, ein lüsternes Lächeln, einen lüsternen Mund. Und wie er aussah, so sprach er. Hinter scheinbar ernsten Worten verbarg er leichtfertige Gedanken. Und wußte man denn, wer er war? Ob es wirklich sein Name war, den er angegeben hatte? Er trug einen schweren Siegelring mit eingraviertem Adelswappen, wie Advokatenschreiber nicht zu besitzen pflegten, zu denen er nach seinen Worten gehörte. Weiß Gott, mit welchen schlimmen Absichten er sich an sie herangedrängt hatte!

Emma widersprach nicht. Sie hörte kaum, was Mrs. Cane sagte. Die Worte rauschten an ihr vorüber wie das nächtliche Leben und Treiben in den Straßen der Stadt: sie empfand seine Nähe, verstand aber seinen Sinn nicht. Eine süße Erschlaffung hatte sich ihrer bemächtigt, in der sie nichts dachte. Nur eine dunkle Erinnerung hatte sie an etwas Großes, das ihr begegnet war und das sie doch nicht zu nennen wußte. Aus dem eine weiche Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem, Wonnevollem zarte Blüten emportrieb.

Als sie in ihrer Kammer war, fühlte sie sich wie zerschlagen. Kaum daß sie die Kraft fand, die Kleider abzustreifen. Aber als sie das Bett zurückschlagen wollte, um auszuruhen, erbebte sie. Auf der Decke lag noch das Buch, das ihr Mrs. Cane gegeben. Romeo und Julia ...

Hastig nahm sie es auf und vertiefte sich wiederum in das Werk. Alle Müdigkeit war verflogen, ein heißer Drang spannte aufs neue alle ihre Nerven.

Und während die Szene des Drurylane-Theaters In greifbarer Deutlichkeit aus der Erinnerung vor ihr erstand, sah sie plötzlich das große Ziel ihres Lebens vor sich. Charles Overton hatte ihr den Weg gezeigt: Künstlerin, Schauspielerin mußte sie werden, um mit der Macht ihrer Schönheit, mit der Kraft ihres Geistes diese feindliche Welt zu ihren Füßen niederzuzwingen!

Der Entschluß brannte in ihr. In unaufhörlicher Wiederholung flossen ihr Julias Worte von den Lippen, suchte sie Julias Empfindungen stets neuen, überzeugenderen Ausdruck zu geben. Ungeahnte Quellen sprangen in ihrer Seele auf. Den ganzen Rausch der Liebesraserei durchlief sie; vom ungeduldigen Bangen der Erwartung bis zur rückhaltlosen Glut der Hingabe; von der Ahnung des nahenden Unheils bis zum letzten Verzweiflungsschrei des Unterganges.

Und nun wurde alles in ihr Gefühl, Inbrunst, Leidenschaft.

Romeo kam.

Der Strahl seines Auge's durchzuckte sie, der Druck seiner Hand jagte ihr einen Strom des Entzückens durch die Adern. Ihr ganzes Sein löste sein Kuß auf in eine einzige verzehrende Flamme der Sehnsucht.

Rote Lippen schwangen sich in edelm Bogen ... endeten in leicht beschatteten Winkeln ... zarten, rosenfarbenen Buchten der Lust ...

Romeo ... Overton ...


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