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Neuntes Kapitel

Die nächsten Wochen flossen ihr wie in einem Traume dahin.

Tom hatte sie in der Nähe des Hafens bei der Witwe eines Matrosen eingemietet, die sich durch Waschen und Nähen ihren Lebensunterhalt verdiente. Emma hatte ein bescheidenes, nach der Straße gelegenes Zimmerchen; ein paar Blumen blühten an den Scheiben, ein Kanarienvogel sang in seinem grünen Holzbauer, blütenweißes Leinen bedeckte das schmale Bett an der Rückwand. Eine stille Ruhe lag über dem kleinen Raume, die Emma nach den Erregungen der letzten Zeit wohltat.

Dieselbe Ruhe war nun auch in ihrem äußeren Leben. Selten ging sie aus. Wenn sie sich von einem Buchhändler in der Nähe Sie wenigen Bücher beschaffte, die großen Dichtungen Shakespeares, die sie für ihre Pläne brauchte. Denn sie blieb dabei, daß sie Schauspielerin werden wollte. Aber den Gedanken, sich durch fremde Gönnerschaft schnell emporzubringen, hatte sie aufgegeben. Sie kannte jetzt den Preis und war entschlossen, ihn niemals zu zahlen. Nur ihrem Talente wollte sie vertrauen, klein anfangen und sich den Weg zur Höhe durch eigene Kraft bahnen.

Anfangs hatte sie, um Tom nicht zur Last zu fallen, einen Broterwerb suchen wollen. Aber Tom hatte es nicht gelitten. Durch die Sorge um kleinliche Dinge sollte sie ihre Kraft nicht zersplittern: Er verdiente genug für beide und fühlte sich wie ein Bruder, dem es Pflicht war, der Schwester diese kleinen Steine aus dem Wege zu räumen.

Wie ein Bruder war er auch sonst zu ihr. Durch keinen Blick, durch keinen Laut verriet er, was in ihm vorging. Sogar den warmen Ton, der zuweilen seine Stimme zittern machte, suchte er zu bannen oder durch die geräuschvolle Lustigkeit des derben Seemannes zu verdecken. Emmas durch die Erfahrung geschärftem Ohr aber entging er trotzdem nicht, und hatte ihr Prinz Georges knabenhafte Lüsternheit Verachtung und Sir John's gewalttätige Leidenschaft Furcht eingeflößt, so erregte Toms zarte Zurückhaltung in ihr eine warme Empfindung der Achtung und Teilnahme. Unwillkürlich verglich sie sein einfaches, feinsinniges Wesen mit der rücksichtslosen Roheit jener Vornehmen, und ein sicheres Gefühl sagte ihr, daß die höhere Gesittung bei dem Manne aus dem Volke war.

Ach, warum konnte sie ihn nicht lieben! Bei ihm, das wußte sie, war sie geborgen vor allen Zufällen des Lebens. Alles Widrige und Feindliche würde seine starke Hand von ihr abwehren.

In stillen Stunden des Nachdenkens ertappte sie sich zuweilen auf der Regung, mit allen ihren hochfliegenden Plänen zu brechen und bei Tom das stille Glück zu suchen, das sie in dem Lärm draußen vielleicht niemals finden würde. Wenn er dann zu ihr hereinkam und sie in sein gutes, treues Auge blickte, zuckte es wohl in ihr, als müsse sie seine Hand fassen und sich an ihr halten für immer. Aber dann ...

Aus den farbenglühenden Worten des Dichters, die sie in sich aufnahm, richtete sich das große, berückende Fragerätsel des Lebens wieder vor ihr auf. Müde sann sie sich, es zu lösen. Und aus ihm stieg Overtons Gestalt empor, winkend, lockend ...

– – – – – – – –

Aber eines Tages hatte sie einen jähen Schreck. Als sie aus dem Laden des Buchhändlers trat, wurde sie in der engen Gasse von einem aus dem Hafen heraufkommenden Wagen beinahe überfahren. Zur Seite springend blickte sie auf und sah Sir John, wie er sich aus dem offenen Schlage beugte und sie anstarrte.

Unwillkürlich blieb sie stehen. Als aber der Wagen hielt und Sir John sich anschickte, auszusteigen, wandte sie sich zur Flucht.

Niedergeschlagen kehrte sie nach Hause zurück. Etwas wie eine Ahnung kommenden Unheils beschlich sie.

Sie war daher nicht überrascht, als die Wirtin Sir John in der Abenddämmerung desselben Tages hereinführte. Aber heißer Zorn kam über sie, da sie in sein häßliches Gesicht sah, das nur mühsam einen Ausdruck des Triumphes verhehlte. Er glaubte wohl schon, daß er Macht über sie gewinnen würde? Aber er sollte erkennen, wer sie war!

Ruhig ließ sie es geschehen, daß er die Wirtin mit ein paar herrischen Worten fortschickte. Aber als er Emmas Hand ergreifen wollte, richtete sie sich hoch auf.

»Ich habe Sie erst ein einziges Mal gesehen, Mylord!« sagte sie kalt. »Unter Umständen, die mich eine nähere Bekanntschaft mit Ihnen nicht wünschen lassen. Ich ersuche Sie also, sich zu entfernen und mich in Zukunft mit allen Annäherungsversuchen zu verschonen!«

Ihr Wesen schien keinen Eindruck auf ihn zu machen. Ein spöttisches Lächeln flog über sein Gesicht, als glaube er an eine Komödie, die sie ihm vorspielte, um den Preis zu erhöhen.

»Die Umstände, von denen Sie sprechen, Miß Lyon, sind nicht beschämend für einen Mann, der wie ich die Tollheiten aller Erdteile kennen gelernt hat. Eine Frau dagegen, die das rote Paradies besucht ...«

»Ich kannte es nicht!« unterbrach sie ihn scharf. »Gegen meinen Willen führte mich Miß Kelly hin, deren Untergebene ich damals war. Daß ich infolgedessen mich von ihr trennte, möge Ihnen zeigen, daß Sie mich falsch beurteilen!«

Wieder lächelte er voll Spott.

»Ich war bei Miß Kelly und habe mich bei ihr nach Ihnen erkundigt ...«

»Wozu?«

Ein Blitz schoß aus seinen Augen zu ihr herüber.

»Ich bin in Sie verliebt, Miß Lyon!« erwiderte er mit einer kühlen Sachlichkeit, die in seltsamem Gegensatz zu dem Inhalt seiner Worte und zu dem leidenschaftlichen Ausdruck seines Gesichts stand. »Ich hörte von Miß Kelly, daß Sie Schauspielerin werden wollen, eine große Künstlerin, von der die Welt spricht. Glauben Sie, daß Sie dieses Ziel ohne Vorbildung, ohne Geldmittel, ohne Protektion erreichen werden? Nun wohl, alles dies will ich Ihnen beschaffen, wenn Sie auf meine Wünsche eingehen!«

Und in knappen Worten setzte er ihr seine Verhältnisse auseinander. Als Kapitän der Kriegsflotte war er eben aus dem Feldzug gegen die Nordamerikaner zurückgekehrt, um längere Zeit in London zu bleiben. Von Haus aus wohlhabend, hatten ihn die Prisengelder für gekaperte amerikanische Handelsschiffe noch bereichert. Alle Wünsche Emmas wollte er erfüllen. Die besten Lehrer sollten sie unterrichten, und große Reisen nach Paris und Rom ihre Bildung erweitern. Ein kleines, kostbar eingerichtetes Hotel in Piccadilly sollte ihr gehören, Kammerzofen, Diener, Equipagen, Theaterlogen ihr zur Verfügung stehen. Ein reiches Nadelgeld wollte er ihr aussetzen, ihr Kleider bei Madame Beaulieu, Schmuck bei Mr. Cane kaufen. Alles sollte sie haben, was sie nur begehrte. Glücklich sein sollte sie, wie nur je ein Mädchen von ihrem Geliebten glücklich gemacht worden war.

Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.

Und während er sprach, beobachtete sie sich selbst. Sie freute sich, daß sie seinen Lockungen gegenüber ruhig blieb. Aber seine offenbare Leidenschaft reizte sie doch. Seine kalte Sachlichkeit war nur die Maske, hinter der er seine Glut verbarg. Und etwas stachelte sie, diese Glut zu schüren. Zu erproben, wie weit diesen Mann das heiße Blut trieb.

»Sie kommen zu spät, Mylord!« sagte sie kühl, nachdem er geendet. »All das Schöne und Verführerische, das Sie mir eben ausmalten, hat mir bereits ein anderer geboten. Und Sie begreifen wohl, daß ich dem Prinzen von Wales vor jedem anderen den Zuschlag erteilen würde, wenn ich die Absicht hätte, mich als Mätresse zu verkaufen. Ich bedaure also, von Ihrem freundlichen Anerbieten keinen Gebrauch machen zu können.«

Sie machte ihm eine spöttische Verbeugung und deutete nach der Tür. Er aber ging nicht. Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen und färbte die breite Narbe dunkelrot.

»Was wollen Sie denn noch?« rief er wild. »Was kann ich Ihnen noch mehr bieten? Fordern Sie! Wenn es in eines Menschen Macht steht, schaffe ich es Ihnen. Sie sehen doch, daß ich verrückt nach Ihnen bin. Unaufhörlich denke ich an Sie. Jede Nacht träume ich von Ihnen. Besitzen muß ich Sie, und wenn ich dabei zugrunde gehe!«

Sie lächelte.

»Warum so ungestüm, Mylord? Bleiben wir doch bei dem Geschäftston, den Sie zuerst anschlugen! Sie fragten mich nach meinem Preise. Nun wohl, auch ich träume zuweilen. Den Traum, eine große Dame zu sein. Sie sind Lord und wünschen mich zu besitzen. Heiraten Sie mich, machen Sie mich zur Lady, und ich bin die Ihre!«

Er starrte sie an, als habe er sie nicht verstanden. Dann brach er in ein schallendes Gelächter aus.

»Heiraten? Eine Lady aus Ihnen machen? Sie sind köstlich, Miß! Wer hat Sie auf den genialen Gedanken gebracht? Warum verlangen Sie nicht gleich, daß ich Sie zur Königin von England mache? Ein kleines Dienstmädchen, eine Dame der Straße! Liebes Kind, so was liebt man wohl, aber man heiratet es nicht!«

Wieder lachte er. Immer aufs neue brach er los. Gar nicht genug schien er sich in diesem hohnvollen Gelächter tun zu können, in dem sich der ganze Hochmut seiner Kaste prägte.

Bleich stand Emma ihm gegenüber. Sie hatte gewußt, daß sie Unmögliches verlangte. Dennoch trafen seine Worte sie wie Peitschenhiebe. All der Haß gegen die Vornehmen wallte in ihr auf, in dem sie schon Jane Middleton gehaßt hatte. Mit ausgestreckter Hand wies sie nach der Tür.

»Genug, Mylord! Verlassen Sie mich! Sie sind ein Elender, den ich verachte. Geben Sie jeden Versuch auf, mich umzustimmen. Ich würde Sie zurückweisen, selbst wenn Sie mir Ihre Lordskrone auf den Knien anböten!«

Er biß sich auf die Lippen.

»Sie sind sehr stolz, Miß Lyon. Und sehr kühn. Fürchten Sie sich denn nicht vor mir?«

Sie wandte, ihm den Rücken.

»Ich werde Ihren Nachstellungen zu entgehen wissen!«

»Unter dem Schutz eines schmutzigen Schifferknechts?«

»Unter dem Schutz eines redlichen Mannes, dessen Treue stärker ist, als Ihre Macht! Wenn Sie nicht sofort gehen, wird er Sie hier finden. Und seine schmutzigen Schifferfäuste werden Euere Herrlichkeit auf die Straße werfen!«

Er sah wohl, daß er sein Spiel verloren hatte. Mit einem kurzen, höhnischen Auflachen ging er.

– – – – – – – –

An einem Abend der folgenden Woche brachte Tom eine Zeitung mit. Das Lesen machte ihm Mühe, und so bat er Emma, ihm die Nachrichten über den Krieg gegen die nordamerikanischen Rebellen vorzulesen. Er selbst liebte seine Freiheit über alles, begriff aber nicht, daß es Menschen gab, die sich unter den drei Leoparden Altenglands nicht wohlfühlten. Er haßte die Aufrührer, die George III. den Gehorsam verweigerten und beunruhigte sich über die Gerüchte, die Großbritannien blutige Kämpfe um die Seeherrschaft auch mit Frankreich und Spanien prophezeiten. Die Zeitung meldete das zweideutige Verhalten Ludwigs XVI. von Frankreich, der seinen Offizieren erlaubte, in den Reihen der Amerikaner gegen England zu kämpfen, und forderte alle guten Briten auf, sich unter König George's Banner zu stellen. Die Kriegsflotte sollte vermehrt und durch junge, seetüchtige Mannschaft gestärkt werden, um die amerikanischen Kaperschiffe unschädlich zu machen, die den englischen Handel bedrohten. Hohes Werbegeld, reicher Lohn und gute Behandlung wurden den Seelustigen zugesichert und auch dem einfachen Matrosen eine glänzende Laufbahn eröffnet.

Voll Spannung hatte Tom zugehört; nun aber lachte er bitter auf.

»Gute Behandlung? Essen für Hunde und die neunschwänzige Katze! Eine glänzende Laufbahn? Fieber und Seuche, Pulver und Blei! Wer wirklich mit dem Leben davonkommt ist ein Wrack, das nie wieder flott wird. Und der reiche Lohn langt kaum für eine Pfeife Tabak. Wer Frau und Kinder hat, kann sie getrost auf den Bettel schicken. Dabei fließt ganz England über von Reichtum. Sie haben's ja gesehen, Fräulein Emma, wie sich die Lords im Golde wälzen. Große Reden halten sie von Königstreue, Opfermut und Vaterlandsliebe, selbst aber bleiben sie zu Hause, dehnen sich in seidenen Betten und streichen die fetten Ämter ein. Aber mich sollen sie nicht fangen mit ihren Lügen! Auch der Fuchs von Preßkapitän nicht, mit all seiner Schlauheit!«

Zornig ballte er die Zeitung zusammen und warf sie unter den Tisch.

»Preßkapitän?« fragte Emma, die das Wort zum ersten Male hörte! »Wer ist das, Tom?«

In seiner umständlichen Art suchte er es ihr zu erklären.

»Der Kommandant des Theseus. Eine schöne, schnelle Fregatte. Draußen auf der Themse liegt sie, kaum tausend Riemenschläge von hier entfernt. Die Lords der Admiralität haben sie zum Preßschiff gemacht und ihren Kommandanten Sir Willet-Payne zum Preßkapitän. Da liegt er auf der Lauer nach Leuten, die fürs Seehandwerk taugen. Wer ihm in den Wurf kommt, ist geliefert. Zu Fünfen, Sechsen fallen sie über ihn her, daß er sich nicht wehren kann und schleppen ihn an Bord. Und dann setzten sie ihm zu mit Rum und mit süßen Worten und mit der Neunschwänzigen, bis er mürbe ist und Ja und Amen zu dem Eide sagt, den sie ihm vorbeten. Ob er 'nen alten Vater oder 'ne alte Mutter oder Frau und Kinder zu ernähren hat, ob ein Mädchen sich die Augen nach ihm ausweint – keiner kümmert sich darum! Krieg ist Krieg, und der König braucht Matrosen!«

Sein Gesicht war finster von Zorn und seine Zähne knirschten aufeinander.

Erstaunt hatte Emma zugehört.

»Übertreibst du nicht, Tom? Wenn das wirklich so wäre, das wäre ja Menschenraub!«

»Menschenraub, ja! Unsere Lords ... die deutschen Fürsten schmähen sie, die ihre Landeskinder als Kanonenfutter verschachern, sie selbst aber handeln genau ebenso!«

Und er erzählte von den Pfiffen und Kniffen des Preßkapitäns. Sir Willet-Payne streifte die Flüsse und Küsten mit dem Theseus ab, machte Jagd auf die Fischer und Schiffer, schickte seine Leute nachts in die Häuser der Hafenviertel und ließ die dienstfähigen Männer aus den Betten holen. Die Seemannsschenken und Schiffswerkstätten leerte er, brach in die Familien ein und schreckte selbst vor Straßenüberfällen am hellen Tage nicht zurück. Überall wußte er seine Opfer zu finden.

Und niemand wehrte ihm. Ein Gesetz, von denselben Lords gemacht, für deren Geldbörse die Kolonialkriege geführt wurden, schützte den grausamen Vollstrecker der Gewalt und lieferte ihm jeden aus, nach dem er seine Hand ausstreckte.

Ein geheimes Bangen beschlich Emma.

»Wenn das alles so ist, wie du sagst, Tom, droht dann nicht auch dir Gefahr? Wenn du hierherkommst ... in den engen Gassen ist ein Überfall leicht. Bleibst du nicht besser auf deinem Schiff?«

Etwas in seinem Gesicht zuckte.

»Es ist lieb von Ihnen, Fräulein Emma, daß Sie an mich denken. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Haben die vom Theseus ihre Ränke, hab' ich meine Schwänke! Erinnern Sie sich unseres Spazierganges nach dem Marinehospital von Greenwich vor zwei Sonntagen? Wir sahen durch das große Fernrohr, das ein alter Janmaat auf dem Hügel bewachte. Sie gaben ihm einen ganzen Schilling als Trinkgeld.«

»Er tat mir leid! Er hat einen Arm und ein Bein verloren!«

Tom nickte.

»Ja, das Bein fehlte. Aber der Arm ... Ein paar Tage später begegnete ich dem Alten im Hafen, da hatte er zwei richtige gesunde Arme. Mit einer Pinte Rum öffnete ich ihm das Herz, daß er plauderte. Kurz und gut, er hat sich den Schwank ausgedacht, um dem Mitleid und damit auch dem Trinkgeld nachzuhelfen. Das hab' ich ihm also nachgemacht. Wollen Sie's sehen?«

Lachend stand er auf, zog mit einem Ruck seinen linken Arm aus der Jacke und ließ ihn unter dem Schifferhemd verschwinden. Leer und schlaff hing der Ärmel herab.

Unwillkürlich mußte auch Emma lachen.

»Du spielst also den Invaliden, Tom?«

Er nickte pfiffig.

»Ich glaube nicht, daß ich aussehe wie einer, den Sir Willet-Payne brauchen kann! Sind Sie nun beruhigt, Fräulein Emma?«

Er brachte den Arm wieder hervor und fuchtelte mit ihm ein paarmal durch die Luft, wie um seine Gesundheit und Kraft zu beweisen. Gleich darauf aber wurde er wieder ernst. Langsam hob er das zusammengeballte Zeitungsblatt auf, glättete es und legte es vor Emma auf den Tisch unter die Lampe.

»Auf der letzten. Seite steht etwas, Fräulein Emma, das Sie vielleicht angeht!« sagte er stockend. »Möchten Sie es nicht einmal lesen?«

Er setzte sich abseits in den Schatten und fing an mit seinem Schiffermesser Tabak zu schneiden. Emmas erster Blick fiel auf eine großgedruckte Zeile.

»Romeo und Julia!«

Mr. Gibson, der Direktor des Theaters »Zum Schwan von Avon Avon, Geburtsort Shakespeares.« in Greenwich kündigte eine Aufführung des berühmten Trauerspiels an zum Besten der Hinterbliebenen gefallener Seeleute. Für die Besetzung der einzelnen Rollen suchte er tüchtige Schauspieler und Schauspielerinnen.

»Ist das vielleicht etwas für Sie, Fräulein Emma?« fragte Tom nach einer Weile verlegen. »Ich dachte ... Sie sagten einmal, Sie wüßten nicht, wie Sie sich auf der Bühne benehmen sollen...«

Überlegend nickte Emma vor sich hin.

»Ein Anfang wäre es schon! Vielleicht könnte Ich mir dann selbst weiterhelfen, so daß ich dir nicht mehr zur Last fiele!«

Sein Gesicht wurde plötzlich dunkelrot.

»Sie glauben doch nicht, daß ich deswegen ... Sie sind mir nicht zur Last, Fräulein Emma. Es ist nur ... ich hab' es doch gemerkt, daß das kleine Zimmer hier ... und das stille Leben ... das wird Ihnen auf die Dauer nicht genügen ... und da Sie Schauspielerin werden wollen...«

Er begegnete ihren Augen, die ihn aufmerksam ansahen, und verstummte. Wie über seine Unbeholfenheit erzürnt, wandte er den Kopf zur Seite.

Emma stand auf und ging zu ihm.

»Vor ein paar Wochen noch konntest du mir das stille Glück der Verborgenheit gar nicht genug

anpreisen, Tom!« sagte sie ernst. »Und jetzt möchtest du mich in den Trubel draußen zurücktreiben?«

»In den Trubel?« rief er schnell. »Nicht in den Trubel, Fräulein Emma! Es ist nur, weil ...«

Wieder verstummte er. Mechanisch strich er den geschnittenen Tabak in seinen Lederbeutel und klappte das Messer zu.

»Du verbirgst mir etwas, Tom!«

Scheu wich er ihrem Blick aus.

»Was sollte ich verbergen? ... Na ja, es könnte doch sein, daß mir mal was zustieße ... Wir Schiffer hängen doch oft vom Zufall ab ... Und dann... wenn Sie dann eine Art Versorgung hätten... falls Sie mal allein wären ...«

Sie stand nun neben ihm und faßte seine Hand.

»Allein? Ist es nur, daß du dich vor dem Wasser und dem Wind fürchtest? Du hast kein Vertrauen zu mir, Tom. Sonst würdest du mir die Wahrheit sagen ... Ich glaube aber, ich weiß sie schon. Du fühlst dich vor dem Preßkapitän nicht sicher, Tom. Du fürchtest, daß du die Täuschung mit dem Arm nicht durchführen, kannst und daß du ihm eines Tages doch in die Hände fällst. Ist es so, Tom? Sei offen!«

Er lachte rauh auf.

»Um mich herum streichen sie ja! Schon zweimal hab' ich den langen Bootsmann hier vor dem Hause getroffen. Vorhin, als ich in die Gasse einbog, rannte er gegen mich an. Er will mich ausspionieren.«

Sie wurde blaß, und ihre Hand, die sich um die seine spannte, zitterte.

»Du mußt fort, Tom! Ganz von London fort! Nach dem Deegolf mußt du zurück. Dort kennst du alle Schlupfwinkel, und die Fischer verstecken dich! Hörst du, Tom?«

Langsam kehrte er ihr sein Gesicht wieder zu und seine treuen Augen sahen, sie an.

»Und Sie, Fräulein Emma? Was soll mit Ihnen geschehen?«

Verwirrt trat sie von ihm zurück.

»Ich muß hier bleiben, Tom. Du weißt ja, daß ich nicht anders kann.«

Er nickte trübe.

»Ja, der Mensch kann nur, was das Herz will! Aber auch ich – ich kann nicht von hier gehen, solange ich Sie nicht geborgen weiß!«

»Und wenn ich geborgen wäre, Tom?«

»Versprechen Sie mir, mich zu rufen, wenn Sie in Not sind?«

»Ich verspreche es dir, Total Und morgen gehe ich zu Mr. Gibson!«

»Morgen ist Sonntag und ich könnte mit Ihnen gehen und Mr. Gibson ansehen. Erlauben Sie es mir, Fräulein Emma?«

Gerührt über seine treue Sorge lächelte sie ihm zu.

»Gut also, Tom! Morgen!«

Er seufzte wie erleichtert auf.

Dann machte er den Arm zurecht und Emma sah, wie er sein Messer am Hüftgurt befestigte. Eine tödliche Furcht überfiel sie plötzlich. Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei ihm und klammerte sich an ihn.

»Geh' nicht, Tom! Wenn sie dir auflauerten! Bleib' hier, bleib' hier!«

Er sah sie aufmerksam an. Etwas wie der Widerschein eines Lächelns flog über sein ernstes Gesicht.

»Haben Sie wirklich ein wenig Angst um mich, Fräulein Emma?«

Wie erwachend strich sie sich über die Augen. Hatte da nicht eben Overton vor ihr gestanden? Overton, der sie verlassen wollte, um den bebende Angst ihr das Herz zerriß? ...

Es war nur Tom.

»Muß ich nicht, Tom?« stammelte sie verwirrt. »Bist du nicht der einzige Freund, den ich auf der Welt habe?«

Der Schimmer auf seinem Gesicht erlosch.

»Ängstigen Sie sich nicht, Fräulein Emma!« sagte er tonlos. »Ich bin auf meiner Hut! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Tom!«

Sie hielt ihn nun nicht mehr. Sie ließ ihn hinausgehen in die Nacht, in die Gefahr. Vielleicht in den Tod. Der Verlust seiner Freiheit war für ihn dasselbe wie Tod. Dennoch ließ sie ihn gehen.

Sie wußte, wenn er blieb, würde sie seinen traurigen, fragenden Augen nicht widerstehen können. Schwach würde sie werden. Durch das heiße Mitleid, das ihr das Herz füllte. Würde sich ihm hingeben. Mit all den Gedanken, die sich nach einem anderen sehnten.

Sie liebte ihn ja nicht.

Aber wenn man ihn jetzt überfiele, würde sie sich blindlings zwischen ihn und die Gefahr stürzen. Willig würde sie für ihn sterben. Seltsames Rätsel, das ihr da in der Brust pochte und pochte ...

Drückend schwül erschien ihr die Luft. Sie lief zum Fenster, riß es auf, horchte ...

Nichts deutete auf eine Gefahr.

Dennoch lehnte sie sich plötzlich weit hinaus und rief Toms Namen. Wenn er jetzt zurückkam...

Liebte sie ihn dennoch?

Er hörte sie nicht mehr. Seine Schritte verhallten in der Ferne. Stille war um sie her.

Und in dieser lastenden Stille stand sie und dachte ... dachte …


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