Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXVIII

Katja blieb allein. Teljegin und Dascha ließen sich der Kirche ›Nikola auf den Hühnerfüßchen‹ trauen und fuhren am gleichen Tage nach Petrograd. Katja begleitete sie zum Bahnhof, bekreuzte die beiden, küßte sie zum Abschied, – sie waren so furchtbar zerstreut, wie halbtot, – und kam in der Abenddämmerung heim.

In der Wohnung war niemand. Marfuscha und Lisa waren in eine Dienstbotenversammlung gegangen, in der eine ›Protestresolution‹ gefaßt werden sollte. Im Eßzimmer roch es noch immer nach Zigaretten und Blumen, auf dem Tische stand zwischen dem unaufgeräumten Geschirr ein blühendes Kirschbäumchen. Katja begoß es aus der Wasserkaraffe, räumte das Geschirr weg, schüttelte die Krümel vom Tischtuch und setzte sich, ohne Licht zu machen, an den Tisch, mit dem Gesicht zum Fenster. Der Himmel war trüb und bewölkt, die Umrisse der Dächer waren kaum zu unterscheiden. Im Eßzimmer tickte die Wanduhr, – wenn das Herz vor Gram auch zerspringt, die Uhr wird weiter ticken. Katja saß lange unbeweglich da, fuhr sich dann mit der Handfläche über die Augen, stand auf, nahm vom Sessel ihr wollenes Tuch, warf es sich um die Schultern und ging in Daschas Zimmer. In der Dämmerung ließ sich ganz schwach die gestreifte Matratze des verlassenen Bettes unterscheiden, auf einem Stuhl stand eine leere Hutschachtel, auf dem Boden lagen Papiere und Fetzen. Als Katja sah, daß Dascha alle ihre Sächelchen mitgenommen und gar nichts zurückgelassen, gar nichts vergessen hatte, fühlte sie sich zu Tränen gekränkt. Sie setzte sich aufs Bett, auf die gestreifte Matratze und saß auch hier so unbeweglich wie früher im Eßzimmer.

Die Uhr im Eßzimmer schlug langsam und laut zehn. Katja zupfte das Tuch auf ihren Schultern zurecht und ging in die Küche. Hier stand sie eine Weile horchend da, stellte sich dann auf die Fußspitzen, holte vom Wandbrett das Einkaufsbuch, riß ein sauberes Blatt heraus und schrieb mit Bleistift: ›Lisa und Marsuscha, ihr solltet euch schämen, das Haus für den ganzen Tag bis in die Nacht hinein im Stich zu lassen.‹ Eine Träne fiel auf das Blatt. Katja legte den Zettel auf den Küchentisch und ging ins Schlafzimmer. Sie entkleidete sich schnell, schlüpfte ins Bett, zog sich unter der Decke die Strümpfe aus, legte sich nieder, drückte die Kniee an den Leib und wurde still.

Um Mitternacht ging die Küchentüre; Lisa und Marsuscha kamen trampelnd und laut sprechend in die Küche, gingen hin und her, wurden ruhig und fingen plötzlich wieder zu lachen an: sie hatten den Zettel gelesen. Katja zwinkerte mit den Augen, rührte sich aber nicht. Endlich wurde es in der Küche ganz still. Die Uhr schlug so wach und hallend eins. Katja drehte sich auf den Rücken, stieß mit dem Fuße die Bettdecke von sich, holte einige Male schwer Atem, als ob ihr die Luft ausginge, sprang aus dem Bett, schaltete das elektrische Licht ein und ging, die geblendeten Augen zusammenkneifend, auf den großen Spiegel zu. Das dünne Taghemd reichte ihr kaum bis zu den Knien. Katja musterte sich besorgt und schnell, wie etwas gut Bekanntes – ihr Kinn zitterte –, trat ganz nahe an den Spiegel heran und hob das Haar an der rechten Schläfe: »Ja, ja, gewiß, – hier, hier, auch hier ...« Sie besah ihr ganzes Gesicht. »Ja, gewiß, es ist zu Ende. ... In einem Jahr bin ich grau, dann eine alte Frau.« Sie drehte das Licht aus, legte sich wieder ins Bett und bedeckte die Augen mit dem Ellenbogen. »Keine einzige freudige Minute im ganzen Leben. Jetzt ist es zu Ende ... Niemand wird mich umarmen und an sich pressen, niemand wird mir sagen: Meine Teure, mein Lieb, meine Freude ...«

Mitten unter bitteren und reuigen Gedanken erinnerte sich Katja plötzlich eines sandigen, nassen Weges zwischen hohen Linden auf einer im Regen blaugrauen Wiese. ... Auf diesem Wege geht sie selbst, Katja, im braunen Kleide mit einer schwarzen Schürze. Unter ihren Pantöffelchen knirscht der Sand. Katja fühlt sich so leicht, so schlank, so niedlich, der Wind spielt mit ihren Haaren, und neben ihr, nicht auf dem Wege, sondern absichtlich auf dem nassen Grase geht, sein Fahrrad schiebend, der Gymnasiast Aljoscha. Katja wendet sich weg, um nicht loszuplatzen ... Aljoscha sagt mit dumpfer Stimme: »Ich weiß, ich darf nicht auf Gegenliebe hoffen. ... Ich bin hergekommen, nur um Ihnen zu sagen, Katja, daß ich früher die Absicht hatte, zu studieren, dem Volke und der Aufklärung zu dienen; jetzt lache ich selbst über diese Phantasien. ... Mir ist alles eins. Ich werde mein Leben irgendwo auf einer öden kleinen Eisenbahnstation beschließen. Leben Sie wohl. ...« Er setzt sich aufs Rad und fährt über die Wiese, im Grase bleibt eine blaugraue Spur zurück. ... Sein gebückter Rücken in der grauen Bluse und seine weiße Mütze verschwinden im Grün. Katja schreit: »Aljoscha, kommen Sie zurück, vielleicht überlege ich es mir noch und heirate Sie.« – Aber sie kann nicht mehr – sie lacht so, daß es ihren ganzen Körper schüttelt. ... Ist es denn möglich, daß sie, die jetzt von schlaflosen Nächten Zerquälte, einmal auf jenem feuchten, nassen Wege gestanden und der nach Regen duftende Sommerwind mit ihrer schwarzen Schürze gespielt hat? Katja setzte sich im Bette auf, umfaßte den Kopf mit den Händen, stützte die Ellenbogen in die bloßen Knie, und in ihrer Erinnerung erstanden trübe Laternenflammen, Schneestaub, Wind, der durch die nackten Bäume brauste, das knirschende, hoffnungslose Gleiten des Schlittens, die eisigen, weiblichen Augen Bessonows ganz dicht vor ihren Augen. ... Die Süße der Ohnmacht und der Willenlosigkeit. ... Das gemeine Frösteln der Neugier. ... Gott, Gott, wen hatte sie damals zu sich herangelassen!

Katja legte sich wieder hin. Durch die Stille des Hauses schrillte plötzlich die Klingel. Katja überlief es kalt. Die Klingel schrillte wieder. Lisa ging barfuß, schlaftrunken schnaubend durch den Korridor, rasselte mit der Sicherheitskette und klopfte nach einer Minute an die Schlafzimmertür: »Gnädige Frau, ein Telegramm.«

Katja nahm das schmale zusammengefaltete Papier in die Hand, zerriß den Verschlußstreifen, entfaltete es, und es wurde ihr finster vor den Augen.

»Lisa,« sagte sie und sah das Mädchen an, dessen Lippen vor Angst zitterten: »Nikolai Iwanowitsch ist tot.«

Lisa schrie auf, bekreuzte sich und brach in Tränen aus. Katja sagte ihr: »Gehen Sie.« Dann las sie zum zweitenmal die häßlichen Buchstaben auf dem Papierband: »Nikolai iwanowitsch verschieden schweren Verletzungen ruhmvollem posten pflichterfüllung punkt leiche überführen moskau kosten verbandes.«

Katja wurde es übel, ihr Mund füllte sich mit Speichel, in die Augen schob sich von allen Seiten her Finsternis, sie griff nach dem Kissen und verlor das Bewußtsein ...

* * *

Am nächsten Tage erschien bei Katja derselbe Herr mit den roten Wangen und dem Vollbart – der bekannte liberale Vorkämpfer, Fürst Kapustin-Unscheskij –, den sie am ersten Tage der Revolution im Juristenklub hatte sprechen hören; er ergriff ihre beiden Hände, drückte sie an seine dicke, weiche Weste und sagte, daß er ihr im Namen der Organisation, an der er mit dem seligen Nikolai Iwanowitsch zusammen gearbeitet habe, im Namen der Stadt Moskau, deren Hilfskommissär er sei, im Namen Rußlands und der Revolution sein Beileid zum frühen Tode des tapferen Kämpfers für die Idee ausspreche.

Der Fürst Kapustin-Unscheskij war seiner Natur nach dermaßen glücklich, gesund und heiter, sein Bedauern war so aufrichtig, sein Bart und seine Weste dufteten so anheimelnd nach Zigarren, daß Katja sich für einen Moment erleichtert fühlte. Sie richtete auf ihn ihre von den schlaflosen Nächten glänzenden Augen, öffnete die ausgetrockneten Lippen und sagte: »Ich danke Ihnen, daß Sie so von Nikolai Iwanowitsch sprechen ...«

Der Fürst zog ein riesengroßes Taschentuch hervor und trocknete sich die Augen. Er hatte die schwere Pflicht erfüllt und empfahl sich, – sein Auto brüllte wie ein Ungeheuer in der Gasse. Katja aber fing von neuem an, durch das Zimmer zu wandern, – sie blieb vor der Photographie des unbekannten Generals mit dem Löwenkopf stehen, nahm ein Album, ein Buch, eine Schachtel in die Hand – auf dem Deckel der Schachtel war ein Reiher mit einem Frosch im Schnabel dargestellt –, und ging wieder auf und ab und sah auf die Tapeten, auf die Vorhänge. Sie dachte: Mein Gott, wie ermüdend ist es doch, so auf und ab zu gehen, die Sachen anzusehen und zu betasten. ... Das Mittagessen rührte sie aber nicht an, – es war ihr ekelhaft, ans Essen auch nur zu denken. Sie schrieb einen kurzen Brief an Dascha, zerriß ihn aber: Dascha hat jetzt ganz andere Dinge im Sinn. ... Sie starrte durchs Fenster auf den trüben, weißlichen Himmel und deklamierte halblaut die seltsamen Zeilen, die ihr aus unbegreiflichen: Grund plötzlich eingefallen waren: »Die Hände, die versagenden, birgt er an meiner Brust ...«

Wenn sie sich nur hinlegen, wenn sie einschlafen könnte. Das Bett war ihr aber nach der vergangenen Nacht so schrecklich wie ein Sarg. ... Am schmerzvollsten war das hoffnungslose Mitleid mit Nikolai Iwanowitsch: er war doch ein prachtvoller, herzensguter, wenn auch etwas zerfahrener Mensch gewesen. Sie hätte ihn so lieben sollen, wie er war. ... Sie hatte ihn aber gequält und nicht geliebt. ... Oh Gott, Gott, darum war er auch so früh grau geworden. Auch sein Lächeln war so lieb, so hilflos. ... In der Abenddämmerung setzte sich Katja aufs Sofa, zog die Beine hinauf und ließ lang und stumm ihre Finger in den Gelenken knacken. ...

* * *

Am nächsten Tag war die Trauermesse und nach weiteren vierundzwanzig Stunden die Beisetzung der sterblichen Überreste Nikolai Iwanowitschs. Am Grabe wurden wunderschöne Reden gehalten, man verglich den Verstorbenen mit einem Albatros, den die Untiefe verschlungen, mit einem Menschen, der eine brennende Fackel in einen Wald voller wilder Tiere getragen habe. ... Ein zur Beerdigung zu spät gekommener bekannter Parteiführer, ein kleines Männchen mit einer Brille auf der Nase, der an das Bild in einem konkaven Vexierspiegel eines Panoptikums erinnerte, fuhr Katja böse an: »Lassen Sie mich einmal durch, Bürgerin!«, drängte sich zum Grabe vor und begann zu reden, daß der Tod Nikolai Iwanowitschs wieder einmal die Richtigkeit der Agrarpolitik bestätige, die von der Partei des Redners betrieben werde. Die Erde brökelte unter seinen ungepflegten Stiefeln ab und fiel mit trockenem Krachen auf den Sarg. Ein Gefühl von Übelkeit schnürte Katja die Kehle zusammen. Sie verließ unbemerkt die Menge und fuhr nach Hause. Sie hatte nur den einen Wunsch: sich zu waschen und einzuschlafen. Kaum hatte sie aber die Wohnung betreten, als sie sich wieder von einem Grauen umfangen fühlte: die gestreiften Tapeten, die Photographie und die Schachtel mit dem Reiher, das zerknüllte Tischtuch im Eßzimmer, die an Sargdecken gemahnenden Portieren, die staubigen Fenster, – wie ekelhaft, wie bedrückend! Katja ließ sich die Wanne füllen und legte sich stöhnend ins warme Wasser. Ihr ganzer Körper fühlte plötzlich tödliche Ermattung. Sie schleppte sich mit Mühe ins Schlafzimmer und schlief ein, ohne erst die Bettdecke aufzuschlagen. Im Schlafe glaubte sie ein Klingeln, Schritte und Stimmen zu hören, jemand klopfte an ihre Tür, aber sie antwortete nicht.

Katja erwachte, als es schon ganz dunkel war, – ihr Herz krampfte sich schmerzvoll zusammen. »Was war es, was?« fragte sie erschrocken und klagend, vom Bette aufstehend, und hoffte einen Augenblick lang, daß all das Schreckliche vielleicht nur ein Traum gewesen sei ... Dann fühlte sie sich, gleichfalls nur einen Augenblick lang, gekränkt und benachteiligt: »Warum quält man mich so?« Als sie schon ganz wach war, brachte sie ihre Frisur in Ordnung, schlüpfte mit den bloßen Füßen in die Pantöffelchen und sagte sich vollkommen klar und ruhig: »Ich will nicht mehr.«

Katja nahm aus der Kommode langsam einen lackierten Kasten, die Reiseapotheke, und fing an, die Inschriften auf den Fläschchen zu lesen. Sie entkorkte das Fläschchen mit Morphium, roch daran und stellte es auf die Seite; die übrigen Fläschchen tat sie in den Kasten, verwahrte diesen in der Kommode und ging ins Eßzimmer, um ein Glas zu holen. Unterwegs blieb sie aber stehen: im Salon war Licht. »Lisa, sind Sie es?« fragte Katja. Sie öffnete die Tür und sah einen großen Mann in Militärbluse, mit einer schwarzen Binde auf dem rasierten Schädel auf dem Sofa sitzen. Er stand schnell auf. Katja zitterten die Knie, es wurde ihr kalt und leer in der Herzgrube. Der Mann sah sie mit strahlenden, weit aufgerissenen, schrecklichen Augen an. Sein gerader Mund war geschlossen, die Adern an den Backenknochen waren gebläht. Es war Wadim Petrowitsch Roschtschin. Katja drückte sich beide Hände an die Brust. Roschtschin sagte, ohne den Blick zu senken, langsam und sicher: »Ich bin gekommen, um Ihnen meine Aufwartung zu machen. Ihr Dienstmädchen hat mir von dem Unglück, das Sie betroffen, erzählt. Ich bin hier geblieben, weil ich Ihnen sagen wollte, daß Sie über mich verfügen dürfen... und über mein Leben.«

Seine Stimme zitterte, als er die letzten Worte sprach, und sein derbes Gesicht wurde braunrot. Katja drückte sich ihre beiden Hände mit aller Kraft an die Brust. Roschtschin sah ihren Augen an, daß er auf sie zugehen und ihr helfen mußte. Als er sich ihr näherte, sagte Katja, mit den Zähnen klappernd: »Guten Tag, Wadim Petrowitsch ...«

Er hob unwillkürlich die Arme, um Katja zu umfassen, – so unglücklich und zerbrechlich erschien sie ihm, ein kaum lebendes Klümpchen, – ließ aber die Arme sofort wieder sinken, zog die Brauen zusammen, und seine Augen wurden feucht. Katja begriff mit dem durchdringenden Spürsinn einer Frau, daß er sie mit der einzigen Liebe bemitleidete, mit dem einzigen Lebenslichte, das einst den über das Weltall gebreiteten durchbohrten Händen entströmt war ... Katja fühlte, daß sie, die unglückliche, kleine, sündige und ungeschickte, mit allen ihren nicht ausgeweinten Tränen, mit ihrem elenden Morphiumfläschchen, diesem Menschen notwendig und teuer geworden war, der stumm und streng wartete, um ihre Seele in die seine aufzunehmen. Die Tränen zurückhaltend, ohne Kraft, etwas zu sagen oder die Zähne voneinander zu lösen, ergriff Katja Wadim Petrowitschs Hand und drückte auf sie ihre Lippen und Gesicht.


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