Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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X

In den Obuchowschen Werken hatte sich folgendes abgespielt. An einem regnerischen Abend, als der Wind den phosphoreszierenden Himmel in Wolken gehüllt hatte, erschien in der engen, stinkenden Gasse – sie war von jenem besonderen Eisen- und Kohlenschmutz erfüllt, der alle Straßen und Gassen in der Nähe der großen Werke und Fabriken auszeichnet – in der Menge der nach dem Pfeifensignal heimkehrenden Arbeiter ein unbekannter Mann in Gummimantel, mit einer Kapuze über dem Kopf.

Eine Zeitlang ging er hinter den anderen her, blieb dann stehen und begann nach rechts und links Flugblätter zu verteilen, wobei er mit heiserer Stimme sprach: »Vom Zentralkomitee. Lesen Sie es, Genosse.«

Die Arbeiter nahmen ihm im Gehen die Blätter ab und steckten sie in die Taschen und unter die Mützen. In der letzten Zeit drangen in die finstere und erboste, von den Behörden eifrig überwachte Arbeitermasse durch alle Ritzen immer häufiger solche von unsichtbaren Freunden gesandte junge Leute ein. Sie erschienen in der Verkleidung von Fabrikangestellten, Taglöhnern, Hausierern oder auch so wie dieser: in Gummimänteln mit Kapuzen. Sie verteilten Flugblätter und Bücher, verbreiteten Gerüchte, stellten die Mißbräuche der Verwaltung an den Pranger und wiederholten alle dasselbe: »Wenn ihr Menschen und kein Vieh sein wollt, so lernt diejenigen hassen, für die ihr arbeitet.« Die Arbeiter fühlten und sahen, daß der Zarengewalt, die sie zwölf Stunden am Tage zu arbeiten zwang, die sie vom reichen und lustigen Leben der Stadt durch schmutzige Gassen und eine Kette von Wächtern abgesperrt hatte, die die Arbeiter nötigte, schlecht zu essen, sich schmutzig zu kleiden, mit schmutzigen und früh alternden Frauen zu leben, ihre Töchter auf die Straße und ihre Söhne in die Fronarbeit der Fabriken zu schicken, – daß dieser Gewalt ein Gegner erstanden war, – das Zentralkomitee der Arbeiterpartei. Es war unsichtbar und unauffindbar. Die Arbeiter haßten die Regierung mit gußeiserner Trägheit, das Zentralkomitee haßte sie tätig und giftig. Es ward nicht müde zu wiederholen: Fordert, schreit, empört euch! Man hat euch gelehrt, gut zu sein, – das ist eine Provokation! Die Tugend des Proletariers ist Haß. Man hat euch gesagt: duldet und verzeiht, – das ist eine Verhöhnung! Ihr seid keine Sklaven. Haßt und organisiert euch. Man hat euch gepredigt: liebt euren Nächsten. Der Nächste braucht aber diese Liebe, um sie ins Joch zu spannen. Man hat euch beschwindelt. Es gibt nur eine Liebe, die des Menschen würdig ist: die Liebe zur Freiheit. Wisset: Rußland ist von euren Händen erbaut worden. Ihr allein seid die rechtmäßigen Herren des russischen Staates.

Als der Mann im Gummimantel fast alle seine Blätter verteilt hatte, erschien neben ihm der Nachtwächter, der sich durch die Menge gedrängt hatte, und packte ihn mit den Worten »Wart mal!« von hinten am Mantel. Aber der nasse und aalglatte Mensch entwand sich seinen Händen und lief vornübergebeugt davon. Schon schrillte eine Pfeife, und in der Ferne antwortete ihr eine andere. Durch die sich verziehende Menge ging ein dumpfes Raunen. Aber die Sache war gemacht, und der Mann im Gummimantel verschwunden.

Nach zwei Tagen traten, ganz unerwartet für die Verwaltung der Obuchowschen Werke, die Dreher am frühen Morgen in den Streik und stellten nicht sehr hohe, aber entschiedene Forderungen auf.

Durch die langgestreckten, trüb durch die schmutzigen Fenster und die verrauchten Glasdächer beleuchteten Gebäude flogen wie Funken zweideutige Bemerkungen und giftige Worte. Die Arbeiter standen an ihren Werkbänken, verfolgten die vorbeigehenden Vorgesetzten mit sonderbaren Blicken und warteten mit verhaltener Aufregung auf irgendwelche Instruktionen.

Dem Obermeister Pawlow, einem Angeber und Ohrenbläser, ließ man, als er an der hydraulischen Presse herumstand, aus Versehen eine glühende Eisenstange auf den Fuß fallen. Er schrie entsetzlich auf, und alsbald verbreitete sich über das ganze Werk das Gerücht, es sei einer ermordet worden. Um neun Uhr raste das riesengroße schwarze Auto des Generalingenieurs wie ein Sturm in den Hof.

Iwan Iljitsch Teljegin kam um die gewohnte Stunde in die Gießerei, eine zirkusähnliche Riesenhalle mit hie und da eingeschlagenen Scheiben, mit Laufkrahnen, von denen Ketten herabhingen, und Schmelzöfen an den Wänden und mit irdenem Fußboden, blieb in der Türe stehen, zuckte vor der morgendlichen Kühle mit den Achseln und reichte vergnügt dem Vorarbeiter Punjko, der auf ihn zuging, die Hand.

Die Gießerei hatte eine dringende Bestellung auf Motorpostamente bekommen, und Iwan Iljitsch beriet sich mit Punjko sachlich und ausführlich über Dinge, die für sie beide außer jedem Zweifel standen. Diese kleine List hatte den Erfolg, daß Punjko, der in die Gießerei vor fünfzehn Jahren als einfacher Handlanger gekommen, dann Vorarbeiter geworden war und seine Kenntnisse und Erfahrungen außerordentlich hoch schätzte, von dieser Unterredung durchaus befriedigt blieb; sein Ehrgeiz war gestillt, und Teljegin war überzeugt, daß, wenn Punjko zufrieden sei, die Arbeit schnell und glatt vor sich gehen würde.

Iwan Iljitsch machte eine Runde durch die ganze Gießerei und sprach mit den Gießern und Formern in jenem halb scherzhaften,, kameradschaftlichen Ton, der ihre gegenseitigen Beziehungen vollkommen charakterisierte: wir sind beide an der gleichen Arbeit beteiligt und folglich Kameraden; doch ich bin Ingenieur, ihr seid Arbeiter, und darum sind wir eigentlich Feinde; aber da wir einander lieben und achten, so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns übereinander lustig zu machen.

An einen der Schmelzöfen rollte, mit der herunterhängenden Kette rasselnd, ein Laufkrahn heran. Philipp Schubin und Iwan Orjeschnikow, zwei muskulöse und großgewachsene Arbeiter, der eine dem Rebellen Pugatschow ähnlich, schwarzhaarig, angegraut, mit runder Brille, der andere mit lockigem Bart und hellen, von einem Riemen an der Stirne zusammengehaltenen Haaren, blauäugig und stark wie ein Athlet, ein Liebling Iwan Iljitschs, machten sich an die Arbeit: der eine riß mit einer Eisenstange die Platte von der Vorderseite des Schmelzofens weg, der andere richtete die Greifzange auf den weißglühenden Tiegel. Die Kette dröhnte, der Tiegel gab nach und schwebte, zischend und schlackige Krusten um sich werfend, durch die Luft in die Mitte der Gießerei.

»Stopp,« sagte Orjeschnikow, »herunterlassen!«

Die Winde rasselte wieder, der Tiegel senkte sich, und ein blendender Strom von Bronze ergoß sich, indem grüne Sterne aufstiegen und die Zeltdecke der Gießerei mit orangegelbem Feuer beleuchtet war, unter die Erde. Es roch unangenehm süßlich nach gebranntem Kupfer.

In diesem Augenblick ging die Doppeltüre auf, die in eine andere Halle führte, und in die Gießerei trat schnell und entschlossen ein junger Arbeiter mit blassem, bösem Gesicht.

»Schluß gemacht! ... Aufhören!« rief er mit rauher Stimme und schielte auf Teljegin. »Habt ihr es gehört oder nicht?«

»Wir haben es gehört, haben es gehört,« antwortete Orjeschnikow ruhig und hob den Kopf zur Winde. »Dmitrij, schlaf nicht, laß die Kette los!«

»Nun, wenn ihrs gehört habt, so wißt ihr auch, was ihr zu tun habt. Zum zweitenmal werden wir euch nicht bitten,« versetzte der Arbeiter. Dann steckte er die Hände in die Taschen, wandte sich schnell um und ging hinaus.

Iwan Iljitsch hockte sich vor das frische Gußstück und stocherte vorsichtig mit einem Drahtende in der Erde. Punjko, der auf einem hohen Schemel vor dem Schreibpult an der Türe saß, streichelte schnell sein graues Ziegenbärtchen, zwinkerte mit den Augen und sagte: »Ob man will oder nicht, – man muß die Arbeit liegen lassen. Womit man aber seine Kinder füttern soll, wenn man hier herausgeschmissen wird, daran denken diese Burschen wohl gar nicht!«

»Von diesen Dingen solltest du lieber nicht sprechen, Wassilij Stepanytsch,« erwiderte Orjeschnikow mit tiefer Stimme.

»Ja, warum soll ich es nicht?«

»Weil es unsere Sache ist. Deine Kinder werden nicht vor Hunger krepieren. ... Du wirst schon zu der Obrigkeit laufen und den Vorgesetzten in die Augen blicken. Darum schweige lieber.«

»Weswegen wird gestreikt?« fragte endlich Teljegin. »Was für Forderungen habt ihr aufgestellt? ...«

Orjeschnikow, den er anblickte, sah weg. Punjko gab Antwort: »Die Schlosser sind in den Streik getreten. In der vorigen Woche hat man bei ihnen sechzig Werkbänke auf Akkordarbeit gesetzt, zur Probe. Sie verdienen so zu wenig und müssen Überstunden machen. In der Halle 6 ist eine ganze Liste an die Tür angeschlagen, es sind verschiedene, nicht zu hohe Forderungen.« Er tauchte wütend die Feder in die Tintenflasche und beeilte sich, den Tagesbericht fertig zu machen.

Teljegin ging, die Hände im Rücken, an den Schmelzöfen vorbei, blickte durch eine runde Öffnung auf die im blendend weißen Feuer kochende und tanzende flüssige Bronze und sagte: »Orjeschnikow, daß uns das Zeug nur nicht überkocht, wie?«

Orjeschnikow legte ohne ein Wort der Erwiderung den Lederschurz ab, hängte ihn an einen Nagel, setzte seine Lammfellmütze auf, zog seinen langen, soliden Rock an und sagte mit tiefem Baß, der die ganze Gießerei füllte: »Schluß gemacht, Genossen! Wer will, komme in die Halle 6, zu der Mitteltür.« Und er wandte sich zum Ausgang. Die Arbeiter legten schweigend ihre Werkzeuge weg, der eine stieg von der Winde herunter, der andere aus einem Loch im Fußboden herauf, und alle folgten Orjeschnikow.

Plötzlich kreischte in der Tür wie wahnsinnig eine Stimme: »Du schreibst? ... Du schreibst, Hundesohn! Nun, schreib doch mich auf! ... Zeig mich bei der Obrigkeit an! ...« So schrie der Former Alexej Nossow auf Punjko ein; sein ausgemergeltes, seit langem nicht rasiertes Gesicht mit den eingefallenen, trüben Augen zitterte wie im Krampfe, an seinem mageren Hals blähte sich eine Ader; er schlug mit seiner schwarzen Faust auf das Pult und schrie: »Blutsauger! ... Peiniger! ... Wir werden auch für euch ein Messerchen finden! ...«

Orjeschnikow packte Nossow um die Hüften, riß ihn geschickt vom Pult weg und führte ihn zur Tür. Da wurde er sofort still. Die Gießerei leerte sich.

Um die Mittagstunde streikte schon das ganze Werk. Es ging das Gerücht, auch auf dem Baltischen Werke und der Newa-Werft sei es nicht ganz ruhig. Die Arbeiter standen in großen Gruppen auf dem Hofe des Werkes und warteten auf das Resultat der Verhandlungen der Direktion mit dem Streikkomitee, das, wie sich erwies, schon seit langem bestand. Der Streik war ja auch von ihm inszeniert worden.

Die Verhandlungen fanden im Bureau statt. Die Direktion ging auf fast alle Forderungen ein. Es drehte sich nur noch um eine kleine Pforte im Bretterzaun, auf deren Öffnung die Arbeiter bestanden, weil sie sonst einen Umweg von einer Viertelwerst durch den Schmutz machen mußten. Die Sache war im Grunde gleichgültig, aber es handelte sich jetzt um das Prinzip, die Direktion wollte nicht nachgeben, und es begannen lange Debatten. Das Streikkomitee erhob den Fall zu einer sozialen Hauptaktion. In diesem Augenblick kam vom Ministerium des Innern der telephonische Befehl, alle Forderungen des Streikkomitees zurückzuweisen und die Verhandlungen bis zum Eintreffen neuer Instruktionen abzubrechen. Dieser Befehl verdarb die Sache so gründlich, daß der General-Ingenieur sofort ins Ministerium fuhr, um sich darüber auseinanderzusetzen. Die Arbeiter wurden stutzig, ihre Stimmung war aber noch fast friedfertig. Einige Ingenieure kamen heraus und besprachen sich mit ihnen. Hie und da wurde sogar gelacht. Niemand glaubte daran, daß wegen einer dummen Pforte das ganze Werk stillgelegt werden sollte. Schließlich trat aus dem Bureau der große, dicke, grauhaarige Ingenieur Bulbin und schrie in den Hof, es seien alle Verhandlungen auf morgen verschoben.

Iwan Iljitsch blieb in der Gießerei bis zum Abend; als er sah, daß die Schmelzöfen sowieso ausgingen, gab er die Sache auf und fuhr nach Hause. Im Eßzimmer saßen die Futuristen; sie bekundeten für die Vorgänge auf dem Werke lebhaftes Interesse. Iwan Iljitsch erzählte ihnen aber nichts, aß nachdenklich die belegten Brötchen auf, die ihm Jelisaweta Kijewna hingeschoben hatte, ging auf sein Zimmer, schloß sich ein und legte sich zu Bett. Als er am andern Tag ins Werk fuhr, sah er schon aus der Ferne, daß die Sache nicht gut stand. Die ganze Gasse war voll von Arbeitern, die sich in Gruppen berieten. Vor dem Tore stand eine große Menge von einigen hundert Arbeitern und summte wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm.

Iwan Iljitsch hatte Zivilkleider an und einen weichen Hut auf, und niemand schenkte ihm Beachtung; er horchte bei den einzelnen Gruppen und erfuhr, daß während der Nacht das ganze Streikkomitee verhaftet worden sei, daß auch jetzt noch Verhaftungen unter den Arbeitern vorgenommen würden, daß man ein neues Komitee gewählt habe, das heimlich in irgendeiner Bierhalle tage, daß die neuen Forderungen der Arbeiter ausgesprochen politisch seien, daß im Hofe des Werkes Kosaken stehen, die angeblich den Befehl hatten, die Menge auseinanderzutreiben, sich aber weigerten, es zu tun; schließlich, daß auch das Baltische und das Französische Werk, die Newa-Werft und noch einige kleinere Werke in den Streik getreten seien.

Dies alles klang so unwahrscheinlich, daß Iwan Iljitsch beschloß, ins Bureau vorzudringen, um dort Sicheres zu erfahren; er hatte aber große Mühe, auch nur bis zum Tore zu gelangen. Neben dem ihm bekannten Torwart Babkin, einem mürrischen Menschen in dickem Schafpelz, standen zwei große Kosaken mit schief aufs Ohr geschobenen schirmlosen Mützen und blonden, zweigeteilten Vollbärten. Sie blickten lustig und herausfordernd auf die ungesunden, übernächtigen Gesichter der Arbeiter; sie beide hatten rote Backen, waren sauber gekleidet und schienen Meister im Raufen und Spötteln.

Diese Bauern werden wohl nicht viel Federlesens machen, dachte sich Iwan Iljitsch. Er wollte schon in den Hof treten, doch der Kosak, der ihm am nächsten stand, versperrte ihm den Weg, blickte ihm mit seinen lustigen, vergnügten Augen gerade ins Gesicht und sagte: »Wohin? Zurück!«

»Ich muß ins Bureau, ich bin Ingenieur.«

»Zurück, sagt man dir!«

Aus der Menge rief es: »Christusverkäufer! Henker!« – Ihr wollt wohl unser Blut vergießen!« – »Satte Teufel! Gutsbesitzer!«

In diesem Augenblick drängte sich durch die vordersten Reihen ein kleiner Bursche mit Pickeln im Gesicht und einer großen, krummen Nase; er stak in einem viel zu weiten Mantel und trug ungeschickt eine hohe rotbraune Mütze auf den krausen Haaren. Indem er mit seinen noch kindlichen, sehr weißen Händen fuchtelte, rief er mit fremdem Akzent: »Genossen Kosaken! Sind wir denn nicht alle Russen? Gegen wen erhebt ihr eure Waffen? Gegen eure eigenen Brüder? Sind wir eure Feinde, daß ihr auf uns schießt? Was wollen wir denn? Wir wollen Glück für alle Russen. Wir wollen, daß jeder Mensch frei sei. Wir wollen die Willkür abschaffen. ...«

Der eine Kosak preßte die Lippen zusammen, musterte den jungen Mann verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen, wandte sich um und schritt zum Tore. Der andere versetzte nachdrücklich die offenbar angelernten Worte: »Wir können keinen Aufruhr zulassen, denn wir haben den Treueid geschworen.«

Inzwischen hatte sich auch der erste Kosak eine Antwort zurechtgelegt und rief dem kraushaarigen Jüngling zu: »Ja, ›Brüder, Brüder‹ ... Zieh doch deine Hose hinauf, sonst fällt sie dir runter!«

Und beide Kosaken lachten.

Iwan Iljitsch rückte vom Tore weg; die Menge drängte ihn zur Seite, zum Zaun, wo verrostete gußeiserne Zahnräder lagen. Er wollte schon auf die Zahnräder steigen, da erblickte er Orjeschnikow, der, seine Lammfellmütze im Nacken, ruhig an einem Stück Brot kaute. Er winkte Teljegin mit den Augen und sagte im Baß: »Nette Geschichten, Iwan IIjitsch!«

»Guten Tag, Orjeschnikow. Wie wird das alles enden?«

»Wir werden erst eine Weile schreien und dann die Mützen ziehen. Das ist der ganze Aufruhr. Kosaken haben sie hergeschickt. Womit sollen wir gegen sie kämpfen? Vielleicht soll ich diese Zwiebel schmeißen und mit ihr ein paar unschädlich machen? Es ist zum Lachen!«

Durch die Menge lief ein Murren, das sich gleich wieder legte. Vom Tore her drang eine abgerissene Kommandostimme durch die Stille: »Meine Herrschaften, ich bitte, nach Hause zu gehen. Eure Forderungen sollen geprüft werden. Ich bitte, ruhig auseinanderzugehen.«

Der Haufen geriet in Bewegung und wich zurück und auf die Seite. Einzelne gingen zurück, andere drängten sich vor. Das Stimmengewirr wurde lauter. Orjeschnikow sagte: »Er bittet schon zum dritten Male.«

»Wer hat eben gesprochen?«

»Der Kosakenhauptmann.«

»Genossen, Genossen, geht nicht auseinander!« rief eine erregte Stimme. Auf die Zahnräder hinter Iwan Iljitsch sprang ein blasser, aufgeregter Mensch mit großem Hut und zerzaustem schwarzem Vollbart; sein eleganter Rock war am Halse mit einer Sicherheitsnadel zusammengesteckt. »Genossen, ihr dürft in keinem Fall auseinandergehen,« schrie er weiter und streckte die geballten Fäuste vor: »Es ist uns als sicher bekannt, daß die Kosaken sich weigern, auf euch zu schießen. Die Direktion verhandelt durch Mittelspersonen mit dem Streikkomitee. Und noch mehr als das: die Eisenbahner erwägen einen Generalstreik. In der Regierung herrscht Panik.«

»Bravo!« brüllte einer. Die Menge begann zu schreien und rückte vor. Der Redner tauchte in ihr unter und verschwand. Man sah durch die Gasse neue Menschen herbeilaufen.

Iwan Iljitsch suchte mit den Blicken Orjeschnikow, dieser war aber schon weit vom Tore weg. Einigemal schlug das Wort »Revolution« an sein Ohr. Iwan Iljitsch fühlte, wie in ihm alles vor freudiger Erregung zitterte. Er war auf die Zahnräder gestiegen und blickte auf die Menge, die inzwischen noch angewachsen war. Plötzlich sah er zwei Schritte vor sich am Zaune Akundin stehen; er trug eine Brille, eine Mütze mit großem Schirm und einen schwarzen Umhang. Mit gesenktem Kopfe stand er da und nagte trotzig am Nagel seines Daumens. Ein Herr im steifen Hut mit zitternden Lippen drängte sich zu ihm vor. Teljegin hörte, wie er Akundin zurief: »Kommen Sie, Iwan Awwakumowitsch, man wartet auf Sie.«

»Ich werde nicht kommen.« Akundin biß den Nagel ab und musterte den Herrn im steifen Hut mit haßerfüllten Augen.

»Das ganze Komitee ist versammelt. Ohne Sie, Iwan Awwakumowitsch, will man keinen Beschluß fassen.«

»Ich bleibe bei meiner Meinung, das ist allen bekannt.«

»Sie sind verrückt. Sie sehen doch, was vorgeht. Ich sage Ihnen, daß sie jeden Augenblick schießen werden. ...« Dem Herrn im steifen Hut zitterten die Lippen.

»Erstens, schreien Sie nicht so,« versetzte Akundin. »Gehen Sie nur hin und entschließen Sie sich mit den andern zu einem Kompromiß. Ich nehme mein Votum nicht zurück. ...«

»Das ist, weiß der Teufel, Wahnsinn!« sagte der Herr im steifen Hut und verschwand in der Menge. Jetzt trat auf Akundin der Arbeiter zu, der gestern die Leute aus der Gießerei geholt hatte. Akundin sagte ihm etwas, jener nickte und verschwand. Dasselbe, ein kurzer Satz und ein Kopfnicken, wiederholte sich dann mit einem andern Arbeiter, den Teljegin nicht kannte. In der Menge jenseits des Tores ertönten wieder Schreie. Plötzlich fielen drei kurze, trockene Schüsse hintereinander. Sofort wurde es still. Jemand schrie, als ob man ihn würgte: »ah–ah–ah!« Die Menge drängte zurück. Auf dem zerstampften schmutzigen Boden lag, die Knie an den Bauch gezogen, auf dem Rücken ein Kosak. Sofort lief ein Schrei durch die ganze Menge: »Halt, nicht schießen!« Das Tor wurde geöffnet. Trotzdem fiel von der Seite ein vierter Revolverschuß und mehrere Steine flogen gegen das Tor. Teljegin erblickte im gleichen Augenblick Orjeschnikow, der ganz allein, ohne Mütze, mit offenem Munde vor der in Unordnung fliehenden Menge stand. Er schien vor Entsetzen mit seinen schweren Stiefeln an die Erde angewurzelt. In diesem Augenblick knallten, wie Peitschenschläge die Luft spaltend, Gewehrschüsse, einer, zwei, eine ganze Salve, und Orjeschnikow sank langsam in die Knie und fiel auf den Rücken.

Nach acht Tagen war die Untersuchung über die Vorgänge auf dem Obuchowschen Werke abgeschlossen. Iwan Iljitsch kam auf die Liste derjenigen, die man der Sympathie mit den Arbeitern verdächtigte. Aufs Bureau zitiert, warf er ganz unerwartet der Direktion einige Grobheiten an den Kopf und wurde veranlaßt, seinen Abschied zu nehmen.


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