Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXVI

Aus dem Hotelfenster konnte man sehen, wie sich unten durch die schmale Twerskaja der langsame schwarze Strom von Menschen bewegte, – Köpfe, Mützen, Mützen, Mützen, Hüte, Kopftücher und gelbe Flecken von Gesichtern. In allen Fenstern Neugierige, auf den Dächern die Buben.

Jekaterina Dmitrijewna stand, den Schleier bis zu den Brauen hinaufgeschoben, am Fenster, nahm bald Teljegin und bald Dascha mit ihren heißen Fingern bei der Hand und sprach: »Wie schrecklich! ... Wie schrecklich! ...«

»Jekaterina Dmitrijewna, ich versichere Sie, die Stimmung in der Stadt ist die friedlichste,« sagte Iwan Iljitsch. »Bevor Sie kamen, lief ich im Kreml herum: es wird dort verhandelt, das Arsenal wird wahrscheinlich ohne einen Schuß übergeben werden. ...«

»Aber warum gehen sie dorthin? ... Schauen Sie die vielen Menschen. ... Was wollen sie tun?«

Dascha sah auf den wogenden Strom der Köpfe und die Umrisse der Dächer und Türme. Der Morgen war neblig und mild. In der Ferne, über den Kreuzen und mattgoldenen Kuppeln der Kremldome, über den gespreizten Doppeladlern auf den spitzen Türmen kreisten Schwärme von Krähen; sie setzten sich auf die Kreuze, stiegen wieder auf und verschwanden in der nebligen Höhe.

Dascha schien es, als hätten irgendwelche große Ströme das Eis gesprengt und ergössen sich über die Erde, als wäre sie zugleich mit dem geliebten Menschen von diesem Strome ergriffen; nun müßte sie sich nur an seiner Hand festhalten, nur lieben. Das Herz schlug voller Unruhe und Freude wie bei einem Vogel in der Höhe.

»Ich will alles sehen, gehen wir auf die Straße,« sagte Katja und schlug ihren Pelzmantel zu.

* * *

Das schmutzigrote Backsteingebäude mit den an Flaschen erinnernden Säulen, mit den vielen Gesimsen, Balkons und Türmchen, das Moskauer Stadthaus, das Hauptquartier der Revolutionäre, war mit roten Fahnen geschmückt. Rote Fetzen umwanden die Säulen und hingen über dem Hauptportal herab. Vor dem Portal standen auf dem vereisten Pflaster vier graue Geschütze auf hohen Rädern. Auf den Stufen, an den Ecken, auf den Dächern hockten Soldaten der Maschinengewehrabteilung mit ganzen Bündeln roter Bänder an den Achselstücken. Große Menschenmassen sahen mit einem freudigen und doch etwas unheimlichen Gefühl zu den roten Fahnen und den staubigen, schwarzen Fenstern des Stadthauses hinauf. So oft auf dem kleinen Balkon über dem Portal eine erregte Gestalt, so klein wie ein Käfer, erschien, die Arme schwang und lautlos etwas schrie, erhob sich in der Menge ein freudiges Gebrüll.

Nachdem es sich an den Fahnen und Geschützen sattgesehen hatte, zog das Volk über den vom Tauwetter angefressenen, schmutzigen Schnee durch das tiefe Iwer'sche Tor auf den Roten Platz, wo an dem Spaßkij- und dem Nikolskij-Tore die meuternden Truppenteile mit den gewählten Vertretern des Reserveregiments verhandelten, das sich im Kreml eingeschlossen hatte. Im trüben Tageslichte erschienen die massiven, abgebröckelten, hohen Kremlmauern und die quadratischen Türme mit den grünen Zeltdächern und den Doppeladlern an den Spitzen ganz besonders alt. Schwärme von Krähen kreisten über diesen traurigen Stätten, über der wie vom Jüngsten Gericht erschreckten Menge des einfachen Volkes und flogen hinter den Kitai-Gorod und die Moskwa.

Katja, Dascha und Teljegin wurden in der Menge vor das Portal des Stadthauses geschoben. Von der Twerskaja her klang über den ganzen Platz ein immer lauter werdendes Geschrei. Mützen flogen in die Höhe, Taschentücher flatterten in den Händen.

»Genossen, gebet doch den Weg frei ... Genossen, respektieret die Ordnung,« klangen junge, erregte Stimmen. Durch die Menge, die ihnen unwillig den Weg freigab, drängten sich zum Portal des Stadthauses, mit den Gewehren fuchtelnd, vier Gymnasiasten und ein hübsches, zerzaustes junges Mädchen mit grünem Hut und einem Säbel in der Hand. Sie führten zehn verhaftete Schutzleute, riesengroße Kerle mit mächtigen Schnurrbärten, mit im Rücken gebundenen Händen und gesenkten mürrischen Gesichtern. An der Spitze marschierte ein Pristaw, ohne Mütze; an seinem blaurasierten Schädel sah man in der Nähe der Schläfe eingetrocknetes schwarzes Blut; er ließ seine rötlichen, glänzenden Augen über die grinsenden Gesichter der Menge schweifen; die Achselstücke seines Mantels waren mit dem Futter herausgerissen.

»Nun habt ihr es erlebt, ihr Lieben!« rief man in der Menge.

»Lange genug habt ihr mit uns gespielt, nun ist es Schluß – – –«

»Aus ist's mit eurem Kommando ...«

»Genossen, Genossen, laßt uns durch, respektiert doch die revolutionäre Ordnung!« schrien die Gymnasiasten mit gesprungenen Stimmen; sie liefen, die Schutzleute vor sich herstoßend, die Stufen des Stadthauses hinauf und verschwanden in der großen Türe. Ihnen nach drängten einige Menschen, darunter auch Katja, Dascha und Teljegin.

Im kahlen, hohen, trübbeleuchteten Vorraum hockten auf dem nassen Boden Soldaten vor ihren Maschinengewehren. Ein dickbackiger Student, der vom Schreien und von Müdigkeit offenbar verrückt geworden war, stürzte sich auf alle Eintretenden und schrie: »Ich weiß von nichts: den Passierschein! ...« Manche zeigten ihre Passierscheine, andere winkten einfach mit der Hand ab und stiegen die breite Treppe in den zweiten Stock hinauf. In den breiten Gängen des zweiten Stockes saßen und lagen an den Wänden verstaubte, schläfrige, schweigsame Soldaten, ohne die Gewehre aus der Hand zu lassen. Einige kauten träge Brot, andere schnarchten, die Knie zum Bauch hinaufgezogen. An ihnen vorbei drängten sich müßige Menschen; sie lasen die erstaunlichen Anschläge an den Türen und sahen auf die aus dem einen Zimmer ins andere rennenden, bis zur höchsten menschlichen Möglichkeit erregten, heiser gewordenen Kommissare.

Nachdem Katja, Dascha und Teljegin alle diese blauen Wunder gesehen hatten, gelangten sie in einen hohen Saal mit verblichenen purpurnen Vorhängen an den großen Fenstern und mit Purpur ausgeschlagenen, amphitheatralisch angeordneten Bänken. An der vorderen Wand gähnten wie schwarze Löcher die leeren goldenen Rahmen der Kaiserbildnisse; vor ihnen stand in einem zurückgeworfenen Bronzemantel die marmorne Katharina und lächelte freundlich und schelmisch ihrem Volke zu.

Auf den Bänken räkelten sich, die Köpfe in die Hände gestützt, müde Menschen mit dunkeln Gesichtern und Borsten am Kinn. Einige von ihnen schliefen. Andere zogen träge von Wurstscheiben die Haut ab und aßen Brot. Unten, vor der lächelnden Katharina saßen an einem langen Tisch mit einer grünen, goldbefransten Decke zwanzig Mann in schwarzen Blusen und zerrissenen Röcken; lauter junge, derbknochige Menschen mit eingefallenen Gesichtern. Einer von ihnen, der langes Haar und einen Vollbart hatte, schälte ein Ei und warf die Schalen auf das grüne Tuch. Dascha erinnerte sich plötzlich mit einem qualvollen Ekelgefühl, daß sie schon einmal einen solchen Mann, der ein Ei schälte, gesehen hatte; sie erinnerte sich der tödlichen Langweile und des mit Spinngeweben überzogenen Fensters ...

»Dascha, siehst du, da sitzt Genosse Kusjma am Tisch,« sagte Katja.

Zu dem Genossen Kusjma lief in diesem Augenblick im Trab ein Fräulein mit kurzem Haar und spitzer Nase und flüsterte ihm etwas zu. Er hörte sie an, ohne sich umzuwenden und ruhig weiter kauend, stand dann auf und sagte: »Bürgermeister Gutschkow hat zum zweitenmal erklärt, daß den Arbeitern keine Waffen ausgefolgt werden. Ich schlage vor, ohne Debatten über den Protest gegen die Handlungsweise des Revolutionskomitees abzustimmen, das eine ausgesprochen bürgerlich-reaktionäre Färbung angenommen hat.«

Auf den Bänken des Amphitheaters machte sich eine gewisse Bewegung bemerkbar. Jemand hob den Kopf, gähnte und streckte seine schwielige Hand aus. Alle Hände erhoben sich.

Teljegin stellte endlich fest (er fragte einen kleinen Gymnasiasten, der mit besorgter Miene eine Zigarette rauchte), daß hier im Katharinensaal die schon über vierundzwanzig Stunden dauernde Sitzung des Rates der Arbeiterdeputierten stattfand.

* * *

Um die Mittagsstunde erblickten die stillen Bauern des Reserveregiments, das im Kreml saß, auf dem Roten Platze den Rauch von Feldküchen; sie ergaben sich und öffneten die Tore. Auf dem ganzen Platz ertönte Geschrei und flogen Mützen in die Luft. Auf die ›Schädelstätte‹, wo einst nackt, mit einer Tierlarve vor dem Gesicht und einer Narrenflöte auf dem Bauche der ermordete falsche Demetrius gelegen hatte, von wo aus man die Thronbesteigungen und Absetzungen der Zaren auszurufen pflegte, von wo alle Freiheiten und Unfreiheiten des russischen Volkes kamen, auf diese kleine Erhöhung, die schon viele Male von Unkraut überwuchert und dann wieder mit Blut begossen worden war, trat ein kleiner Soldat in schäbigem Mantel, verbeugte sich nach allen Seiten, drückte sich die Pelzmütze über die Ohren und begann etwas Unverständliches und Verworrenes zu sprechen, das man im Lärm gar nicht verstehen konnte. Der Soldat war sehr unansehlich – man hatte ihn bei der letzten Mobilisierung aus einem gänzlich unbekannten Provinznest herausgeholt –, aber eine Dame mit einem auf die Seite gerutschten Federhut drängte sich dennoch zu ihm vor und umarmte ihn; dann zog man ihn von der ›Schädelstätte‹ herunter, hob ihn auf die Arme und trug ihn irgendwohin fort.

In der Twerskaja, dem Hause des Generalgouverneurs gegenüber, kletterte um diese Zeit ein Bursche auf das Denkmal des Generals Skobeljew und band ihm einen roten Fetzen an den Säbel. Die Leute schrien Hurra. Einige geheimnisvolle Individuen drangen durch die Nebengasse ins Gebäude der politischen Polizei ein, und bald darauf klirrten die Scheiben und stieg aus den Fenstern Rauch auf. Die Leute schrien Hurra. Am Puschkindenkmal auf dem Twerskoi-Boulevard sprach eine bekannte Schriftstellerin, in Tränen schwimmend, vom Morgenrot eines neuen Lebens und steckte dann mit Hilfe ihres Gatten, der gleichfalls Schriftsteller war, dem nachdenklichen Puschkin eine kleine rote Fahne in die Hand. Die Leute schrien Hurra. Die ganze Stadt war diesen Tag wie betrunken. Bis zum späten Abend ging niemand nach Hause, die Leute sammelten sich in Gruppen, redeten, weinten vor Freude, fielen sich in die Arme und warteten auf Telegramme. Nach den drei Jahren der Niedergeschlagenheit, des Hasses und des Blutes war die zutrauliche, träge, kein Maß kennende slavische Seele geschmolzen und übergelaufen.

* * *

Am nächsten Morgen war die ganze Stadt auf den Straßen. Auf der Twerskaja zogen durch die Menschenmassen unter fortwährendem Hurrageschrei Lastautos mit Soldaten, wie Igel von Bajonetten und Säbeln starrend. Auf den dumpf dröhnenden Geschützen ritten Gassenjungen. Auf den schmutzigen Schneehaufen längs der Trottoire standen, die Ordnung aufrecht erhaltend, junge Mädchen mit erhobenen Säbeln und gespannten Gesichtern und bewaffnete Gymnasiasten, die keinen Pardon gaben, – das war die freie Miliz. Die Ladenbesitzer waren auf Leitern gestiegen und entfernten von ihren Schildern die kaiserlichen Adler. Schwindsüchtige Mädchen – Arbeiterinnen einer Zigarettenfabrik – zogen durch die Stadt mit einem Bildnis Leo Tolstois, der unter seiner gerunzelten Stirne streng auf alle diese Wunder sah. Es war, als könnte es von nun an keinen Krieg und keinen Haß mehr geben; als brauchte man nur auf irgendeinem hohen Glockenturm eine rote Fahne zu hissen, damit die ganze Welt begreife, daß wir alle Brüder seien und daß es keine andere Macht in der Welt gebe als Freude, Freiheit, Liebe, Leben ...

Als der Telegraph die erschütternde Kunde vom Thronverzicht des Zaren und von der Übergabe der Gewalt an seinen Bruder Michail brachte, war niemand besonders erschüttert: allen schien es, als müßte man in diesen Tagen noch ganz andere Wunder erwarten.

* * *

Über den gebrochenen Linien der Dächer, über dem gelblichen Abendrot flimmerte im durchsichtigen Abgrund des Himmels ein Stern. Die nackten Äste der Linden starrten schwarz und unbeweglich. Unter ihnen war es ganz dunkel; die eingefrorenen kleinen Pfützen auf dem Trottoir krachten unter den Füßen. Dascha blieb stehen und blickte, ohne die vereinigten Hände zu lösen, mit denen sie Iwan Iljitsch unter dem Arm hielt, über die niedere Mauer auf das erleuchtete kleine Fenster der alten Kirche des heiligen Nikola ›auf den Hühnerfüßchen‹.

Die Kirche und ihr Hof lagen im Schatten der Linden. In der Ferne wurde eine Türe aufgeschlagen, und über den Hof ging, mit den Filzstiefeln knirschend, ein kleiner Mann in einem langen, bis zum Boden reichenden Mantel und einem pilzförmigen Hut. Man hörte, wie er mit einem Schlüssel klirrte und langsam den Glockenturm hinaufstieg.

»Der Küster geht läuten«, flüsterte Dascha und hob den Kopf. Auf der kleinen goldenen Kuppel des Glockenturmes lag ein Widerschein des Abendrots.

Bumm! schlug die Glocke, die seit dreihundert Jahren die Bürger zur inneren Einkehr vor dem Schlafe rief. Dascha bekreuzte sich. In der Erinnerung Iwan Iljitschs erstand augenblicklich die kleine Kapelle und an ihrer Schwelle die stumm weinende Frau im weißen Kittel, mit dem toten Kindchen im Schoße. Iwan Iljitsch drückte Daschas Hand mit dem Ellenbogen an sich. Dascha sah ihn an, als frage sie: Was? Plötzlich nahm ihr Mund einen sehr ernsten Ausdruck an.

»Willst du?« fragte sie leise und hastig. »Hier, sofort?«

Iwan Iljitsch lächelte. Dascha runzelte die Stirne, stampfte mit den Füßen und wandte sich weg.

»Dascha, bist du mir böse?«

»Ja.«

»Jetzt gleich wird uns doch niemand trauen.«

»Das ist gleich ... Ich habe wohl eine Dummheit gesagt, das ist klar. Aber du hast gelächelt, und das ist sehr kränkend ... Wenn man mit einem Menschen, den man über alles in der Welt liebt, Arm in Arm geht und Licht in einem Kirchenfenster sieht, so ist gar nichts Komisches dabei, in die Kirche zu treten und sich trauen zu lassen ...« Dascha dachte eine Weile nach und nahm Iwan Iljitsch wieder am Arm. »Du verstehst mich doch?«

»Ja, ja ...«

»Gut, ich bin dir nicht mehr böse.«


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