Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XVIII

»So, Mädels, nun sind wir wieder beisammen,« sagte Nikolai Iwanowitsch und zupfte seine sämischlederne Feldbluse am Bauche zurecht. Dann nahm er Jekaterina Dmitrijewna am Kinn und küßte sie herzhaft auf den Mund. »Guten Morgen, liebes Kind, wie hast du geschlafen?« Dascha küßte er, als er hinter ihrem Stuhle vorbeiging, die Haare. »Katjuscha, wir sind jetzt dicke Freunde, Dascha ist ein Prachtmädel!«

Er setzte sich an den Tisch mit der sauberen bunten Decke, rückte den Eierbecher zu sich heran und begann, die Spitze des Eies mit dem Messer abzuschneiden.

»Denk dir nur, Katjuscha, ich habe mir angewöhnt, die Eier auf englische Manier zu essen: mit Senf und Öl. Es schmeckt ganz ausgezeichnet, ich empfehle es dir. Bei den Deutschen gibt es jetzt aber nur zwei Eier pro Monat und Kopf. Wie gefällt dir das?« Er öffnete den großen Mund zu einem selbstzufriedenen Lachen. »Mit diesen Eiern hauen wir Deutschland in die Pfanne. Es heißt, daß bei ihnen die Kinder schon ohne Haut zur Welt kommen. Bismarck hat gesagt, man solle mit Rußland in Frieden leben. Sie haben nicht auf ihn gehört, haben uns verschmäht, und nun haben sie es: zwei Eier im Monat!«

»Es ist schrecklich,« sagte Jekaterina Dmitrijewna, die Brauen hebend, »wenn die Kinder ohne Haut zur Welt kommen, – ganz gleich, bei wem: ob bei uns oder bei den Deutschen.«

»Katjuscha, verzeih, du redest Unsinn!«

»Ich weiß nur das eine: wenn man Tag für Tag nichts anderes tut als töten, so ist es so entsetzlich, daß einem die Lust zu leben vergeht.«

»Was soll man machen, liebes Kind, wenn man am eigenen Leibe erfahren muß, was ein Staat ist. Wir haben nur in verschiedenen Geschichtslehrbüchern gelesen, daß irgendwelche Bauern auf den Feldern von Kulikowo und Borodino für das russische Land gekämpft haben. Wir glaubten, der Staat sei eine sehr nette und angenehme Sache. Rußland ist doch so groß! sagten wir, wenn wir es auf der Landkarte sahen. Nun gilt es aber, einen bestimmten Prozentsatz von Menschenleben zu opfern, um die Integrität dessen zu erhalten, was auf den Karten von Europa und Asien mit grüner Farbe bezeichnet ist. Das ist aber gar nicht lustig. Wenn du sagst, daß unser Staatsmechanismus nichts taugt, so will ich dir zustimmen. Jetzt, wo ich für den Staat sterben soll, frage ich vor allen Dingen: Ihr, die ihr mich in den Tod schickt, seid ihr wirklich im Besitz aller Staatsweisheit? Kann ich mein Blut ruhig für das Vaterland vergießen? Ja, Katjuscha, die Regierung sieht aus alter, gemeiner Gewohnheit die gesellschaftlichen Organisationen immer noch scheel an; aber es ist schon klar, daß sie ohne uns nicht mehr auskommen kann. Wir wollen sie aber erst am kleinen Finger und dann an der ganzen Hand packen. Ich sehe die Dinge sehr optimistisch an.« Nikolai Iwanowitsch stand auf, holte vom Kamin die Streichhölzer, zündete sich stehend eine Zigarette an und warf das Streichholz in die Eierschale. »Das Blut wird nicht vergebens vergossen werden. Der Krieg wird damit enden, daß am Staatssteuer statt eines Schergen des Zaren unsereins, ein Vertreter der Gesellschaft steht. Was die alten und die neuen Revolutionäre und Marxisten nicht zu erreichen vermochten, das wird der Krieg bewirken. Lebt wohl, Mädels.« Er zupfte seine Feldbluse zurecht und ging, von rückwärts einer verkleideten Frau gleichend, aus dem Zimmer.

Jekaterina Dmitrijewna holte Atem und setzte sich mit dem Strickzeug ans Fenster. Dascha setzte sich zu ihr auf die Armlehne des Sessels und umschlang die Schwester an den Schultern. Beide hatten schwarze, hochgeschlossene Kleider an und sahen, wie sie jetzt schweigend beisammensaßen, einander auffallend ähnlich. Draußen fielen langsam leichte Schneeflocken, und auf den Wänden des Zimmers lag helles Schneelicht. Dascha schmiegte sich mit der Wange an Katjas Haar, das schwach nach einem ihr unbekannten Parfüm duftete, und begann: »Katjuscha, wie hast du diese ganze Zeit gelebt? Du erzählst ja gar nichts.« »Was soll ich erzählen, Kind? Ich hab dir doch geschrieben.« »Ich kann es ja nicht begreifen, Katjuscha: du bist hübsch, reizend, gut. Ich kenne niemand, der so wäre wie du! Aber warum bist du unglücklich? Immer hast du so traurige Augen.«

»Ich habe wohl ein unglückliches Herz.«

»Nein, ich frage dich in allem Ernst.«

»Ich denke selbst immer darüber nach, Kind. Wahrscheinlich ist der Mensch, gerade wenn er alles hat, wirklich unglücklich. Ich hab einen guten Mann, eine gute Schwester, jede Freiheit. ... Ich lebe aber wie in einem Traume und bin selbst wie ein Gespenst ... Ich erinnere mich: in Paris habe ich mir immer gedacht, wie gut es wäre, irgendwo in einer Kleinstadt zu leben, Gemüsegarten und Geflügelhof zu versehen, abends irgendeinen guten Freund hinter dem Flusse zu besuchen ... Nein, Dascha, mein Leben ist zu Ende ...«

»Sprich doch keine Dummheiten ...«

»Weißt du,« fuhr Katja fort und sah ihre Schwester mit dunkel gewordenen, leeren Augen an, »jenen Tag fühle ich immer. ... Ich sehe vor mir die gestreifte Matratze, das vom Bette geglittene Laken, die Schüssel mit Galle auf dem Fußboden, und ich liege tot, gelb und grau da ...«

Jekaterina Dmitrijewna legte ihre Strickarbeit auf den Schoß und verfolgte die in der windlosen Stille fallenden Schneeflocken. In der Ferne flogen über einem spitzen, von einem goldenen Doppeladler mit gespreitzten Flügeln gekrönten Kremlturme die Krähen wie schwarzes Laub im Winde.

»Ich erinnere mich, Dascha, wie ich einmal früh Morgens aufstand. Vor meinem Balkon lag in einem bläulichen Nebel Paris, und überall stieg weißer, grauer und blauer Rauch auf. Nachts hatte es geregnet, und es roch nach grünen Blättern und Vanille. Durch die Straße gingen Kinder mit ihren Schulbüchern, Frauen mit Marktkörben, die Lebensmittelgeschäfte wurden eben geöffnet. All dies schien mir so dauerhaft und ewig. Ich fühlte das Verlangen, hinunterzugehen, mich unter diese Menge zu mischen, irgendeinem Menschen mit gütigen Augen zu begegnen, ihm meine Hände und mein Haupt an die Brust zu drücken und zu sagen: Nimm mich hin und liebe mich! Als ich aber dann in die großen Boulevards kam, war die ganze Stadt schon verrückt. Zeitungsjungen liefen umher, überall standen Gruppen aufgeregter Menschen. In allen Augen Todesangst und Haß. Der Krieg war ausgebrochen. Von jenem Tage an höre ich nichts als: Tod, Tod, Tod ... Worauf soll ich noch hoffen? ...«

Dascha sagte nach einer Pause: »Katjuscha?«

»Was denn, Liebste?«

»Wie ist es nun mit Nikolai?«

»Ich weiß nicht, mir scheint, wir haben einander verziehen. Sieh nur: es sind schon drei Tage vergangen, und er ist immer so zärtlich zu mir. Was soll man noch an die alten Weibergeschichten zurückdenken, Dascha! ... Leide, werde verrückt, – wer kümmert sich jetzt noch darum? Also klagt man so leise wie eine Mücke und hört kaum seine eigene Stimme. Ich beneide die alten Frauen; die haben es so einfach: bald kommt der Tod, bereite dich auf ihn vor.«

Dascha rückte auf der Armlehne hin und her, seufzte einigemal tief auf und nahm ihre Arme von Katjas Schultern. Jekaterina Dmitrijewna sprach zärtlich: »Dascha, Nikolai Iwanowitsch hat mir gesagt, daß du Braut bist. Ist es wahr? Du Ärmste.« Sie ergriff Daschas Hand, küßte sie, legte sie sich auf die Brust und begann sie zu streicheln. »Ich bin überzeugt, daß Iwan Iljitsch am Leben ist. Wenn du ihn wirklich liebst, so brauchst du nichts mehr in der Welt.«

Die Schwestern verstummten wieder und blickten auf den langsam fallenden Schnee hinaus. Durch die Straße zog zwischen den Schneewehen eine Abteilung von Offiziersschülern mit Badequasten und reiner Wäsche unterm Arm. Man trieb sie ins Dampfbad. Im Vorbeimarschieren sangen sie aus vollem Halse: »Schwingt euch auf wie junge Adler, laßt die Trauer, laßt den Schmerz ...«

* * *

Dascha ging nach einer Pause von einigen Tagen wieder ins Lazarett. Jekaterina Dmitrijewna blieb allein in der Wohnung, wo ihr alles fremd war: zwei langweilige Landschaftsbilder an den Wänden – ein Heuschober und schmelzender Schnee zwischen nackten Birken; über dem Sofa im Salon die Photographie einer unbekannten, häßlichen Frau, zweier Kadetten und eines Generals mit einem Zwicker; auf einer Konsole in der Ecke ein Büschel verstaubten Steppengrases, das wohl jemand vor langer Zeit von seiner Kumyskur im Osten mitgebracht hatte.

Jekaterina Dmitrijewna versuchte ins Theater zu gehen, wo alte Schauspieler Stücke von Ostrowskij spielten, Kunstausstellungen und Museen zu besuchen, und dies alles kam ihr so blaß, farblos und halbtot vor, und sie selbst erschien sich wie ein Schatten, der durch ein längst von allen verlassenes Leben irrt.

Jekaterina Dmitrijewna saß stundenlang am Fenster neben dem warmen Heizkörper und sah auf das schneeverwehte, stille Moskau hinaus, während durch die weiche Luft, durch den fallenden Schnee trauriges Glockengeläute zog, – es war eine Trauermesse, oder das Grabgeläute für irgendein Kriegsopfer. Jedes Buch fiel ihr aus der Hand, – was sollte sie lesen? An was sollte sie denken? Alle Gedanken und Träume von einst waren jetzt nichtig und sündhaft.

Die Zeit verging zwischen Morgenzeitung und Abendzeitung. Jekaterina Dmitrijewna sah, wie alle Menschen, die sie umgaben, nur von der Zukunft lebten, von den Tagen des Sieges und des Friedens, die sie sich einbildeten, – alles, was diese Erwartungen bestärkte, nahmen sie mit gesteigerter, wahnsinniger Freude auf, bei Mißerfolgen aber bissen sie die Zähne zusammen. Die Menschen waren zerstreut, wie von einer fixen Idee besessen, fingen gierig jedes Gerücht, jeden Gesprächsfetzen und jede unwahrscheinliche Meldung auf und entflammten sich an einer einzigen Zeitungszeile, – bei alledem konnte man sich an den Pflastersteinen des Theaterplatzes den Kopf zerschellen, niemand würde es merken.

* * *

Jekaterina Dmitrijewna nahm sich endlich zusammen und bat ihren Mann, ihr irgendeine Beschäftigung zu verschaffen. Anfang März trat sie ins gleiche Lazarett ein, in dem Dascha arbeitete.

In der ersten Zeit empfand sie gleich Dascha einen Ekel vor dem Schmutz und dem Leiden. Aber sie überwand sich und wurde allmählich von der Arbeit hereingezogen. Diese Überwindung freute sie sehr. Zum erstenmal fühlte sie die Nähe des Lebens um sich, als rieselte plötzlich durch eine ausgetrocknete Wüste ein lebendiges Bächlein. Sie gewann diese schmutzige und schwierige Arbeit lieb und hatte Mitleid mit denen, für die sie arbeitete. Einmal sagte sie zu Dascha: »Wie kamen wir nur darauf, daß wir irgendein ungewöhnliches, raffiniertes Leben leben müßten? Im Grunde genommen sind wir die gleichen Frauen wie die andern, – was uns not tut, ist ein einfacher Mann, recht viele Kinder und die Nähe der Natur ...«

In der Karwoche gingen die Schwestern täglich in die Nikolaikirche »auf den Hühnerfüßchen«, um sich zur Beichte und Kommunion vorzubereiten. Jekaterina Dmitrijewna brachte die für die Lazarettinsassen bestimmten Osterkuchen zum Weihen hin und feierte die Osternacht mit Dascha im Lazarett. Nikolai Iwanowitsch hatte in dieser Nacht eine außerordentliche Sitzung und holte die Schwestern gegen drei Uhr morgens mit einem Auto vom Lazarett ab. Jekaterina Dmitrijewna erklärte, daß sie und Dascha noch nicht schlafen wollten und bat ihn, sie spazieren zu fahren. Das war zwar dumm, aber man gab dem Chauffeur ein Glas Kognak und fuhr auf das Chodynka-Feld.

Es war ziemlich kalt, ihre Wangen froren. Der Himmel war wolkenlos, und in ihm funkelten einzelne helle Sterne. Unter den Rädern knirschte der verharschte Schnee. Katja und Dascha, beide in weißen Kopftüchern und grauen Pelzen, saßen eng aneinander geschmiegt in der Tiefe des Autos. Nikolai Iwanowitsch, der neben dem Chauffeur saß, wandte sich ab und nach ihnen um, – beide hatten so weiße Gesichter mit dunkeln Augen und dunkeln Brauen. »Bei Gott, ich weiß nicht, welche von euch meine Frau ist,« sagte er leise. Eine von den Schwestern antwortete: »Du wirst es nicht erraten.« Und beide lachten.

Am Rande des großen, trüb schimmernden Feldes fing der Himmel an grün zu werden, und in der Ferne traten die dunklen Umrisse des Silbernen Waldes hervor. Dascha sagte: »Katjuscha, ich sehne mich so nach Liebe!« Jekaterina Dmitrijewna drückte ihr die Hand, ihre Augen waren voller Tränen. Über dem Walde, im feuchten Grün des Morgenlichts leuchtete ein großer Stern und zitterte, wie atmend.

»Ich vergaß dir zu sagen, Katjuscha,« sagte Nikolai Iwanowitsch, indem er sich mit seinem ganzen Körper ihr zuwandte: »Soeben ist unser Bevollmächtigter, Tschumakow, angekommen, er erzählt, daß die Lage in Galizien sehr ernst ist. Die Deutschen haben ein so verheerendes Trommelfeuer auf uns gerichtet, daß ganze Regimenter aufgerieben sind. Uns fehlt es an Munition. ... Der Teufel soll sie holen! ...«

Katja erwiderte nichts und hob nur das Gesicht zu den Sternen. Dascha schmiegte sich mit dem Gesicht an ihre Schulter. Nikolai Iwanowitsch fluchte noch einmal und befahl dem Chauffeur heimzufahren.

Jekaterina Dmitrijewna fühlte sich am dritten Feiertage nicht wohl, ging nicht ins Lazarett und legte sich. Der Arzt konstatierte eine Lungenentzündung, offenbar hatte sie sich in der Zugluft erkältet ...


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